Читать книгу Todgeweiht im Odenwald - Werner Kellner - Страница 12
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Pflegeheim Jungbrunnen, Mittwoch, 9.12.2020
Der morgendliche Inspektionsrundgang durch das Seniorenheim gehörte zu Marias Routineübungen. Sie war eine Stunde später wieder an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und blätterte lustlos in den Abrechnungen, die sie noch erledigen musste. Die Ausgangsablage war voll mit Briefen, die auf ihre Unterschrift warteten, bevor sie zum Monatsende an die Krankenkassen der Heiminsassen verschickt wurden.
Sie hob den Kopf und reagierte überrascht auf das Klopfen an der Tür.
Auf Marias lautes „herein“, steckte eine gutgelaunte Steffi Schwaiger, ihren Wuschelkopf durch den Türspalt, und fragte, ob sie stören würde.
Maria war ehrlich froh über die angenehme Unterbrechung und die Aussicht auf eine geduldige Zuhörerin zu ihrem Problemchen.
Sie winkte sie erleichtert herein.
Bei ihrem letzten Telefonat hatte sie Steffi direkt gefragt, ob sie sich von ihr einmal vollquatschen ließe, wie sie sich ausdrückte. Und Steffi hatte gerne zugestimmt, denn das Schicksal der einige Jahre jüngeren Kollegin lag ihr auf der Seele.
Steffi kam mit dem Besuch im Pflegeheim formal ihrem Auftrag einer zuständigen Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes nach. Ihr Prüfauftrag lautete, alle vier Wochen die Einhaltung von Gesundheitsstandards und der Coronamaßnahmen prüfen, die unter Marias Vorgängerin komplett vernachlässigt worden waren. Und da ließen sich leicht ein paar Minuten zum Plaudern dranhängen.
Maria bat sie erleichtert, Platz zu nehmen.
Steffi saß noch nicht, da sprudelte Maria schon ihre Sorgen heraus.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was bei mir zu Hause in den letzten Wochen abgegangen ist“, leitete sie das Gespräch ein und wiederholte, was sie Steffi bei ihrem letzten Telefonat schon gedrückt hatte.
Steffi verfügte von Haus aus über die seltene Fähigkeit des empathischen Zuhörens. Es passierte ganz oft, dass ihr völlig Unbekannte bedenkenlos intimste Details anvertrauten. Sie hatte diese unsichtbare Markierung der anteilnehmenden Zuhörerin auf die Stirn tätowiert.
Und Maria las dieses Zeichen spontan und legte sofort los, indem sie haarklein über ihre Schwangerschaft und den Konflikt mit ihrer Familie erzählt.
„Oh mein Gott, ich stelle mir das schrecklich vor, von irgendeinem Arschloch vergewaltigt UND geschwängert zu werden? Wie krank ist das denn?“, stöhnte Steffi, und sie verstand, dass das Drama, um die frühere Vergewaltigung um eine Eskalationsstufe höher geklettert war.
Nicht dass eine Schwangerschaft per se etwas Schreckliches in Steffis Vorstellungswelt wäre, wenn sie an ihren eigenen positiven Schwangerschaftstest dachte, den sie auf der Toilette zu Hause erfreut zur Kenntnis genommen hatte. Steffi war erleichtert und zufrieden über ihr eigenes Testergebnis, weil sich erstens ihr ständiger morgendlicher Brechreiz auf eine natürliche Ursache zurückführen ließ. Und zweitens freute sie sich, denn sie liebte den Samenspender.
Bei Maria sah das etwas anders aus. Es war schon krass, wie sich eine Spermienspende so konträr in ihren Konsequenzen entwickelte.
Maria, die von Steffis Gedanken nichts bekommen hatte, fuhr traurig fort.
„Mit meiner Mama komme ich gar nicht mehr klar. Die liegt mir ständig mit ihrem Gesäusel wegen des Verlustes unserer Familienehre und der Schande, die ich über sie bringe, in den Ohren. Und es wird nicht weniger, sondern sie und Papa steigern sich da sowas von in eine Familienkatastrophe hinein“, jammerte Maria und Steffi war baff.
„Familienehre, wenn ich das schon höre. Das ist ja mindestens genauso schlimm wie das Drama, das Emina durchmachen musste, und das letztlich zum Tod ihrer Mutter und ihres Onkels führte. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert. Unfassbar!“, erklärte sie sich mit Marias Bericht solidarisch, „dass es so eine archaische Einstellung bis heute bei uns überlebt hat?“
„Und Karsten ist um keinen Deut besser“, blieb Maria beim Thema und war den Tränen nahe, „der droht sogar damit, mir Julia wegzunehmen, wenn ich nicht endlich abtreibe und dieser Erpressung nachgebe“.
Damit schaffte sie den Übergang zu den diversen SMSen, die sie leider (aus Sicht der Ermittler) sofort nach dem Eingang vernichtet hatte.
Die Erpresserbriefe, inzwischen hatte sie noch einen zweiten erhalten, und eine Droh-Mail kamen in Marias Erzählung ebenso schnörkellos auf den Tisch wie die Wiederholung des schockierenden Fundes ihrer toten Katze. Sie hatte sie mit durchgeschnittenem Hals und zusammen mit der kurzen Drohnachricht ‚die Frist läuft ab‘ vor der Haustür gefunden.
„Karsten hat mir wegen der Erpressung keine Ruhe gelassen, bis ich Frau Simon angerufen habe, die sofort versprach, mir zu helfen. Sie schimpfte mit mir, dass ich die Handy-Botschaften vernichtet habe, und empfahl mir dringend, mich künftig sofort mit jeder neuen Nachricht bei ihr zu melden. Von der Katze weiß sie noch nichts. Und Julia predige ich die ganze Zeit, vorsichtig zu sein. Ich lasse sie keine Minute mehr aus den Augen.“
Maria stockte und seufzte.
„Aber herausgefunden haben sie bisher natürlich nichts“, der Frust in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Was stand denn in den Briefen genau?“, war Steffi bemüht Näheres zu erfahren. Maria hat nach der Ermahnung durch Frau Simon das letzte Schreiben eingescannt und öffnete den Brief jetzt auf ihrem Laptop.
Steffi las aufmerksam und Maria unterbrach sie nicht.
Zufall oder nicht, während Steffi las, kündigte der E-Mai-Server des Pflegeheims einen Posteingang an, und die Meldung ‚Sie haben Post‘ poppte auf.
Wie erwartet, war es eine Drohung, die den Druck erhöhte, und die Frist, sich zu entscheiden, wurde verkürzt.
‚Du hast von nun an exakt eine Woche Zeit, die Anzeige zurückzuziehen, bevor wir uns zuerst deine Familie vornehmen und dann dich. Du kennst das ja schon, du Schlampe. Die Katze konnte nichts dafür‘, las Steffi erschrocken. Sie setzte sich sofort an den PC, um die IP-Adresse des Absenders zu eruieren, aber die Mail war über verschiedene Accounts und vermutlich von einem Darknet-Server abgeschickt worden und ließ sich nicht tracken.
„So geht das jetzt seit Wochen“, flüsterte Maria.
„Ich habe keine Ahnung, wie sie an meine Handy-Nummer und meine E-Mail-Adresse kamen.“
‚Das ist locker zu erklären‘, dachte Steffi. Sie wagte es aber nicht den Verdacht auszusprechen, dass die Verteidiger der Vergewaltiger nach Akteneinsicht mit wenig Aufwand an die Koordinaten der Zeugin für die Strafanzeige gelangten.
„Dass du die Pflegedienstleitung innehast, das ist ja allgemein bekannt“, überlegte Steffi laut, „und über eine undichte Stelle im Heim hat der (oder die) Stalker höchstwahrscheinlich deine Handy-Nummer ausgespäht?“
„Vergiss nicht, die haben das Heim jahrelang betrieben. Es gibt hier genügend loyale Angestellte der früheren Eigner“, ergänzte Steffi trocken.
Ihr war klar, dass sich der Eigentumsstreit mit der Gesellschaft unter Umständen monatelang hinziehen könnte und vom Ausgang der Entscheidung der Strafkammer in Frankfurt abhängig war.
„Was wirst du jetzt mit Julia machen, nachdem du dich mit deiner Mama überworfen hast und Karsten nicht zu Hause ist?“, fragte eine besorgte Steffi und griff einen kritischen Punkt auf.
Maria seufzte, „wenn ich das wüsste. Meine Mutter mag ich nicht mehr fragen, sonst hetzt sie Julia jedes Mal stärker gegen mich auf. Das wird immer schlimmer“.
„Warum wohnt ihr nicht beide hier im Heim? Zurzeit gibt es nur ‚Home-Schooling‘, und das kannst du genauso gut von hier aus mit Julia organisieren. Die Kantine ist zwar nicht optimal, aber ihr könnt hier wieder Abstand gewinnen und habt Zeit zum Luftholen, um in Ruhe entscheiden, wie es weiter geht!“, schlug ihr Steffi vor.
Maria nickte, denn in diese Richtung hatte sie bisher nicht überlegt.
„Wenn ich mir das Recht überlege“, freute sich Maria, „ist das ein Megavorschlag. Hier im Heim könnte ich mir sogar Weihnachten als schönes Fest vorstellen. Mit den alten Leutchen wäre das eine nette Aufgabe und für Julia abwechslungsreich. Karsten ist in Dubai auf seiner Öl-Plattform und mit meinen Eltern gäbe es nur Zoff und Streit. Mit etwas Glück könnte ich zu den Erpressungsversuchen eine gewisse Distanz zwischen die Erpresser und mich legen?“
„Mir gefällt auch besser, dass wir uns in dem Fall ab und zu mal sehen könnten, um über alles zu reden“, ergänzte Maria und sah Steffi hoffnungsvoll an.
„Auf jeden Fall. Außerdem werde ich sofort, wenn ich jetzt heimkomme, meine zwei Chefs fragen, wie sie dir helfen können, diese fiese Erpressung abzustellen? Was hältst du davon?“
Maria, die sich bisher nur in die Ecke gedrängt sah, nahm das Hilfsangebot dankbar an. Sie fand vor allem die Idee toll, mit Julia im Pflegeheim einzuziehen.
Sie beabsichtigte den Umzug umgehend anzugehen, denn in ihrer Wohnung war sie nicht mehr sicher.
Und Polizeischutz lehnte sie ab.
Es war so schon kompliziert genug.
Zum Abschied knufften sie einander coronakonform, und Steffi lud Maria zur Weihnachtsfeier des kleinen Ermittlerteams ein, damit Willy und Hans ihr konkret erklärten, wie sie ihr helfen würden.