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Die Erpressung

Darmstadt, Montag 30. November 2020

Die Frau, die der sich langsam ins Leben zurückkämpfende Frank Koch zu seinem Feindbild erklärt hatte, stand in-sich-gekehrt am Fenster ihres Hauses im Vorort Bessungen in Darmstadt.

Maria Bitsch schaute in den kahl gewordenen Garten des Reihenhauses. Ihr leerer Blick war zum Horizont gerichtet, den die bemoosten Dachfirste der Nachbarhäuser bildeten. Von dort wanderte er zu der entlaubten große Birke, die der vorgelagerten Terrasse und dem Blumengarten im Sommer kühlen Schatten spendete. Eine kalte Herbstsonne blinzelte durch die Zweige des Baumes, aber die Strahlen wärmten nicht mehr, und sie beruhigten nicht.

Sie sah die Krähen, die sich im Geäst sammelten, ohne sie wahrzunehmen. So stand sie schon eine Weile, und es dauerte lange Minuten, bis sie wieder fähig war, sich auf ihre direkte Umgebung zu konzentrieren, und die Leere ihres Inneren sich in Unrast änderte.

Montag und Dienstag waren ihre Homeoffice-Tage, an denen sie die kommissarische Pflegeleitung der Seniorenoase ‚Jungbrunnen‘ von zu Hause aus wahrnahm. Den Mittwoch und Donnerstag verbrachte sie halbtagsweise im Pflegeheim, und den Freitag hatte sie sich als ihren freien Tag ausbedungen. Sie hatte ihrem Chef versprochen vorübergehend, bis er einen vollwertigen Ersatz gefunden hatte, aber längstens bis Ende März 2021, die Leitung des Heims zu übernehmen.

Was angesichts ihrer familiären Lage schwierig genug war.

Ihr reisefreudiger Ehemann, Karsten, war nach ihrem Verständnis allzu oft auf Geschäftsreise unterwegs. Sie war es leid, täglich darum zu betteln, dass ihre Mutter an den besagten Mittwochen und Donnerstagen in der anstehenden Covid-Lockdown-Phase betreuend einsprang. Ihre gemeinsame Tochter Julia war sechs Jahre alt, selbständig erzogen, aber elterliche Aufsicht war Maria wichtig.

Sie war heute früh aufgestanden, so wie jeden Tag, seit sie wieder aus dem Krankenhaus zurück war, wo sie die Folgen der Vergewaltigung und der nur langsam abklingenden leichten Covid-19-Erkrankung auskuriert hatte.

Den Morgenmantel hatte sie trotz der überheizten Wohnung eng um ihre Schultern gezogen. Sie fror immer, wenn sie in den grauen Morgen schaute, und seufzend wandte sie sich zur Küchenzeile am anderen Ende des Wohnzimmers. Das morgendliche Frühstück wartete darauf, zubereitet zu werden. Eine Kleinigkeit normalerweise und vor allem dann, wenn sie mit Julia allein im Haus war.

Aber in letzter Zeit war aus jeder Winzigkeit eine fast schon unüberwindliche Hürde gewachsen, die zu bezwingen ihr immer schwerer fiel.

Sie hatte das Gefühl, dass mit jedem neuen Tag, der anbrach, diese Hürden höher wurden anstatt kleiner.

Karsten hatte sich gestern Abend mürrisch und mit einem dahingeworfenen, „überleg dir das alles noch einmal in Ruhe, bevor du weiterhin so hysterisch überreagierst“, nach Dubai verabschiedet und war mit dem Taxi und Gepäck für eine längere Geschäftsreise zum Rhein-Main Flughafen entschwunden. Mit den Worten, „es könnten diesmal mehr als acht Wochen sein“, hielt er die Zeit seiner Abwesenheit reichlich vage.

Den ganzen Tag über hatte er auf sie eingeredet, weil ihn der am Abend geplante Abflug nach Dubai unter Druck setzte. Er zwang sie, sich dem Problem, wie er es nannte, zu stellen, „um es endlich vom Tisch zu bekommen.“

Außer dem lapidaren und stupiden Satz, „wir müssen doch endlich unser Leben wieder in geordnete Bahnen lenken und zur früheren Normalität zurückzukehren“, fielen ihm aber keine neuen Argumente ein.

In seine Normalität, dachte sie traurig-grimmig, denn zu ihrem Verständnis eines Normalzustandes passte ihr Tagesablauf schon lange nicht mehr.

Seit Wochen war nichts normal, und obwohl die körperlichen Blessuren verheilt waren, bluteten die seelischen Wunden nach wie vor. Bei jeder Erwähnung der Ursachen, der Folgen und des latenten Konfliktes, der über allem schwebte.

Insbesondere seit sie den Schwangerschaftstest vorliegen hatte, kam zwischen ihnen kein vernünftiges Gespräch zustande, und Karsten reagierte zunehmend allergisch, je mehr sie sich abschottete.

Dabei war die aufgezwungene Schwangerschaft das kleinste Problem, das ihre familiäre Harmonie in absolutes Chaos gestürzt hatte.

Richtige Schmerzen spürte sie erst, seit eine SMS vor vierzehn Tagen auf ihrem Handy aufgepoppt war. Eine SMS, die so unschuldig daherkam, und die ganze Wucht der Drohung dahinter verbarg.

„Sei ehrlich, du hast es provoziert. Und es hat dir Spaß gemacht. Es gibt keinen Grund, uns deshalb vor den Kadi zu zerren. Die Alternativen für eine Weigerung, uns zu entlasten, hast du ja hoffentlich nicht vergessen. Du hast exakt vierzehn Tage Zeit, um die Klage zurückzuziehen!“, stand da in dürren Worten von einem Handy mit unterdrückter Nummer gesandt.

Sie hatte geweint und die SMS gelöscht, weil sie spontan nicht imstande war, mit jemandem darüber zu sprechen. Die Augen blind vor Tränen hoffte sie, mit dem Wegdrücken der Botschaft den Stalkversuch vollständig zu beseitigen.

Klar vermutete sie, den Urheber der SMS aus der Reihe der Täter, zu kennen. Eindeutig zuordnen ließ er sich dennoch nicht. Dass diese Verbrecher sie vom Opfer zum Mittäter zu stempeln versuchten, stellte den Gipfel an Grausamkeit dar.

Von den drei Männern, die ihr Gewalt angetan hatten, war einer offiziell tot. Der Zweite war, nach seinem damaligen Gesundheitszustand zu urteilen, kaum handlungsfähig. Damit blieb nur der verschwundene Rechtsanwalt der Mafia als Erpresser übrig, wenn es da nicht ihren Kollegen und Ex-Freund Tobias gegeben hätte.

Diesen Ex-Liebhaber hatte sie vor vielen Jahren gegen ihren Ehemann Karsten ausgetauscht. Der Übergang hatte sich unvorhersehbar lange hingezogen. Es war eine Zeit, in der sie hin und her gerissen mit beiden verkehrte. Danach hatte sie jahrelang nichts mehr von Tobias gehört, der beim medizinischen Dienst der Krankenkassen angeheuert hatte. Sie war ihm erst zufällig wieder begegnet, nachdem ihr Chef sie zu einer gemeinsamen Inspektion eingeteilt hatte.

Sie war zugegebenermaßen zu der einwöchigen Prüfung des Seniorenheims ‚Jungbrunnen‘ mit einer gewissen Vorfreude und hormongesteuerten Spannung gefahren. Während der Überprüfung der Unterlagen vor Ort hatte sich ihre erotische Erwartungshaltung langsam aber sicher in eine andere Richtung entwickelt.

Bis dahin hatte sie keinen Schimmer von Tobias korrupter Beteiligung an illegalen Machenschaften des Pflegeheims, die er mit ihrem Vorgänger in der Heimaufsicht jahrelang gedeckt hatte.

Er hatte zwar früher schon gezockt, solange sie damals zusammen waren, und es waren vermutlich Spielschulden, weswegen er vom geraden Weg eines integeren Mitarbeiters des medizinischen Dienstes abgewichen war.

Ihre anfängliche Bereitschaft, eine erloschene frühere Liebesbeziehung aufzuwärmen, war während der Inspektion des Seniorenheims ‚Jungbrunnen‘ jeden Tag weiter abgeklungen. Bis sie im Minus landete, nachdem er gegen ihren zugegebenermaßen ‚leise‘ ausgesprochenen Protest Sex mit ihr hatte.

Zweifel nagten deshalb nach wie vor an ihr, ob Tobias, wie die drei anderen Täter, ein Vergewaltiger oder mindestens ein Mitbeteiligter war. Er hatte sich ihr gegenüber und bei der Einvernahme durch die Kripo echt seltsam verhalten, und der Vorwurf einer aktiven Teilnahme an der Gruppenvergewaltigung durch die einzige Zeugin des Vorfalls, wog immer schwerer.

Was er über seine Abhängigkeit von der Mafia bei der Vernehmung durch die HK Simon aussagte, nachdem seine DNA-Probe mit ihrem Vaginalabstrich übereinstimmte, entlarvte ihn als den korrupten Beamten, der er war. In der Gemengelage der Gewalttat unterstellte ihm Frau Simon ein Interesse daran, sie zu demütigen, und forderte sie auf gegen ihn einen Strafantrag zu stellen.

Dabei hatte Maria wohlweislich ihre lange zurückliegende Liebesbeziehung, und dass sie ihn aussortiert hatte, gegenüber Frau Simon aus Scham nicht erwähnt.

Er würde definitiv von einer Rücknahme der Anzeige profitieren.

Es war fürchterlich.

Maria war deshalb so unglücklich, weil sie sich mit der Katastrophe allein gelassen fühlte. Ihre Familie ließ sie total im Stich. Und sie hoffte inständig, dass die weggedrückten Stalker-Versuche automatisch aufhörten.

Ich schaffe das, dachte sie in Abwandlung eines bekannten politischen Schlagwortes.

Aber die SMS-Serie riss nicht ab, und vorgestern landete sogar ein Brief in ihrem Briefkasten, den zu allem Überdruss Karsten vor ihr zu fassen bekam. Er war wegen seiner Reisevorbereitungen zu Hause und wartete auf die Reiseunterlagen, die ihm sein Arbeitgeber in Coronazeiten zuschicken sollte. Reisen und dazu in Coronagebiete war zum Sicherheitsrisiko Nummer eins geworden.

Karsten war extrem nervös und ängstlich, den Abflug zu verpassen. Andauernd war er zum Briefkasten gerannt, um nachzusehen, ob die erwarteten Unterlagen schon eingeworfen worden waren, als er mit dem Erpresserbrief wild fuchtelnd vor ihr auftauchte.

„Um Himmels willen Maria, was ist denn das jetzt?“

Maria hatte den geöffneten Brief mit zitternden Händen entgegengenommen und sofort das Erpressungsmuster erkannt.

Nur dass dieses Mal ihrer Familie und insbesondere Julia schmerzhafte Konsequenzen angedroht wurden, wenn sie nicht einlenken würde.

Maria konnte genauso stur sein und nach Nachgeben stand ihr definitiv nicht der Sinn.

In ihrer Angst trichterte sie Julia ein, sich ständig in ihrer Nähe aufzuhalten. Oder bei Oma bleiben, wenn sie bei ihr wäre.

„Wer schreibt denn sowas“, schrie Karsten lauter werdend und setzte Maria damit nur weiter unter Druck.

Sie zuckte die Schultern und sagte frustriert, „du weißt doch genauso gut wie ich, wer hinter diesen Drohungen steckt. Ich halte das nicht mehr lange aus, das kannst du mir glauben. Und ich habe keine Ahnung, wie ich diesen Horror stoppen kann.“

Die Verzweiflung war ihr anzusehen, aber ihr Göttergatte ließ nicht locker, „das geht uns alle etwas an, und wenn du dich nicht endlich zu einer Abtreibung aufraffst und einen Schlussstrich für uns alle ziehst, wird es nicht besser werden.“

Tief in ihrem Inneren wusste Maria, dass sie das Kind unter diesen Umständen niemals behalten würde.

Und ebenso natürlich war ihre erste Überlegung gewesen, diese Schwangerschaft sofort abzubrechen.

Es waren weniger moralischen Bedenken, die sie davon abhielten, diesen Gedanken weiterzuverfolgen.

Es war die Sorge, ob sie sich damit nicht die Zukunft für künftige Wunschkinder verbauen würde.

Sie war sich absolut nicht im Klaren darüber, wie sie eine Abtreibung gesundheitlich überstehen würde. Nach Julia hatte sie zwei Fehlgeburten, sodass sie ernsthaft befürchtete, in der Folge eines künstlichen Abbruchs kein zweites Kind mehr austragen zu können.

Sie hatte ärztlichen Rat eingeholt, ohne ihre Familie darüber zu informieren, und das Ergebnis war ernüchternd. Wenn sie jetzt abtrieb, war niemand bereit, ihr die Möglichkeit eines zweiten Kindes zu garantieren.

Vor allem deswegen und weniger wegen Karstens Vorstellung eines normalen Lebens verursachte ihr allein der Gedanke an Abtreibung seelische Schmerzen.

Für Karsten hingegen wäre das der sauberste Weg und das Problem verschwunden. Sie stürzte dieser Vorschlag in eine depressive Phase, die sie kaum mehr aushielt.

In ihrer Verzweiflung und ausgelöst von dem Drang, mit jemandem zu reden, hatte sie Steffi Schwaiger angerufen, die sie bei dieser ominösen Heiminspektion und der polizeilichen Aufarbeitung kennen und schätzen gelernt hatte. Entgegen ihren Befürchtungen fühlte sie sich nach dem Telefonat erleichtert. Sie redete sich sowohl die aktuellen Geschehnisse als auch die Vorgeschichte von der Seele.

„Du darfst diese Ereignisse und die Vergewaltigung nicht verdrängen. Du musst dich der Situation stellen. Wenn du willst, können wir uns gerne treffen, und ich helfe dir, so weit ich es vermag“, hatte Steffi ihr angeboten.

Die Ereignisse dieses Schlusstages ihrer Inspektion in der Seniorenoase ‚Jungbrunnen‘, die sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Tobias Klein bei ihrem ersten Außentermin im Auftrag der Heimaufsicht durchführte, hatten sich tief in ihrem Unterbewusstsein eingegraben. Und trotz aller mentalen Anstrengungen ließ er sich seither nicht mehr aus dem Speicher löschen. Einzig aus Sorge um Julia verwarf sie die Selbstmordgedanken so schnell, wie sie gekommen waren.

Sie hatte sich inzwischen nach all den Tiefs und Hochs, die sie durchlebte, dazu durchgerungen, das Neugeborene zur Adoption freizugeben. Sie redete sich ein, es wäre nicht verkraftbar das Ungeborene in ihrem Schoß zu töten, selbst wenn einer aus der Riege der Mafiamitglieder gegen ihren Willen und gewaltsam das Kind gezeugt hätte.

Leider und insgeheim war sie sicher, dass Tobias Klein der tatsächliche Vater des Ungeborenen war. Sie benötigte keinen Pränataltest für die Vaterschaft angesichts der Spermienüberzahl von Tobias in ihrer Vagina, die seine Teilnahme an der Vergewaltigung bestätigt hatte. Und wegen der fehlenden Samenspuren der anderen drei. Von denen nur das Geständnis des Frank Koch eine Schulderkenntnis und Anklage der Mafiosi ermöglicht hatte.

Sie fühlte sich leer und ausgelaugt und hätte am liebsten bei Martin Köberl angerufen, um den Job der provisorischen Pflegedienstleitung hinzuschmeißen, und um sich krankzumelden.

Todgeweiht im Odenwald

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