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Steffis Albtraum

Erbach, Mittwoch 2. Dezember 2020

Nach ihrem Telefonat mit Maria schlief Steffi die ganze Nacht beschissen und träumte von ihrem Womanizer, der sie in einem Albtraum vergewaltigte bis sie schweißgebadet aufwachte. Sie holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und versank dann nochmals in tiefem Schlaf.

Hans hingegen schnarchte wie ein Murmeltier und bekam nichts von Steffis Albtraum mit.

Er saß schon beim zweiten Teil seines Frühstücks und verschlang ein mit Marmelade beschmiertes Croissant, derweil Steffi verstört und im Nachthemd auftauchte und sich den Wuschelkopf mit den Händen bearbeitete.

„Was für eine Nacht“, stöhnte sie.

„Was ist los, du siehst aus, wie einmal durch den Wolf gedreht?“

„So fühle ich mich auch.“

„Trink erst einmal einen Kaffee. Ich setze ihn dir auf“.

„Bloß nicht, allein bei dem Gedanken an das Gebräu wird mir schon schlecht. Ich brüh mir lieber einen Kamillentee oder besser noch einen sylter Strandtee auf.“

„Seit wann trinkst du denn Tee?“

„Papa, du bekommst aber auch gar nichts mit“, mischte sich unerwartet Emina ein, die ebenfalls früh aufgestanden war, um Steffi auf ihrer morgendlichen Gassirunde mit Django zu begleiten. Der stand schon schwanzwedelnd neben seinem Napf und rührte mit der Schnauze in der leeren Schüssel.

„Du bekommst gleich etwas“, lenkte Steffi vom Thema ab und füllte den Fressnapf halb voll mit Trockenfutter, das er gierig und mit lautem Knacken verschlang.

„Vermutlich hat mich das Telefonat mit Maria so aufgeregt, dass ich schrecklich geträumt habe. Ich will es euch gar nicht erzählen, so grässlich war es.“

„Was hat die Maria denn erzählt, dass du davon wie in einem dramatischen Film träumst?“, hakte Hans nach.

„Stell dir vor, nicht nur, dass sie damals vergewaltigt wurde, jetzt stellt sich heraus, dass sie zu allem Überdruss schwanger ist.“

Steffi pausierte kurz, bevor sie den für sie wichtigen Teil der Unterhaltung auf den Abend verschob.

Es ging ihr um eine Information, die exakt zum Thema passte, und für die sie sich Zeit nehmen wollte. Morgens herrschte zu viel Unruhe am Frühstückstisch für ein ausführliches Gespräch. Da hatten alle nur das tägliche Hamsterrad im Kopf, bevor sie zu ihren Tagesgeschäften aufbrachen. Aus diesem Grund vermied sie es, sich beim Frühstück zu exponieren. Sie bevorzugte es, Hans bei einem Glas Wein entspannt auf die neue Situation einzustimmen.

Stattdessen setzte sie Hans über die Erpressung von Maria ins Bild.

„Und jetzt haltet euch fest. Vor zwei Wochen hat sie nach diversen SMS-Nachrichten den ersten Drohbrief bekommen, um sie zu bewegen, die Anzeige gegen die Vergewaltiger zurückzuziehen.“

„Außer der Tatsache, dass der Brief im Postamt Frankfurt-Sachsenhausen am 15. November abgestempelt wurde, gibt es keine Hinweise auf den Absender“, bedauerte Steffi.

„Die Botschaft war auf einem Laserdrucker auf Normalpapier gedruckt: ‚Du hast zwei Wochen Zeit, deine Anzeige zurückzuziehen. Sonst passiert etwas!‘. Ist das nicht fürchterlich? Wir haben doch alle gedacht, wir hätten diese Teufelsbrut ausgeräuchert. Aber nein, es gibt sie immer noch!“

Hans hörte schweigend zu.

„Und nicht nur das. Der Erpresser hat sie mit SMS-Botschaften traktiert und sogar mit verstellter Stimme angerufen. Er drohte, ihr und ihrer Familie sehr, sehr weh zu tun, wenn sie nicht bereit wäre zu parieren. Ihre Katze hat sie bereits tot vor der Eingangstür gefunden. Den Hals durchgeschnitten. Einfach so! Hans, ihr müsst ihr helfen!“

Ihr Partner nickte stumm.

„Die Frau ist kurz vor hysterisch vor Angst. Und in ihrer Familie hat sie keinen Rückhalt, das kommt dazu! Die sind glatt der Meinung, dass sie selbst mitschuldig ist an dem Schlamassel. Das muss man sich mal vorstellen. Der eigene Mann und die Eltern jammern über Familienehre.“

„Das klingt ja fast wie meine jüngsten Erfahrungen, mit meinem Cousin. Dabei konnte ich dessen Frauenbild wegen seiner archaischen Erziehung zumindest nachvollziehen. Aber hierzulande, das ist echt krass!“, sprudelte Emina heraus, was ihr bei Steffis Worten in den Sinn kam, und sie schüttelte bestürzt ihre nachtschwarze Haarpracht.

„Beruhige dich Schatz“, Hans kaute mit vollen Backen.

„Ich treffe mich sowieso gleich mit Willy, dann klären wir, wer sich von uns beiden darum kümmert. Ich werde mich der Sache selber annehmen, denn Willy wird gerade mit Leichen zugeschmissen, das kannst du dir nicht vorstellen, und er weiß nicht mehr wohin damit. Auf jeden Fall müssen wir uns mit Maria einmal treffen, um uns die Story komplette anzuhören“, stimmte Hans zu, und er drückte Steffi.

„Mach einen Termin mit ihr aus, dann unterhalten wir uns in Ruhe und bereiten dem Desaster ein Ende!“

*

Steffi schaute nach dem Abendessen gespannt in die Runde. Hans hatte Glühwein aufgesetzt und die Gläser vollgeschenkt, und Emina rutschte mindestens genauso aufgeregt und in intuitiver Vorahnung einer aufregenden Enthüllung auf ihrem Stuhl hin und her. Steffi gelang es nicht, wie gewollt eine zufriedene Gelassenheit auszustrahlen.

Sie platzte fast, so schnell drängten die Neuigkeiten über ihre Lippen.

Sie hatte sich so viele Jahre um eine stabile Beziehung mit einem liebenswerten Partner bemüht, und von Kindern war in ihren Gedanken bisher kaum Platz, so wie sie in ihrem Beruf aufging.

Und jetzt kam alles auf einmal.

Ihre frühe Liebe kam unverhofft zurück, und obwohl der Schuft sie damals verlassen hatte, ließ sie ihn wieder in ihr Herz und ihr Bett. Da er eine Tochter mitbrachte, hatte sie sich schnell mit dem Gedanken an eine Patchworkfamilie angefreundet, wobei sie Emina, deren biologischer Vater ihr Hans zudem nicht war, mehr wie eine große Schwester an Stelle einer ‚Stiefmutter‘ behandelte.

Und jetzt war sie von diesem Mann schwanger.

Für die Veröffentlichung dieser Neuigkeit hatte sich Steffi wohlweislich den besten Teil des Tages aufgehoben,

Kaum war der Nachtisch weggelöffelt, nahm sie die Hand von Hans, und legte sie sich auf ihren umständehalber nicht mehr ganz so superflachen Bauch. „Glaubst du, da passt noch etwas hinein?“, fragte sie ihn mit unschuldigem Augenaufschlag.

Hans, der sich zwischenzeitlich einen ordentlichen Schluck vom heißen Glühwein gegönnt hatte, dachte weniger an den Nachtisch und nickte mit anzüglichen Unterton, „oh ja, du verträgst bestimmt noch eine Portion. Es fühlt sich so angenehm warm an, nach unserem kalten Spaziergang. Ja, da geht noch etwas.“

Bevor Steffi ihm auf die Finger klopfen konnte, weil er mit seiner Hand zu tief gerutscht war, ergänzte er augenzwinkernd, „ich finde, dein Glühweinöfchen ist ja ordentlich warm.“

Steffi prustete los.

„Glühweinöfchen. Das ist ja lustig. Haha“, lachte sie los, und sie steckte alle an mit ihrem herzlichen Lachen, „du solltest Brutöfchen sagen. Das trifft es eher.“

Und Hans, der immer noch auf der Leitung stand und nicht kapierte, was sie ihm sagen wollte, guckte ein bisschen ratlos von Steffi zu Emina und zurück.

„Du bis mir schon so ein Ermittler, mit einem sagenhaft scharfen Verstand!“, rutschte es seiner Tochter heraus und alle lachten, bis es bei Hans endlich ‚Klick‘ machte.

„Nein“, sagte er und fügte ein verzweifelt klingendes Statement an. „Das kann doch gar nicht sein, so vorsichtig wie wir waren?“

„Du und vorsichtig“, lachte Steffi.

„Gerade weil du ständig so vorsichtig warst, mache ich seither regelmäßig meine Schwangerschaftstests. Das war wohl nichts mit deiner ‚Körperbeherrschung‘ und deinen beruhigenden Worten wie ‚ich brauche kein Kondom, ich habe das alles unter Kontrolle‘.“

„Wow“, rief Emina und, „ich hab‘s gleich gewusst!“

„Wieso hast du das schon wieder alles ‚gleich‘ gewusst?“, wurde Hans ärgerlich.

„Männer!“, spottete Emina. „Ihr habt halt keinen Blick für die kleinen Zeichen. Und die Signale meiner großen Schwester, sind ja schon wochenlang nicht zu übersehen. Ich hab mich nur nicht getraut, sie direkt zu fragen. Aber ich freue mich für euch. Und auf einen Bruder. “

„Mal schauen, was es wird, lassen wir uns überraschen. Es wird ein Wunschkind, aber sicher kein Designer-Baby.“

Hans verzog das Gesicht, denn wieder einmal stand seine Fähigkeit des scharfsinnigen Ermittlers in Zweifel, und Emina blinzelte Hans gutmütig zu.

Steffi lachte immer noch, und er wusste nicht, ob er einstimmen sollte, während sie beschrieb, wie sie die irreversible Tatsache der Schwangerschaft auf der Toilette festgestellt hatte.

„Es war exakt vor einer Woche, als der zweite Strich im Display des Röhrchens aufgepoppt war. Ich freu mich so!“, sagte sie und küsste ihn überschwänglich. „Und Ende Mai ist es so weit“, kam sie seiner Frage zuvor.

Ein Anfangsverdacht

Michelstadt, Montag, 7.12.2020

Im Bestattungsinstitut Hamplmaier herrschte Hochbetrieb und wie jedes Jahr stieg die Sterblichkeitsrate in der Vorweihnachtszeit drastisch an.

In diesem Dezember schien sich ein neuer Rekord anzubahnen, denn Corona steuerte sein Quäntchen zur Auslastung des Betriebes bei.

Vor allem die gemeldeten Sozialbestattungen von verstorbenen Patienten der Hibiskusklinik hatten überproportional zugenommen. Willy war deshalb dazu übergegangen, die Leichen paarweise zur Feuerbestattung ins Krematorium ‚im Birkengrund‘ in Obertshausen zu bringen und die Bestattung in Sammel-Urnengräbern im Erbacher Ruheforst vorzunehmen.

Die Coronatoten wurden unabhängig davon, ob sie es selbst oder ihre Angehörigen verfügten, feuerbestattet, dadurch nahm die Auslastung der Krematorien gewaltige Ausmaße an. Ein positiver Seitenaspekt für Kranke mit Überlebenschance war, dass wieder mehr Intensivbetten zur Verfügung standen.

„Willy kannst du einmal kommen“, rief sein Adlatus aus dem Keller nach oben, denn Willy saß im Büro im ersten Stock und starrte finster auf den Bildschirm seines Laptops, der zum x-ten Mal abgestürzt war.

„Verdammt noch einmal“, grummelte er vor sich hin, „wo bleibt denn Steffi?“

Er hatte sie gebeten, sich die Kiste anzuschauen. Die ständigen Systemausfälle nervten ihn fürchterlich.

„Ich komme“, rief er zurück und stapfte missmutig in den Keller, wo ihn Hubert, sein Bestattergehilfe, schon erwartete und dem perplexen Willy eine der drei Leichen zeigte, die er gestern Abend im Leichensack von der Hibiskusklinik abgeholt hatte.

„Ja und“, fragte Willy, ohne zu erkennen, was Huberts ausgestreckter Zeigefinger anvisierte.

„Fällt dir nichts auf?“

„Nein, mach‘s nicht so spannend.“

„Schau dir einmal die Körperschnitte der Leichenöffnung an“.

Willy trat einen Schritt näher an die Leichen heran und staunte.

„Das habe ich ja noch nie gesehen, die haben glatt vergessen, nach der Autopsie die Schnitte wieder zuzunähen!“

„Das ist schon mehr als seltsam. “, bestätigte Willy und zog sich langsam die Handschuhe an.

„Wieso weisen nach den Totenscheinen gerade die von der Hibiskusklinik freigegeben Leichen ständig unklare Todesursache aus. Diese vielen Leichenöffnungen sind doch seltsam?“, beharrte Hubert darauf, dass dies eine Praxis war, die das Team vor allem bei den Leichenübergaben dieser einen Klinik feststellte.

Er klappte die losen Hautlappen des Bauchraumes zurück, sodass sich der senkrechte Schnitt auftat, der vom Brustbein bis zum Schambein verlief.

Eine reguläre Obduktion wurde ausschließlich bei unklarer Todesursache zu deren Feststellung vorgenommen. Dabei entnahm der Pathologe sämtliche innere Organe, wog sie und untersucht sie auf Verletzungen oder toxische Veränderungen. Hier bot sich dem Bestatter ein anderes Bild.

Es fehlten nur das Herz, die Milz und beide Nieren!

Das sah nicht nach einer Obduktion, sondern mehr wie eine Organentnahme aus.

Vermutlich sogar eine illegale Organspende, denn die Leiche war als anhanglose Sozialbestattung angemeldet, ebenso wie die beiden anderen Toten. Und wie so viele vorher, die von der Klinik kamen.

Wenn sie in der Eile nicht vergessen hätten zuzunähen, wäre niemandem etwas aufgefallen.

Unvorstellbar.

Willy, dessen Ermittlerneugier die Ehrfurcht vor Toten in seiner Rolle des Bestatters überwog, durchtrennte die Nähte, mit denen die Körperschnitte der beiden anderen Leichen vernäht waren.

Diese toten Körper waren fein säuberlich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, und mit Füllmaterial aus Papier gefüllt.

„Hier hat jemand ganz offenbar zufällig einen groben Fehler gemacht oder die Arbeit wurde unterbrochen. Vielleicht war da jemand zu schnell?“, sagte er, stapfte in den ersten Stock und rief in der Klinik an.

Die Auskunft, die er erhielt, war nicht dazu angetan, sein Misstrauen aus der Welt zu schaffen. Der Pathologe, den er am Telefon hatte, entschuldigte sich mit Überarbeitung, und dass er die Obduktion wegen eines Notfalles leider unterbrochen hätte. Inzwischen wäre es dann offensichtlich zum Fehler gekommen. Ob ein Azubi danach und unbefugt den toten Körper zum Transport hergerichtet und Willys Bestattergehilfen zusammen mit den beiden anderen Leichen mitgegeben hatte, ließ sich nicht mehr nachvollziehen. Er bedauerte den Zwischenfall und legte auf.

Kopfschüttelnd beschloss Willy, seinen Freund und Exkollegen, den Hauptkommissar Manfred Dingeldein, anzurufen und seinen Rat einzuholen.

„Guude Morsche, Manfred, gut dass ich erwische. Ich hab da etwas für dich“, und dann erzählt Willy, was er herausgefunden hat.

Der HK zögerte wegen einer seiner Meinung nach ungenügender Indizienbeweislage, aber er rief aus Gefälligkeit dennoch bei der Staatsanwaltschaft an. Um zu klären, ob der Verdacht ausreichte, die Leiche in die Rechtsmedizin nach Frankfurt zu einer Obduktion zu bringen, die den Namen verdiente.

Der Staatsanwalt stimmte dem Antrag, in Kenntnis des coronabedingten Bearbeitungstaus am gerichtsmedizinischen Institut, erwartungsgemäß nicht zu.

Und Willy löste die Feuerbestattung dementsprechend und umgehend aus.

Todgeweiht im Odenwald

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