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Im Friedwald

Erbach, Montag 2. November 2020

Steffi Schwaiger war übel.

Der bessere Ausdruck und dem Zustand angemessener wäre ‚kotzübel‘ gewesen.

Der normalerweise immer gutgelaunten Steffi Schwaiger merkte man schon den ganzen Morgen einen leicht angeschlagenen Zustand oder richtigerweise Umstand an.

Ihrem Partner, Hans Hämmerle, entging ihr Unwohlsein genauso wie ihrem Seniorchef und Vater von Hans, Willy Hamplmaier.

Zu erkennen, dass ihr speiübel war, hätte eine gewisse Aufmerksamkeit vorausgesetzt, die ihre Männer ab und zu vermissen ließen. Nicht nur heute, an einem Tag, an dem jeder der drei in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen war.

Steffi war schon extrem blass um die Nase beim Frühstück gesessen, und dass sie außer einem ungezuckerten Kamillentee einige Löffel Müsli zu sich nahm, lag daran, dass sie seit ein paar Tagen besorgt in ihren Körper hineinhorchte. Rund sechs Wochen war ihre Periode mittlerweile überfällig. Zwar blieb die Regel bei ihr manchmal wochenlang aus, aber so lange hatte es zuvor nie gedauert.

Das hatte ihr beim Sex mit Hans gelegentlich Kopfschmerzen verursacht, denn ihr lieber Partner, war davon überzeugt, seinen Erguss unter Kontrolle zu haben, weshalb er ein Kondom immer abgelehnt hatte.

Er behauptete, die Gummis verhinderten die richtige Gefühlsexplosion, aber stattdessen war er mindestens einmal in ihr explodiert, wie der Schwangerschaftstest vor ein paar Tagen zeigte.

Ungläubig hatte sie einen Termin bei ihrem Frauenarzt wahrgenommen, der ihr freudestrahlend eine Schwangerschaft in der siebenten Woche attestierte.

Sie war zuerst entsetzt, dann euphorisch und allmählich pegelte sich ihr Gemütszustand bei zufriedenem Muttersein ein.

Ihre Stimmungsschwankungen, die ihre Beziehung zu Hans monatelang begleitet hatten, waren getrieben von einem Blitzkrieg. Ihre Schmetterlinge im Bauch hatten über ihren abebbenden inneren Widerstand gegen eine Neuauflage ihrer Sandkastenliebe die Oberhand gewonnen. Es war unglaublich, wie schnell sich die Beziehung zu Hans nach den Jahren seiner Flucht wiederbelebt hatte.

Umso unheimlicher waren ihr die Konsequenzen.

Sie hatte hartnäckig die Anzeichen ignoriert, die sich in der Folge ihrer hemmungslosen Nächte zunehmend in morgendlichem Unwohlsein und unkontrollierten Brechanfällen äußerte.

Dabei wäre eine Schwangerschaft für sie, wenn sie ehrlich zu sich war und das Übelbefinden ausklammerte, ein im wahrsten Sinn des Wortes freudiges Erlebnis. Endlich hätte sie erreicht, was ihrer Vorgängerin in der Beziehung zu Hans, nicht vergönnt war.

Der Begriff gefiel ihr nicht.

Dazwischengängerin wäre richtiger gewesen, denn Steffi lebte mit Hans ja schon lange vor Alina und permanent verliebt zusammen, und hatte ihn, wiederum ehrlich gesagt, nie aufgegeben.

Nur dass Hans ihr vor vierzehn Jahren so spontan und ohne große Ankündigung den Laufpass gegeben hatte.

Ihre Eltern waren damals todunglücklich, weil sie meinten, sie hätte Hans vor Jahren verlassen. Aber er war es, der sich von ihr getrennt und jetzt wieder in sie verliebt hatte.

Und sie sich in ihn.

Das war die ungeschminkte Wahrheit.

Hans hatte den Tag seinerseits mit einem ausgiebigen Frühstück eröffnet, und seine Empfangsantenne für die Gefühle seiner Liebsten war dem Duft des Spiegeleies unterlegen und abgeschaltet. Außerdem kreisten seine Gedanken um den bevorstehenden Grabbesuch von Alina. Steffi wiederum war ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, und stocherte in ihrem Müsli herum. Der Haferbrei war nicht imstande, ihre Magennerven zu beruhigen.

Sie hatte sich beim Frühstück entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten drastisch zurückgehalten und saß für ihre Verhältnisse schweigsam am Tisch.

Das Schweigen überdauerte sogar die Autofahrt zum Friedhof, ohne dass sich irgendeine Konversation entwickelt hätte.

Sie stieg zusammen mit den anderen aus dem Auto auf dem Parkplatz am ‚Ruheforst‘ in Erbach und ähnelte mehr der Zombiemaske, in die sie sich auf dieser missglückten Halloweenparty vor zwei Tagen geschminkt hatte.

Steffi verabscheute Grabbesuche aller Art, weil ihr die Erinnerung an jene, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, immer seelische Schmerzen zufügte.

Das Gefühl war nicht mit dem zu vergleichen, das ihr das Samhain-Fest zu vermitteln imstande war. Ein Ereignis, bei dem es im Gegensatz zu Allerseelen mehr um die Wechselwirkung zwischen Leben und Tod ging.

Allein die Friedhofsatmosphäre genügte, um mit dem Gedanken an den Tod einen endgültigen Abschied zu verbinden. Und das vertrug ihr Gemüt zu normalen Zeiten nicht und heute schon gar nicht.

Und so stapfte sie an diesem Morgen mit blassem Gesicht und wenig begeistert hinter ihren beiden Ermittler-Chefs vom Parkplatz am ‚Ruheforst‘ in Erbach in Richtung Waldfriedhof.

Willy der Bestatter aus Michelstadt hatte Alina, Eminas Mama, und die ermordete Ehefrau von Hans, bei Nacht und Nebel vor elf Jahren im Ruheforst beigesetzt, und dieses war das erste Allerseelenfest, an dem Hans ihr Grab besuchen kam.

Alina, die sie weder gekannt hatte und zu der sie posthum keine Beziehung wünschte, denn egal wie man die Vergangenheit betrachtete, Alina hatte damals ihre Liebe gestohlen.

Sie schaffte es nicht, am Grab irgendwelchen entschwundenen Zeiten nachzutrauern.

Vor allem, wenn es sich um schmerzhafte Erinnerungen handelte.

Sie freute sich lieber mit den Lebenden.

Am Grab fühlte sie sich leer wie ein Vakuumgefäß.

Und das Vakuum in ihr wurde dunkler und leerte sich weiter, je länger sie am Ort von Alinas Beisetzung verharrte.

Dabei beherrschten Leere und Dunkelheit niemals ihr Leben.

In normalen Zeiten drängte ihr flippiger Charakter gnadenlos und blitzschnell dunkle Gedanken ins Abseits, sobald sie aus irgendwelchen Ecken krochen.

Zu Willys Frau Anna, deren Grab sie unmittelbar vorher auf dem Erbacher Friedhof besucht hatten, hatte sie ein völlig anderes Verhältnis, aber sogar diesen Grabbesuch hatte sie eher widerwillig absolviert. Sie hatte Anna gekannt, seit Willy sie aus Spanien angeschleppt hatte. Sie hatte die gesamte Phase der schleichend stärker werdenden Depression erlebt.

Wie oft hatte sie Anna in der Klinik besucht, in die Willy sie einweisen ließ, weil er das tägliche Miteinander zu Hause nicht mehr aushielt und ihre Seelenkrankheit nicht vertreiben konnte.

Ehrlich gesagt, tendierte die Stimmung bei Willy Hamplmaier und seinem Sohn Hans Hämmerle gleichermaßen zur dunklen Farbskala.

Die Ehre, die sie ihren toten Ehefrauen zu erweisen beabsichtigten, ließ dank der tragischen Umstände, unter denen beide gestorben waren, keine andere Einstellung zu.

Für Steffi kam zu der seelischen Bedrücktheit die körperliche Belastung dazu.

Und das war das eigentliche Übel.

Ihr war kotzübel.

Und das war womöglich maßlos untertrieben.

Der Drang, sich ständig zu übergeben, hatte sich ihrer schon seit Tagen bemächtigt, und der Impuls, jede Art von Essen gleich wieder in der Toilette hinunter zu spülen, nahm tendenziell zu.

Von ihren drei Begleitern war nur Emina ihr Zustand aufgefallen.

Aber die schwieg und wartete, bis sich ihre Freundin unaufgefordert offenbaren würde.

Im Moment sah es nicht danach aus, ob Steffi bereit wäre, über die Gründe ihrer Nausea zu sprechen.

Dem mit gesetzten Schritten vor Emina hergehendem Papa war Steffis Abwehrreaktion ebenso entgangen wie ihre Übelkeit. Und genauso war es mit ihrem Opa Willy, denn die Herren waren mit ihren Gedanken woanders.

Aber das war für die nachfolgenden Damen nicht im mindesten neu.

Steffi hatte lange gezögert sich aufzuraffen, um die beiden zu begleiten, nachdem Hans und Willy einen Besuch bei den Grabstellen ihrer Frauen zu Allerseelen angekündigt hatten. Steffi war nur mitgekommen, weil Emina sie flehentlich bat, nicht allein das Grab ihrer Mama zu besuchen. Sie und Steffi wussten beide erst seit Eminas unseligem Treffen mit ihrem Onkel Dawoud, dass ihre Mama nach ihrer Ermordung hier begraben lag. Klammheimlich war das vor elf Jahren deshalb passiert, um nicht die Wölfe[Fußnote 2] der ‚Gesellschaft auf ihre Spuren zu locken, wie ihr Papa erklärt hatte, der nicht ihr biologischer Vater war.

Aber die Mafia hatte sie nach ihrer Rückkehr in den Odenwald trotzdem entdeckt, und das Verwischen der Spuren und ihre Flucht in die Schweiz hatten letztlich nicht funktioniert. Das Blutvergießen um Familienehre und Rache hatte sich fortgesetzt.

Und erst jetzt, solange sie zu viert in der Stille des Waldes an den Gräbern standen, und alle ihren so unterschiedlichen Gedanken nachhingen, schien Friede in den Gedanken einzukehren.

Eine Ruhe, die trügerisch war, und die nicht lange währen sollte.

Todgeweiht im Odenwald

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