Читать книгу Das kundenzentrierte Unternehmen - Werner Katzengruber - Страница 8
1 Geschichte und Entwicklung der Kundenzentrierung Wie konnte es so weit kommen?
ОглавлениеEinige von uns werden sich noch an die gute alte Zeit erinnern, in der Kundenzentrierung noch nicht Kundenzentrierung hieß, sondern eine gelebte Selbstverständlichkeit war. Der berühmte Tante-Emma-Laden, in dem der Warenkorb von der gütigen Mitarbeiterin gepackt wurde, kaum haben wir den Laden betreten. Sie wusste, was wir brauchen, und hat unsere Basislebensmittel schon mal eingepackt. Sie kannte unsere Familie und wusste, wer welche Lebensmittel bevorzugt. Auf ihre Empfehlungen konnte man sich immer verlassen, da sie nicht nur verkaufen wollte, sondern ihr vor allem daran gelegen war, dass wir zufrieden sind und deshalb wiederkommen. Schließlich ging es um ihren guten Ruf. Sie fragte nach der Gesundheit, den Urlaubsplänen und berichtete wie selbstverständlich aus ihrem Leben. Irgendwie war sie wie eine gute Freundin, der man auch einmal ein Geheimnis anvertrauen konnte. Wenn man krank oder unpässlich war, wurde die Ware nach Ladenschluss auch nach Hause gebracht, selbstverständlich immer mit einem kleinen Geschenk, verbunden mit dem Wunsch einer baldigen Genesung. Wenn Sie schon eine 6 vor Ihrem Lebensalter haben, erinnern Sie sich vielleicht noch daran, wie Ihre Eltern bei einem dieser kleinen Läden eingekauft haben. Wenn Sie nicht zu dieser Generation gehören: Das Beschriebene ist keine Fiktion, das gab es tatsächlich.
Dann etablierten sich die großen Lebensmittel-Discounter mit ihren Billigpreisen und großzügig dimensionierten Angeboten und machten den kleinen Tante-Emma-Lädchen den Garaus. Was blieb, war eine Sehnsucht, nach der persönlichen Ansprache und dem Gefühl, dass es da jemanden gibt, dem unser Wohlergehen wichtiger war als der Umsatz. Doch in einer Zeit, in der alles schneller gehen musste und Geiz geil war, geriet der Konsument oder Käufer unter die Räder. Die Zeit der produktgetriebenen Unternehmen begann und der Käufer am Ende der Prozesskette wurde nur noch über Marketingmaßnahmen adressiert. Was zählte, waren die Produkteigenschaften, die Soziodemographie der Zielgruppe und der Index ihrer Konsumfreudigkeit. Diese Entwicklung betraf nicht nur den B2C-Markt, sondern wurde auch im B2B zum Standard. Früher war das Verhältnis vom Produzenten oder Lieferanten zum Kunden durch verlässliche und langanhaltende Geschäftsbeziehungen geprägt. Man hat sich gegenseitig seiner Wertschätzung versichert und die Probleme des Kunden waren auch die Probleme des Lieferanten. Dabei spielte das Produkt immer eine wichtige Rolle, aber das dominante Momentum war die Beziehung. Wurde sie enttäuscht, wurde auch das Produkt ausgetauscht, soweit es möglich war. Dann tauchte das Internet auf und alles änderte sich, erst langsam und dann mit einer Geschwindigkeit, die nur noch von der Zerstörungskraft übertroffen wurde, mit der sich die Online-Plattformen die Geschäftsmodelle etablierter Unternehmen kaperten. Mittels Technologie setzten sie sich zwischen die Lieferanten-Kunden-Beziehung. Sie dockten an der sensibelsten Stelle im System an, dem Kaufprozess, und nutzten die Technologie als Bypass, um diesen Prozess zu unterbrechen. Die entstandene Lücke wurde mit unterschiedlichen Leistungsversprechen gefüllt und damit war die Lieferanten-Kunden-Beziehung gestört. Durch die Vorteile, die durch diese Online-Plattformen entstanden, wurden die Vorteile der persönlichen Beziehung abgewertet. An deren Stelle traten nun mehr oder weniger rationelle Vorteile wie Preis, Verfügbarkeit und die Bequemlichkeit, alles von zu Hause oder am Arbeitsplatz zu erledigen. Im gleichen Tempo wie das Internet und damit die Digitalisierung Einzug in unser Leben hielt, stieg auch die Emanzipation des Kunden. Informationen über Produkte, Preise und Qualität waren kein Luxus mehr, sondern frei verfügbar. Unterhielt man sich früher auf Messen über die Produkte, deren Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten und musste vor Ort unterschiedliche Anbieter vergleichen, reicht heute ein Klick im Netz, um Kundenerfahrungen abzurufen.
Aber nicht nur die Kunden haben sich emanzipiert und sind autonomer in ihren Entscheidungen geworden. Auch die bestehenden und vor allem die potenziellen Mitarbeiter konnten nun das Image des Unternehmens als Arbeitgeber öffentlich bewerten. Damit wurde nun die Unternehmens- und vor allem die Führungskultur für jeden potenziellen Bewerber einsehbar und Mitarbeiter konnten ihrem Frust freien Lauf lassen. Die Folgen dieser neuen Möglichkeit wirkten sich unterschiedlich aus. Während die vorausschauend denkenden Unternehmen nun das Thema Mitarbeiterzentrierung in den Mittelpunkt ihrer Kultur stellen, engagierten die tendenziell rückwärtsgewandten Unternehmen Detekteien, um die Mitarbeiter auszuspionieren, die schlecht über das Unternehmen urteilten, in dem sie arbeiten. Ein weiterer Hinweis, wie sehr das Internet und seine Möglichkeiten die Wirtschaftswelt verändert haben.
Wir beobachten heute, nicht zuletzt durch die Isolation des Individuums durch die Corona-Krise, ein neues Bedürfnis nach Nähe und persönlichen Begegnungen. Zwar haben wir uns an den digitalen Alltag gewöhnt, aber wir werden immer kritischer gegenüber den Unternehmen, die uns nur als angereicherten Datensatz kennen und zu denen wir keine Beziehung herstellen können, da wir als physisches Wesen in deren Data Lakes nicht existieren. Schon länger reagieren Plattformen in unterschiedlichen Branchen mit Call Center Services und proaktivem Kontakt zum Kunden. Doch diese Qualität der persönlichen Beziehung reicht nicht aus, um den Wunsch nach Vertrautheit und Austausch zu befriedigen. Eine Stimme kann kein gemeinsames Treffen ersetzen und selbst wenn audiovisuelle Plattformen, wie Zoom, MS Teams etc., schon viele Möglichkeiten bieten, können sie den persönlichen Kontakt nicht ersetzen.
Welches Fazit können wir aktuell aus den oben geschriebenen Zeilen ziehen? Kundenzentrierung und Mitarbeiterzentrierung sind zwei Begriffe, die durch die Digitalisierung der Wirtschaft entstanden sind und die, nicht zuletzt aus diesem Grund, ausschlaggebend für erfolgreiche Unternehmen sind. Das eine funktioniert nicht ohne das andere und das bedeutet ein enormes Umdenken an der Spitze der Unternehmen. Heute geht es um die besten Mitarbeiter, die mit den besten Kunden im Sinne einer gemeinsamen Wertschöpfung zusammenarbeiten. Ob der Tante-Emma-Laden eine Renaissance erfahren wird, wissen wir nicht, aber es zeichnet sich ab, dass die Menschen immer mehr Wert auf gute Qualität und persönliche Beratung legen. Die Chancen, die sich durch die Digitalisierung ergeben, werden nur partiell dazu genutzt, um das Lieferanten-Kunden-Verhältnis zu optimieren. Im Mittelstand herrscht zum Teil eine fast noch naive Sicht auf das tatsächliche Gefahrenpotenzial, das durch die Digitalisierung entstanden ist. Gleichzeitig nehmen wir eine zunehmende Disruption auch kleinerer Geschäftsmodelle wahr, die vor allem den Mittelstand betreffen. Während sich große Plattformen wie Amazon, Google, Alibaba und Co. in Zukunft auf die großen Geschäftsfelder wie Versicherungen und Finanzdienstleistungen, den Reisemarkt und das Gesundheitswesen stürzen werden, sehen wir immer mehr Spezialanbieter, die sich in Nischen breitmachen. Diese Nischen werden typischerweise von einer kleinen Anzahl mittelständischer Unternehmen bedient, die einen speziellen Markt unter sich aufteilen. Der klassische Zwischenhandel wird das erste Opfer dieser neuen Unternehmen der Digitalökonomie sein, denn er ist ersetzbar. Wenn der Lieferant seine Produkte mit höherem Gewinn am Markt verkaufen kann, weil er diese Vertriebsstufe ausschaltet, wird er es tun. Selbst wenn er es nicht freiwillig macht, wird er dazu gezwungen werden, sobald der erste Hersteller seiner Branche damit beginnt, den Anwender oder Kunden direkt zu adressieren. Spielt er nicht mit, wird er keine marktfähigen Preise mehr erzielen und damit vom Markt verschwinden. Die Frage ist, wie schnell diese Unternehmen reagieren und ihre eigenen Plattformen bilden, oder ob es wieder ein kleiner und unbedeutender Anbieter digitaler Dienstleistungen sein wird, wie es Amazon vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten war.
Wenn man alle Fakten zusammenzählt, kann man nicht umhin, Kundenzentrierung als beste Option zu sehen, sein Geschäftsmodell weiterzuentwickeln und sein Unternehmen zukunftsfähig zu gestalten. Das Beste aus allen Welten in einer Organisation zusammenzuführen ist sicher nicht einfach, aber es ist möglich. Was meinen wir mit »das Beste aus allen Welten«? Kurz gesagt: Kundenzentrierung, Digitalisierung und Mitarbeiterzentrierung in allen Unternehmensbereichen barrierefrei und profitabel für alle.
Wie kam es nun vom Tante-Emma-Laden zur Customer Centricity Company? Dazu werfen wir einen Blick in die jüngste Vergangenheit, an den Beginn der Digital-Ökonomie.