Читать книгу Heinrich Zschokke 1771-1848 - Werner Ort - Страница 11

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FLUCHT NACH SCHWERIN

Am 22. Januar 1788 reiste Zschokke von Magdeburg ab, um sein Glück anderswo zu suchen.1 Er täuschte die Mitmenschen über seine Pläne, da er wohl zu Recht annahm, man hätte sie missbilligt und ihn nicht ziehen lassen. Als er am Tag zuvor von Christiana Faucher Abschied nahm, behauptete er, zu einer Hochzeit eingeladen zu sein. Und dann, fuhr seine Lieblingsschwester fort, als sie im Oktober 1826 ihrem Neffen Theodor Zschokke davon erzählte, sei er in die weite Welt gezogen und man habe nichts mehr von ihm gehört, bis er zur Universität gegangen sei.2

Vielleicht verabschiedete Zschokke sich noch von anderen Verwandten, womöglich meldete er sich von der Schule ab; auf jeden Fall besorgte er sich einen Reisepass, um nicht von der Torwache abgewiesen oder einer Patrouille aufgegriffen zu werden. Man befand sich in Preussen, in einem gut organisierten und überwachten Staat, wo immer Jagd auf jemanden gemacht wurde: auf Landstreicher, Bettler, steckbrieflich gesuchte Verbrecher und vor allem auf Deserteure.

In den «Avertissements» der Magdeburgischen Zeitung wurden im Januar und Februar 1788 als verloren, entlaufen oder vermisst gemeldet: zwei Hunde, ein Pferd, ein Spazierstock, eine Uhr, ein Arbeitsbeutel und ein Achselband. Ein Jüngling gehörte nicht dazu. Das bedeutet nicht, dass man sich seinetwegen keine Sorgen machte. Aber, so dachte man wohl, wenn es ihm schlecht ergehe, werde er von selber heimkommen.

Wenn Zschokke beifügte, seine Abreise habe an einem «neblichten, kalten, doch schneelosen Wintermorgen» stattgefunden, so evozierte er eine Stimmung, die er in «Eine Selbstschau» noch verdichtete: «Die Geburtsstadt, mit ihrem schwerfälligen Wall- und Mauergürtel und darüber ragenden vielen Thürmen und Giebeln, verschwamm, Grau in Grau, hinter seinem Rücken. Unbekannte Landschaften, unbekannte Dörfer, Baumgruppen und Wandersleute, alle vom Reif versilbert, tauchten eins ums andre freundlich vor ihm auf im falben Duft.»3 Es war der erste Akt der Befreiung, die Lösung der Fesseln der Kindheit, die er von langer Hand vorbereitet hatte.

Er mietete ein Pferd und ritt durch das Krökentor aus Magdeburg hinaus, im Gepäck einige wenige Kleidungsstücke, sicherlich auch Bücher und Manuskripte und etwas Bargeld: ein kleines Darlehen von einer seiner Schwestern – vermutlich Christiana Faucher – und erspartes Taschengeld.4 Er fühlte sich «licht und frei, wie der Singvogel, dem Käfig entflattert», es war ihm zum Singen und Jauchzen zumute, «er hätte das weite Weltall mit den Augen eintrinken, jeden Bauer umarmen mögen».5 So jedenfalls deutete er in den Lebenserinnerungen die Erleichterung, als Magdeburg im Nebel verschwand. Hinter sich gelassen hatte er ein Leben, das andere für ihn bestimmten und das ihn zu ersticken drohte, zahllose Sticheleien und Kabbeleien, aber auch finanzielle Nöte und Hunger.

In seinem ersten Bericht nach Hause, den er, nach fast anderthalbjährigem Umherziehen, im Juni 1789 nicht an seine Angehörigen, sondern an Freund Behrendsen richtete, rechtfertigte er seine damalige Flucht: «Ich verlies Magdeburg sowol aus Mangel an guten Fortkommen und Bedürfnissen, als auch aus einer Art hypochondrischer Laune, welche mich noch izt zuweilen anwandelt. [...] Unbesonnenheit war mein Schritt nicht, mein wolüberlegter Plan der armen, sinkenden Tugend und des innern Stolzes, des Bewußtseins: sieh Unglüklicher, so mußt du immer elender werden, Herz und Geist verderben sehn, da du doch glüklicher sein könntest!»6

Sich nach Halle an die Universität zu begeben, war für den 16-Jährigen nicht ratsam. Es gab zwar keine Altersbeschränkung und ein Schulzeugnis war auch nicht erforderlich; es hätte aber einer schriftlichen Erlaubnis seines gesetzlichen Beistands bedurft, und die hatte er ihm ja versagt. Also wandte er sich nach Norden, nach Schwerin. Die Hauptstadt des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin lag knapp 25 deutsche Meilen (rund 180 km) von Magdeburg entfernt und unterstand nicht der Jurisdiktion Preussens, so dass Zschokke vor Häschern, die von Verwandten oder Gläubigern allenfalls gegen ihn in Bewegung gesetzt wurden, einigermassen sicher war, sobald er die Staatsgrenze überschritten hatte. Am zweiten Tag, als er bei Schnackenburg7 die Elbe passieren wollte, die hier von Ost nach West verlief, eine knappe Reitstunde vor der Grenze des Kurfürstentums Brandenburg, bildete er sich ein, aus vier oder fünf heiseren Kehlen seinen Namen rufen zu hören, und meinte endlich auch, «die garstigen Kerls» zu erblicken.8 Aber es waren nur seine überreizten Nerven.

Noch am selben Abend, endlich im Ausland, als er in Grabow in einem Gasthof einkehren wollte, ereignete sich ein sonderbarer Vorfall. Die Wirtin empfing ihn bei hereinbrechender Nacht mit Umarmungen und Küssen, als ob er ihr lange vermisster Sohn sei, und als sie sich bei Licht ihres Irrtums gewahr wurde, überhäufte sie ihn weiterhin mit mütterlicher Zuwendung und Leckereien, ohne dafür am Schluss eine Rechnung zu stellen. Zschokke, seelisch ausgehungert, da ihn seit dem Tod des Vaters, «niemand mit Zärtlichkeit ans Herz gezogen hatte», erfüllte diese Begebenheit mit einem süssem Schauer. Er habe, schrieb er, in dieser Begegnung den Glauben an die Menschheit wieder gefunden.9

Anderntags traf er in Schwerin ein und ging unverzüglich zu Wachsmann, einem ehemaligen Mitschüler, der Schauspieler geworden war. Wachsmann hatte ihm eine Perspektive eröffnet, der Misere, dem Stumpfsinn seines bisherigen Lebens zu entrinnen, indem er ihm brieflich das schöne Leben eines Schauspielers geschildert hatte. Wachsmann hielt sich von 1788 bis 1791 in Schwerin auf und wurde in zweiten Rollen am Theater eingesetzt, während seine junge Frau als erste Liebhaberin in Opernstücken tätig war.10 Zschokke traf die beiden gerade beim Frühstück.

Wachsmann habe ihn zunächst herzlich empfangen, erzählte Zschokke, aber auf sein Anliegen, Schauspieler zu werden, bestürzt reagiert. Er habe ihn seines unbesonnenen Knabenstreichs wegen gescholten und aufgefordert, nach Magdeburg zurückzukehren, weil er sich seinetwegen keine Scherereien einhandeln wolle. «Du, ein Hofschauspieler!», habe er gehöhnt: «Was für eine Figur soll man denn aus dem kleinen Mann auf dem Theater schnitzeln? Einen Zettelträger, Lampenputzer, Statisten? Du bist für das Alles zu jung!» Zschokke verhielt sich wie in der Fledermausgeschichte: Er reagierte mit verletztem Stolz. Er habe Wachsmann einige sarkastische Bemerkungen zurückgegeben, sich verbeugt und sei weggegangen, ohne ihn jemals wiederzusehen.11

Es gab einen triftigen Grund für Wachsmann, nervös zu werden und auf Zschokkes Wunsch nicht einzugehen: Die Existenz des Schweriner Theaters und die Anstellung des Ehepaars Wachsmann waren zu jener Zeit gefährdet. Nach dem Tod des kinderlosen Friedrich I. (1717–1785), genannt der Fromme, der das Theaterspielen untersagt hatte, war sein lebenslustiger Neffe Friedrich Franz I. (1756–1837) als Herzog von Mecklenburg-Schwerin nachgerückt. Gleich nach dem Wechsel wandten sich die Direktoren verschiedener Theatergesellschaften an den Magistrat von Schwerin mit der Bitte, sich in der Stadt installieren zu dürfen. Die Bevölkerung war theaterbegeistert, doch die Behörde verzögerte den Entscheid, bis Friedrich Franz bekundete, dass er gegen das Theaterspiel nichts einzuwenden habe. Im November 1787 erhielt Gottfried Friedrich Lorenz, der sich schon einige Zeit in der Stadt aufhielt, die Konzession zur Eröffnung seiner Bühne.12 Lorenz spielte den Winter durch fünfmal wöchentlich und füllte jedesmal den Rathaussaal. Das sprach sich herum, und von allen Seiten trafen Schauspieler ein, die Lorenz anwarb oder von sich aus kamen, weil sie mit ihrer bisherigen Anstellung unzufrieden waren. Man befand sich mitten in der Saison; der Zustrom zu Lorenz und der Abgang von anderen Truppen führten zu Reibereien. Der Direktrice Marianne Köppi, die in Ratzeburg gastierte, liefen bis auf eine Ausnahme alle Schauspieler weg, so dass sie beim Schweriner Magistrat Klage auf Entschädigung einreichte. Sie drang nicht durch und kam ihrerseits nach Schwerin, um sich Lorenz anzuschliessen.

Als Zschokke in Schwerin eintraf, rumorte es am Theater gewaltig: Die Inhaber der Abonnemente fühlten sich durch Lorenz geprellt, weil er sie für die Aufführung des «Hamlet» extra bezahlen liess, und auch einige Schauspieler lehnten sich gegen ihn auf, so dass er die Direktion Anfang Februar 1788 niederlegen musste. Im fliegenden Wechsel übernahmen zwei angesehene Schweriner Beamte, Kammerherr Graf von Bassewitz und Justizrat Wachenhausen, die Leitung über die mittlerweile zwölf Schauspielerinnen, vierzehn Schauspieler und acht weiteren Angestellten. Rollen für Jünglinge gab es wenige oder keine; Zschokke hätte weder als Kind noch als jugendlicher Liebhaber eine Chance gehabt. Zu letzterem war er eingestandenermassen zu klein.

Es war übrigens keine Seltenheit, dass Jünglinge aus bürgerlicher Familie von zu Hause davonliefen, um sich einer Schauspielertruppe anzuschliessen, angezogen von Glanz, Glamour und leichter Lebensweise. In Magdeburg hatten der Schriftsteller Joachim Christoph Friedrich Schulz, der Pädagoge Johann Gottlieb Schummel und der Bäckergeselle Carl Ludwig Costenoble (1769–1837) mit einer Theaterlaufbahn geliebäugelt. Costenoble, der in Magdeburg die Domschule und zur gleichen Zeit wie Zschokke die Friedrichsschule besuchte, war aber der einzige, der den Beruf tatsächlich ergriff.13 Die anderen (aber auch Costenoble) hatten Abenteuerlust, Unrast und die Aussicht auf ein angenehmes Leben mit viel Prestige in die Arme wandernder Theatertrupps getrieben.

Zschokke hatte seine ganze Hoffnung auf Wachsmann und seine Karriere als Schauspieler oder Schauspieldichter gesetzt; er kannte in Schwerin sonst keinen Menschen. Was sollte er jetzt tun? Ein glücklicher Zufall kam ihm zu Hilfe. Ein Kanzlist namens Fahrenheim hatte seinen Auftritt bei Wachsmann miterlebt und sich darüber amüsiert; er sprach ihn auf der Strasse an, bot ihm bei sich eine Unterkunft an und führte ihn bei Hofbuchdrucker Bärensprung ein.14

HAUSLEHRER BEI BUCHDRUCKER BÄRENSPRUNG

Schwerin war ganz anders als Magdeburg: weniger puritanisch und martialisch, mit einem Hang zu Vergnügungen und Luxus und altmodisch verzopft. Eingebettet zwischen zwölf Seen öffnete sich die Stadt dem Umland, verzichtete auf Haupt- und Nebenwälle, Bastionen und eine schwer befestigte Zitadelle, besass dafür ein verlottertes Schloss, damals unbewohnt, so dass sich das Volk im Park vergnügen konnte. Die Stadt zählte, Schelf- und Vorstadt einbezogen, rund 7000 Einwohner.15 Industriell betriebenes Handwerk gab es kaum; der Handel war bescheiden und wurde vor allem durch Juden besorgt. Es gab 91 Schuhmacher, 19 Perückenmacher und Friseure, 8 Goldschmiede, aber nur 2 Tuchmacher.16 Eine der Haupteinnahmequellen war die Landwirtschaft.

Die Beamten, Hofleute und der Adel gaben den Ton an. Man schätzte sie auf 1500 Personen. Reisende stellten eine «scharfe Absonderung der Stände bis ins Kleinste, ja Komische und Widersinnige» fest. «Besonders der Adel schloß sich gänzlich von der bürgerlichen Gesellschaft, den Kaufleuten und Gelehrten, ab.»17 Es wimmelte von Juristen: Um die Jahrhundertwende zählte Schwerin 37 Advokaten und 19 Notare.18

Wilhelm Bärensprung (1737–1801) besass eine Buchdruckerei an der Bergstrasse 164, mitten in der Schelfstadt, einer bevölkerungsmässig aufstrebenden, aber ruhigen Gegend Schwerins, in der Nachbarschaft von Fischern und hohen Beamten. Er führte einen traditionellen Provinzverlag mit juristischen, kameralistischen, ökonomischen, theologischen und Gelegenheitsschriften, die meist nur regionale Beachtung fanden und weder hohe Auflagen erzielten, noch viel Gewinn abwarfen. Den attraktiven Markt mit Unterhaltungsliteratur und klingenden Namen überliess man den Preussen oder Sachsen, und in den Wissenschaften hatte die Universitätsstadt Rostock die Nase vorn.

Mit der üblichen mecklenburgischen Verzögerung hatte auch hier die Aufklärung Einzug gehalten; sie war in der typischen Ausprägung der Volks- und Bauernaufklärung in voller Blüte, als Zschokke nach Schwerin kam. Die Landwirtschaft war geprägt von einer Gutsherrschaft mit leibeigenen Bauern. Die Alphabetisierungsrate war erschreckend tief,19 die Prügelstrafe weit verbreitet und fest im Justizsystem verankert, in den Varianten Knotenpeitsche (für Arbeiter, Knechte und Gesellen) und Rute (für harmlose Vergehen und Kinder).20 Frauen wurden nicht durch Auspeitschen bestraft, sondern mit einem Halseisen an den Schandpfahl gebunden.21 Die Strafrechtsund Agrarreformer hatten noch einen weiten Weg vor sich. Das Thema Reform lag in der Luft, aber man war in dieser Ecke Deutschlands am Vorabend der Französischen Revolution meilenweit davon entfernt, die Frage des Naturrechts und der allgemeinen Menschenrechte philosophisch anzugehen. Bärensprung liess einige vorsichtig aufklärerische Werke in seinem Verlag erscheinen, die sogleich auf heftige Kritik stiessen. Es ist zu vermuten, dass Zschokke, der durch seine Beschäftigung für Bärensprung in die Auseinandersetzung einbezogen wurde, hier eine erste Anregung für sein späteres Engagement in Bauernfragen empfing. Nachdrücklicher auf ihn wirkte wohl ein Druckauftrag, den Bärensprung zwischen Herbst 1787 und Sommer 1788 ausführte.

Der Publizist und Pädagoge Rudolph Zacharias Becker (1752–1822) und sein Verleger Georg Joachim liessen nach vierjähriger Vorbereitung und intensiver Werbung 1788 ihr «Noth- und Hülfs-Büchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim. Für Junge und Alte beschrieben» (Gotha und Leipzig) in Grossauflage erscheinen.22 Um die Herausgabe zu beschleunigen und die Transportkosten zu verringern – das Werk sollte trotz eines Umfangs von 476 Seiten und 49 Holzschnitten nur vier Groschen kosten –, arbeitete man mit vier über Deutschland verstreuten Druckereien zusammen, darunter Bärensprung in Schwerin, der 5000 der 30 000 Exemplare der Erstauflage übernahm.23 Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein» wurde zu einem Standardwerk der Volksaufklärung, wobei man unter dem Volk hier die Bauern verstand. Becker wollte sie in ihrem Alltag unterstützen, zu einer effizienteren Produktionsweise und einem sittlich-frommen Leben erziehen.

Wilhelm Bärensprung war gesundheitlich angeschlagen, als er den für seine Verhältnisse grossen Druckauftrag erhielt, und erst recht, als er Ende Januar 1788 Zschokke in seine Dienste nahm. Er brauchte einen Hauslehrer für seine Söhne und in der Druckerei eine Hilfskraft. Für beides war Zschokke geeignet, und er nahm die Stelle bereitwillig an, wenn sie ihm auch nur ein bescheidenes Gehalt mit Familienanschluss im Haus seines Arbeitgebers einbrachte. Jetzt war er finanziell unabhängig, und er benachrichtigte seinen Vormund, er werde sich die nächsten beiden Jahre aus eigener Kraft durchschlagen und danach an die Hochschule gehen. Bis dahin solle er ihm die Zinsen seines väterlichen Erbes zurücklegen.24

Andreas Schocke erhielt von Vormund und Verwandten den Auftrag, den entlaufenen Bruder einzufangen. Da weder bittende noch drohende Briefe fruchteten, erschien er persönlich in Schwerin, und es gelang ihm, Heinrich «mit den süssesten Lokkungen» zu überreden, ihn nach Magdeburg zu begleiten. Unvorsichtigerweise verriet er ihm unterwegs seine Absichten, und so entwich Heinrich in Lenzen, einem Städtchen am Nordufer der Elbe unweit von Schnackenburg, und kehrte nach Schwerin zurück.25 «Man überließ endlich den ‹halsstarrigen Taugenichts› seinem Verhängniß.»26


Die Hofbuchdruckerei von Wilhelm Bärensprung, wo Zschokke 1788 als Hauslehrer und Mitarbeiter im Verlag tätig war und wohnte, befand sich an der Bergstrasse 164 (später 38) in der Neustadt. Das hier gezeigte Nachbarhaus Bergstrasse 40, das bei dieser Aufnahme (2007) abbruchreif war, ein dreistöckiges Fachwerkhaus mit Walmdach und einer grossen Toreinfahrt, dürfte Bärensprungs Druckerei geglichen haben, wenn diese auch etwas schmaler und niedriger war.

Zschokkes Zöglinge, die er «in den Anfängen der lateinischen Sprache, Geschichte, Geographie u. s. w. unterrichtete»,27 waren Christian Johann Wilhelm (1772–1803) und Georg Diedrich Christian Franz Bärensprung (1775–1796). Wilhelm junior sollte demnächst bei seinem Vater eine Buchdruckerlehre absolvieren, sich dann auf Wanderschaft begeben, um in anderen Druckereien zu arbeiten. Bevor er den väterlichen Betrieb übernehmen konnte, sollte er sich noch etwas bilden, wofür ihm sein Vater aber die öffentlichen Schulen nicht zumutete. Sein Bruder Georg brauchte noch Basiswissen, das ihm ebenfalls Zschokke beibrachte.

Zschokke erwähnte nur diese zwei Knaben, Wilhelm und Georg, obwohl noch vier Schwestern und ein kleiner Bruder da waren.28 Die beiden Schüler hingen mit grosser Liebe an ihrem Lehrer und weinten, Zschokke mit ihnen, als er im November fortzog. Dass er mehr als nur Schulstoff vermittelte, zeigt eine Widmung, die Georg ihm 1796 von seinem Sterbebett aus in die Schweiz schickte: ein Porträt mit dem Text «Hir blüht Dein Staub noch!», das Zschokke als Reliquie aus ferner Vergangenheit aufbewahrte.29 Der jüngste, damals noch nicht geborene Bruder Justus Christoph Heinrich (1789–1832) besuchte Zschokke 1811 in Aarau. Als er ihn auf seinen Aufenthalt in Schwerin ansprach, erfuhr er, dass Zschokke «aus diesem Zeitraume seines Jugendlebens manches aus dem Gedächtnisse entschwunden sei».30 Man kommt zum Schluss, liest man die «Selbstschau», nicht nur manches, sondern fast alles hatte er von Schwerin vergessen, abgesehen von der Landschaft, die er schwärmerisch besang.31

Auch zu dieser Phase in Zschokkes Leben sind die Informationen spärlich, und es ist nicht gesagt, dass wir hinreichende Kenntnisse haben, um wichtige Ereignisse und Entwicklungen nachzuvollziehen. So schrieb Zschokke, dass er sich in der Druckerei als Korrektor betätigt habe.32 Er könnte dabei mit Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein» in Berührung gekommen sein. Die gedruckten Bogen kamen einzeln, unmittelbar nach ihrer Fertigstellung, aus der Druckerei in Gotha nach Schwerin und mussten nach der Vorlage neu gesetzt, korrigiert und gedruckt werden. Dabei erhielten die regionalen Ausgaben eine eigentümliche Ausprägung;33 Bezeichnungen und Namen wurden moderat dem jeweiligen Idiom angepasst: Sauerkraut wurde in Mecklenburg zu Sauerkohl, Schlozer zu Büdeltitt, der Pfarrer zum Pastor und die Bauern Görge und Nickel zu Jürgen und Niclas. Es gibt in «Eine Selbstschau» an dieser Stelle keinen Hinweis auf Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein». Da Zschokke seiner Tätigkeit als Volkslehrer – so der Titel des fünften Kapitels im vierten Buch – besondere Aufmerksamkeit schenkte und Becker anderswo zweimal erwähnte, wäre dies aber zu erwarten gewesen. Wahrscheinlicher aber ist, dass er andere Dinge korrigierte und man das «Nothund Hülfsbüchlein» einem bewährten einheimischen Korrektor überliess, der wusste, wie eine beliebte Mehlspeise in Mecklenburg hiess, nämlich Klümpen statt Klösse.34

Zschokkes wichtigste Arbeit bei Bärensprung war die Gründung der «Monatsschrift von und für Mecklenburg», die ihn unter anderem dazu veranlasste, sich mit Land und Leuten auseinanderzusetzen.

MONATSSCHRIFT VON UND FÜR MECKLENBURG

Mit kaum 17 Jahren projektierte Zschokke seine erste Zeitschrift und setzte bei Bärensprung die grösste Innovation der vergangenen zwanzig Jahre in Gang. In «Eine Selbstschau» wird dies fast nur beiläufig angemerkt: «Ich [...] entwarf [...] die Herausgabe einer ‹Monatschrift von und für Mecklenburg›, welche wirklich nachher, unter Leitung eines Professors Wehnert, ans Licht trat.» In welchem Ausmass Zschokke daran beteiligt war, kann dank einigen bisher nicht bekannten Dokumenten präziser beantwortet werden, als die Mecklenburgische Pressegeschichte dies tut35 und es Carl Günther möglich war.36


Ankündigung der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» in der «Schwerinschen Zeitung, von den merkwürdigsten Staats-Geschichten» vom 17. April 1788 durch Zschokke und Wilhelm Bärensprung. Hier die Vorderseite des Prospekts.

Mitte April 1788 erschien in der «Schwerinschen Zeitung» ein Prospekt, der vom eigentümlichen Stil Zschokkes geprägt ist:37

«Ankündigung eines Journals von und für Meklenburg.

Oft überdenken wir in einsamen Feierstunden die Geschichte unsrer und der Vorzeiten; überdenken ernsthaft was wir izt sind und was wir einst waren; sehn, wie von Stufe zu Stufe der menschliche Geist allmälig sich und andre um ihn vorhandene Gegenstände, erhöhte und polizirte; werfen dann einen, wiewohl nur matten Blik in die verschleierte Zukunft und stille Ahndungen steigen alsdann in unsrer Seele auf. – Solche Stunden sind oft die süssesten des ganzen Tags. Dann sezzen wir uns zu einem kleinen, freundschaftlichen Kreise und ergiessen unsre Empfindungen. Warme Vaterlandsliebe belebt unsern Geist, und Feuer des Patriotismus giebt unsern Worten Kraft und Energie. –

Aber warum erwerben wir uns solcher Stunden nicht mehr? – warum fachen wir den glimmenden Funken der Liebe fürs Vaterland nicht mehr in uns an, ihr Meklenburger! wessen ist die Schuld? –

Schon vieles wurde über die Mittel, Vaterlandsliebe zu erwekken, geschrieben, aber immer bleibt doch das bewährteste folgendes: daß man ein Volk mit sich selber bekannter machen, ihm Vorzüge und Fehler seiner selbst offenbaren und Gefühl und Geschmak für das wahre Schöne in ihm ausbreiten mus.

Wir haben uns vorgenommen diesem Ziele entgegen zu arbeiten; Liebe für Fürsten, Obrigkeit und unsern väterlichen Heerd zu befördern; unsre Mitbürger mit Kenntnissen, die auf Geist und Karakter gleichen Einflus haben, zu bereichern, mit Kenntnissen, die theils aus der Vaterlandsgeschichte, theils aus der Natur desselben hergenommen sind. – Damit wir aber allgemeiner und nuzbarer werden, wollen wir unsrer Schrift die Gestalt eines Journals, einer Monatsschrift geben, weil diese Art Schriften in unserm Decennio die beliebteste und gewöhnlichste ist.

Wir werden hierinn die Geschichte Meklenburgs angenem und im erzälenden Tone fragmentarisch vortragen; dies für den edlen, patriotischen Meklenburger, der lüstern nach der Kronik seines Vaterlands ist. Ein Gedanke, ein Wunsch, der schon einmal in der Monatsschrift für Kinder und ihre Freunde (2ten Jahrgangs 2tes Stück pag. 100) geäussert wurde. Ferner sollen politische Aufsäzze mit statistischen, litterarische mit philosophischen, biographische mit moralischen abwechseln, so, daß der einsame Denker und Weise eben so wohl, als der Geschäftsmann, Bürger und die Dame an ihrer Toilette, Stoff zum Nachdenken und Vergnügen für sich finde. Auch werden wir Poesien in unser Werk aufnemen, doch müssen sie Produkte eines Meklenburgischen Dichtergenies sein und sich durch Wiz und Eleganz empfelen. Aber dies soll uns nicht fesseln ausländische Meisterstükke, welche mittel- oder unmittelbaren Bezug auf unser Vaterland haben können, mit einzurükken.

Vorzüglich ersuchen wir Meklenburgs Adel, Ämter und Städte uns mit Urkunden, Diplomen, Mortalitätstabellen, und andern, für Vaterlandsgeschichte, Polizei, Statistik und Topographie interessante Nachrichten mitzutheilen. Dankbar werden wir uns bestreben, sowohl für das Intresse der Einsender, als für unser eigenes, den besten Gebrauch davon zu machen. Manchem Amte, mancher Stadt mangelte vielleicht Gelegenheit auf eine gute Art alte Gerechtsame, Vortheile und Vermächtnisse durch öffentliche Bekanntmachung gegen Untergang und Vergessenheit desto besser zu schüzzen – hier zeigt sie sich!

Überhaupt jeder eingesandte Aufsaz soll uns willkommen sein, sobald er uns unserm Zwekke näher leitet – der wärmste Dank sei dem edeln, patriotischen Verfasser und Unvergeslichkeit seines Namens! –

Doch genug! – wir scheiden, lieben[!] Leser; schlägt ein Herz für Meklenburg und Meklenburgs Söhne in euch, so seid uns günstig! –

Herausgeber.»

Das erste Heft werde nach Ablauf der Subskriptionsfrist in der zweiten Hälfte Mai in einem Umfang von fünf bis sechs Bogen (80 bis 96 Seiten) herauskommen, erklärte der Verleger. Bärensprung wollte mit der neuen Zeitschrift nicht zu viel riskieren; Zschokkes Plan schien ihm Gewähr zu bieten, sowohl Leser als auch Mitarbeiter dafür zu gewinnen. Die Zeit war knapp bemessen; deshalb ist anzunehmen, dass das Organisatorische bereits geregelt war und erste Beiträge vorlagen, als die Ankündigung erschien. Für die Redaktion war eine nicht genannte Schweriner Gesellschaft zuständig, von der zunächst nichts weiter bekannt ist, als dass Zschokke ihr angehörte. Vermutlich waren es vorwiegend junge, kulturell interessierte Männer.

Kaum war der Prospekt veröffentlicht, meldete sich aus dem vierzig Kilometer entfernten Parchim der Rektor der Stadtschule Johann Christian Martin Wehnert (1756–1825). Er habe seit längerer Zeit ebenfalls eine vaterländische Zeitschrift geplant und Mitarbeiter um sich geschart, ja er sei gerade daran, das Publikum darüber zu orientieren.38 Da die beiden projektierten Zeitschriften sich wie Zwillingsschwestern glichen, schlage er vor, sie zusammenzulegen. Auch wenn es den Zeitplan verzögerte, entschloss sich Bärensprung, mit Wehnert zusammenzuarbeiten.39 Er traf mit ihm eine Vereinbarung, wonach er die Redaktion übernehmen und alle Beiträge begutachten sollte. Die erste Ausgabe der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» sollte Ende Juli erscheinen. Wehnert erhielt die von Zschokke geschriebenen oder redigierten Artikel zu den ersten beiden Heften zugestellt, entwarf einen neuen Plan für die Zeitschrift, der ihm zweckmässiger schien als der alte, wandte sich an die Regierung mit der Bitte um Portofreiheit und um Mitteilung aller Verordnungen, durch deren Abdruck er seinem Blatt einen besonderen praktischen Wert beizulegen gedachte,40 schloss die Aufsätze aus Schwerin in seinem Schreibtisch ein und verreiste mit seiner jung angetrauten Frau zur Erholung nach Bad Pyrmont.

Bärensprung war nicht gewillt, den Beginn der Zeitschrift noch weiter zu verschieben, also wandte er sich an seinen Nachbarn, Hofrat Ernst Friedrich Bouchholtz (1718–1790), «der die Gefälligkeit für ihn hatte, aus den wenigen bey im vorräthigen Aufsätzen das erste Stück zu arrangiren».41 Das nahm Wehnert Bärensprung sehr übel. Auf die Vorhaltungen, er habe sich ja nicht um die Zeitschrift gekümmert, rechtfertigte sich Wehnert, das ihm Zugeschickte habe nicht getaugt:

«Die mehrsten Aufsätze waren von einem brausenden Jüngling – waren Schaale ohne Kern; und die wenigen andern brauchbarern von einem oder dem andern Verfasser, waren schon von diesem jungen Menschen mit einer leidigen Censur, – (wenn man anders das höchst unreife Urtheil eines unbärtigen Jünglings Censur nennen kann:) – gestempelt, mithin der Aufnahme und Erscheinung im Publikum nicht ganz würdig erklärt.»42


Abschiedsgruss von Georg Bärensprung, Zschokkes Schüler, der im Alter von 21 Jahren starb. Der Sinnspruch deutet auf eine gemeinsame Erinnerung; Zschokke verwendete «Staub» als Metapher für Vergänglichkeit häufig in seinen Gedichten.

Auch wenn Zschokke diese kränkende Einschätzung seiner Person, seiner publizistischen Leistung und seines Urteilsvermögens nicht oder erst später las, konnte er schon daraus entnehmen, wie geringschätzig Wehnert von ihm dachte, dass er kaum einen Beitrag von ihm aufnahm. Weil Wehnert sich die alleinige Entscheidung ausbedungen hatte, was erscheinen sollte und was nicht, war Zschokke ausgebootet, kaum hatte er die Zeitschrift lanciert und in die Wege geleitet. Den weiteren Verlauf konnte er nicht mehr beeinflussen.

Wehnert wird stets als eigentlicher Gründer und erster Redakteur, ja als «die leitende Seele des Ganzen»43 angegeben – das stimmt nicht. Angestossen und vorbereitet wurde die Zeitschrift von Zschokke und Bärensprung. Wehnert stiess später dazu, übernahm nach Anfangsschwierigkeiten für ein Jahr die Schriftleitung, vermochte die Vereinbarung, «für hinlänglichen Vorrath an Manuscripten zu sorgen», aber nicht zu erfüllen. Bärensprung musste mit eigenem Material und Beiträgen aushelfen, um die Zeitschrift jedes Monatsende im vorgesehenen Umfang herauszugeben. Er stützte sich weiterhin auf die «Schweriner Gesellschaft», die sich aber Wehnerts Rotstift nicht unterziehen wollte und wohl mit Recht befürchtete, ihre Aufsätze könnten seiner rigiden Haltung zum Opfer fallen. Dadurch bekam Wehnert eben doch nicht alle Beiträge zu Gesicht. Ein Grund für Koordinationsschwierigkeiten war bestimmt auch die räumliche Distanz zwischen Druckort und Redaktion.

Es ist nicht ganz einfach festzustellen, ob und welche Beiträge von Zschokke stammten. Carl Günther ist geneigt, ihm die «mit ‹– – z› gezeichneten, unreifen Rezensionen und ‹Briefe über die Aufklärung›» zuzuschreiben.44 Deren Autor war aber der Güstrower Lehrer Johann Christian Friedrich Dietz (1765–1834), der schon als 15-Jähriger «Aufsätze eines Jünglings» (Rostock 1780) und als 18-Jähriger «Vermischte Bemerkungen über die Sitten. Litteratur und Aufklärung Mecklenburgs» in Winkopps «Bibliothek für Denker und Männer von Geschmack» veröffentlicht hatte.45 1786 gab er in Güstrow die Zeitschrift «Mecklenburgisches Museum» auf eigene Kosten heraus, deren erstes Heft er unter das Motto stellte: «Jeder deutsche Mann, der seine Fesseln fühlt, rassele damit dem Bösewicht um’s Ohr, und zerschlage sie, wenn’s möglich ist, an seiner Stirne.» Die Widmung lautete: «Allen Deutschen, vorzüglich Mecklenburgern, welchen Aufklärung, Tugend und Glückseligkeit der Menschen am Herzen lieget, gewidmet.»46

Um Zschokkes Beiträge zu identifizieren, müssen Inhalt und Stil untersucht und Bezüge zur Magdeburger Zeit oder zu seinen späteren Publikationen hergestellt werden. Man darf auch sein Alter nicht ausser Acht lassen, jene jugendliche Unbekümmertheit und Frische, die seine frühen Arbeiten auszeichnen, die Denkart, den Erfahrungshintergrund, die Interessen und den soziokulturellen Kontext.

Im ersten Heft der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» liest man den «Brief eines mecklenburgischen Bauersmannes an den Verfaßer der Mecklenburgischen Kalender, besonders des sogenannten Schillingskalenders»47 von einem Friedlieb Ehrlich, Bauer zu Pampow. Das war, allein schon dem sprechenden Namen nach, ein fingiertes Schreiben. Ehrlich (vermutlich Zschokke) kritisierte den neuen Volkskalender und erläuterte, wie er seiner Meinung nach aussehen sollte: ohne die obligaten (tausendjährigen) Wetterprognosen und die Fahrpläne der Postkutschen, in die sowieso kein Bauer steigen würde, dafür mit Wirtschaftsregeln, «so eine Art von Garten- und Ackerkalender», mit unterhaltenden und belehrenden Beiträgen, um die «jämmerliche Unwissenheit unter uns Leuten» zu bekämpfen. «Mit großem Nutzen lasen wir auch, was 1777 von dem Kometen gesagt ward, vor dem wir uns sonst so sehr fürchteten.»

Der Autor dieses Briefes schlüpfte in das Kostüm eines einfachen, aber redlichen Bauern, versetzte sich in seine Welt, seine Bedürfnisse und Sorgen, und bediente sich einer einfachen, aber durchaus humorvollen Sprache, zeigt sich lernfähig, dem Neuen gegenüber aufgeschlossen, ausgerüstet mit einem wachen, gesunden Menschenverstand. Er wusste allerdings mehr, als er eigentlich wissen durfte, denn er bezog sich auf Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein», das zu jener Zeit noch gar nicht ausgeliefert war. Zu Becker meinte er nämlich, dass nicht alle seine Ratschläge probat (brauchbar) seien oder stimmten.48 Falls der Beitrag von Zschokke stammt – und vieles spricht dafür –,49 wäre es der früheste Hinweis seines Interesses am Wohl der Landbevölkerung und seiner lebenslangen Tätigkeit als Volksbildner, stünde in einer Kontinuität mit dem Schweizerboten (1798–1836), dem «Schweizerboten-Kalender» (1805–1808) und dem «Goldmacherdorf» (1817) und wäre bereits erstaunlich klarsichtig.

Auch bei einem Gedicht, dem «Lied der Mecklenburgischen Truppen, als sie nach Holland marschirten», das im Septemberheft erschien,50 ist Zschokkes Autorenschaft wahrscheinlich. Bärensprungs Sohn Justus schrieb, ohne dafür Belege zu bringen, von Zschokke seien einige Gedichte in der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» abgedruckt worden.51 Das «Lied der Mecklenburgischen Truppen» ist jenes, das am ehesten in Frage kommt.

Für Zschokkes schriftstellerische Tätigkeit in Schwerin finden sich weitere Beispiele. Als er die beiden Schüler seines Arbeitgebers in mecklenburgischer Geografie und Geschichte unterweisen sollte, stellte er fest, dass ein populäres Lehrbuch dazu fehlte und machte sich daran, selber eins zu schreiben. Als er von Schwerin abreiste, überliess er Bärensprung ein Manuskript von 114 Seiten mit dem Titel «Joh. Heinr. Zschokke’s Handbuch der Geographie von Mecklenburg, nebst einem Abriß der Geschichte dieses Landes. Für Schulen und Privatleser entworfen.»52 Zwei Ausschnitte daraus wurden von Justus Bärensprung 1830 in seinem «Freimüthigen Abendblatt» veröffentlicht:53 die Vorrede, in der Zschokke auch eine Literaturgeschichte Mecklenburgs versprach, falls sein Buch günstig aufgenommen werde, und der Abschnitt «Von Mecklenburg überhaupt». Zum Volkscharakter der Mecklenburger, schrieb er darin, könne er nichts anderes sagen, «als was schon in dem Journale von und für Mecklenburg (1stes Stück, 1788) gesagt wurde».54 Ein solcher Aufsatz findet sich aber nicht in dieser Monatsschrift, so dass man annehmen muss, dass es sich um einen unterdrückten Beitrag handelt, die Schale ohne Kern eines brausenden Jünglings, wie Wehnert gerügt hatte. Es gehörte tatsächlich einige Unverfrorenheit dazu, nach knapp vierteljährigem Aufenthalt seine Meinung über die Bevölkerung abzugeben und es ihr als Frucht ausgiebiger Beobachtung zu präsentieren.

Auch andere Bemerkungen strotzen vor Verallgemeinerungen, selbst wenn Zschokke ein Stück weit recht haben mochte, wenn er «das Steife, das kleinstädtische Komplimentirwesen, das Gezwungene, welches in Mecklenburg zuweilen noch in Gesellschaften herrscht», monierte. Das war ja auch anderen Fremden aufgefallen. Abgesehen von dem «unreifen Urtheil eines unbärtigen Jünglings» und einer gewissen Unbeholfenheit in Darstellung und Argumentation erstaunt die sprachliche Sicherheit, die Leichtigkeit der Formulierung, die das Schreibvermögen eines durchschnittlichen 17-jährigen Gymnasiasten übertrifft, auch wenn die stilistische Eleganz von später hier noch fehlt.

GEISTERSEHER UND BLUTRÜNSTIGE DRAMEN

Zschokke schrieb im Juni 1789 an Andreas Gottfried Behrendsen, er sei in Schwerin zum Scherz κατ ’εξοχην, der Dichter, genannt worden.55 Das bezog sich natürlich nicht auf sein «Handbuch der Geographie von Mecklenburg», sondern auf andere literarische Arbeiten und Projekte. Sich selber betitelte er damals als Gelehrter und unterschrieb den ersten Brief, den wir überhaupt von ihm kennen, als «J. H. Zschokke, Homme des Lettres, wohnhaft beim Hofbuchdrukker Hl. Bärensprung».56

Von diesem Brief mit der aufschlussreichen Unterschrift ist noch mehr zu sagen. Im Juni 1788 wandte sich Zschokke an den Hamburger Verleger Benjamin Gottlob Hoffmann (1748–1818), um sich zu erkundigen, ob er ein «Werkchen» mit dem Titel «Raritäten und Albertäten vom Einsiedler Karmela» bei ihm herausgeben dürfe.57 Die beiden Schreiben an Hoffmann sind das einzige private Zeugnis Zschokkes aus Schwerin, das uns Auskunft gibt, womit er sich im Sommer 1788 neben Schulegeben, Korrekturen und dem «Handbuch» sonst noch befasste. Das angebotene «Werkchen» sollte 18 Bogen (288 Seiten) stark sein, drei Fortsetzungen bekommen und in allem den «Charlatanerien» von Cranz gleichen, ausgenommen, dass es auf dessen Religionsspöttereien und Angriffe auf Männer von Verdienst verzichte, es sei denn auf solche, die, «mögt ich sagen, notorisch berüchtigt sind».

August Friedrich Cranz (1737–1801), ein ehemaliger preussischer Kriegsund Steuerrat, der seit 1781 als Schriftsteller in Berlin lebte, hatte sich mit seiner fünfteiligen «Gallerie der Teufel», die Zschokke in seinem Brief ebenfalls erwähnte, Geltung als Satiriker verschafft.58 Es war eine humorvoll-satirische, lustvoll fabulierende, pseudo-gelehrte Schilderung von Abenteuern und Streichen verschiedener Teufel in Politik und Hofleben, die zeigten, wo überall die Teufel oder Laster, die sie vertraten, Einfluss besassen. Als eine Art Fortsetzung lieferte Cranz «Charlatanerien in alphabetischer Ordnung»,59 worin er lexikonartig politische, theologische, gelehrte und künstlerische Begriffe und Berufe wie Arzt, Bibel, Justiz, Literatur, Lobreden, Militär, Nutzen, Orthodoxie, Rang, Urteil und Recht durchleuchtete, um den Anteil an Scharlatanerie zu messen, die er so definierte: «Gaukelspiele die wie lauter Wichtigkeiten aussehen und wo nichts dahinter ist».60 Mit besonderer Freude widmete sich der weltgewandte Aufklärer den Schwächen der Kirche, ihrer Diener und ihren Lehren.

Die Art, wie es Cranz gelang, in scherzhaftem Ton Wahrheiten auszusprechen und eine grosse Leserschaft zu gewinnen, ohne von der preussischen Zensur behelligt zu werden,61 hatte Zschokke beeindruckt. Seit dem vergangenen Sommer, schrieb er Hoffmann – also schon in Magdeburg –, habe er an diesem «Werkchen» gearbeitet, von dem er überzeugt sei, dass es «nach einer so langen Pause, welche unsre launigsten Schriftsteller machten, kein so ganz unwillkommenes Gericht sein soll und wird». Gegen ein mässiges Honorar von vier Reichstalern pro Bogen verspreche er, alle Folgebände «in der muntern Laune, mit den satyrischen Zügen und dem treffenden Wizze geschrieben zu liefern» wie den ersten Band. Falls Hoffmann einen Kupferstich beifügen wolle, werde er ihm einen sinnigen Vorschlag mit einer Zeichnung schicken. Er bat, der Antwort einen Verlagskatalog beizulegen.

Auf diese Antwort wartete Zschokke fast zwei Monate vergebens, dann schrieb er erneut.62 Er habe mit einigen durch ihre schriftstellerischen Arbeiten berühmten Männern ein Buch mit dem Titel «Narren-Kronik!» von 23 Bogen (368 Seiten in Oktav) verfasst, das sie an der kommenden Leipziger Messe veröffentlicht sehen möchten. Zu jeder Leipziger Messe (also im Frühling und Herbst) werde ein weiterer Band folgen. «Ich hoffe daß es Sensazion im Publikum erregen, und mit Vergnügen gelesen wird, eben so wol als Wekhrlins graues Ungeheuer oder die Chronologen.»

Die «Charlatanerien», mit denen sein Buch ursprünglich in allem Ähnlichkeit haben sollte, erwähnte Zschokke diesmal nur nebenbei. Der süddeutsche Publizist Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792) mit seinen beiden erfolgreichen Zeitschriften «Die Chronologen»63 und «Das Graue Ungeheuer»,64 die Zschokke in seinem zweiten Brief ansprach, war ein anderes Kaliber als Cranz. Er war ein noch streitbarerer Publizist, ein unabhängiger Denker, politisch engagiert und hatte in seinem «Almanach der Philosophie aufs Jahr 1783» Voltaire gerühmt und eine Bibliografie der Philosophie, das heisst des Unglaubens, aufgestellt.65

Zschokkes literarischen Projekte hatten in den zwei Monaten vom ersten zum zweiten Brief bedeutend an Ausdehnung und Umfang gewonnen. Die Anzahl Bände, halbjährlich geplant, sollte jetzt nicht mehr begrenzt sein. Aus den «Raritäten und Albertäten vom Einsiedler Karmela» waren «Raritäten und Albertäten meiner Zeitgenossen[,] ein alphabetisches Bruchstük von M. Paskwin» geworden, eine Anspielung auf Pasquino, jene antike Statue in Rom, an die früher Spottverse geheftet wurden, woraus sich der Begriff Pasquill ableitet.66

In seinen «Charlatanerien» hatte Cranz 1781 angekündigt, er werde, nachdem er in der «Gallerie der Teufel» die Laster der Mächtigen und in den «Charlatanerien» die Windbeuteleien der Prominenz zur Zielscheibe seines Spotts gemacht hatte, sich jetzt den Narren zuwenden. Das von Cranz vorgesehene «Narrenhospital»,67 in dem er Jesus Sirach als Arzt auftreten lassen wollte, nach dem Motto: «Die Ruthe auf den Rücken der Narren», kam nicht zustande, und jetzt wollte Zschokke offenbar die Lücke schliessen. Er traute sich zu, die menschlichen Schwächen und Dummheiten genauso beredt und witzig wie Cranz anzuprangern. Weil es so leicht daherkam, dachte er wohl, es sei auch leicht zu schreiben. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs hätte er dann wie Cranz weitere Bücher mit dem Vermerk auf das Erstlingsbuch erscheinen lassen, also «vom Autor der Narren-Kronik». Vorerst scheiterte der Plan allerdings an der Suche nach einem Verlag. Aber noch war nichts verloren, auch Cranz hatte seine wichtigsten Satiren im Eigenverlag veröffentlicht.

Acht Beiträge hatte Zschokke für seine «Narren-Kronik» vorgesehen, einige wohl als laufende Titel für eine ganze Serie: «Fragmente aus dem Taschenbuche des weisen Kadmorsurigand», «Raritäten und Albertäten meiner Zeitgenossen», «Mondlieder und Anecdoten» und «litterarisch kritischer Narrenprangen nebst Auszügen aus dem Buche v[om] Stein des Weisen». Man spürt allenthalben eine Anspielung auf Bekanntes. So hatte der jung verstorbene Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748–1776), Mitglied des Göttinger Hainbunds, viel beachtete Mondlieder gedichtet. Der Titel «Skizze einer Geschichte der Astrologie nebst ein[em] Abris der astrologischen Litteratur» nahm Bezug auf Zschokkes Tätigkeit für Reichards «Beiträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich». Es ist anzunehmen, dass die meisten Manuskripte schon vorlagen, denn Zschokke wartete nur auf die Zustimmung Hoffmanns, um sie ihm zuzusenden. Anders wäre es gar nicht möglich gewesen, den ersten Band noch zur Michaelismesse erscheinen zu lassen.

Er erhielt aber auch auf diesen zweiten Brief von Hoffmann keine Antwort. Die von ihm verschmähte «Narren-Kronik» brachte Zschokke auf einem anderen Weg doch noch in die Öffentlichkeit: «Über Ahndungen» wurde überarbeitet und als «An Rosais. Über Ahndungsvermögen und Schuzgeister» 1791 im ersten Band von «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen von Johann von Magdeburg» veröffentlicht. In vier Briefen beruhigt darin Johann von Magdeburg – ein Pseudonym Zschokkes – die Angst einer jungen Frau vor dem Eintreten böser Vorahnungen, vor Einbildungen und Wunderglauben.

«Der Hang zum Wunderbaren in unsern Tagen ist beinahe noch eben derselbe, der er in vorigen Jahrhunderten war, und hat zu seinem Ursprunge eben die Ursachen, als damals. Diese sind vorzüglich Mangel an tiefern Einsichten in die Mysterien der Natur [...].»68

Man merkt an den teils gelehrten Ausführungen und literarischen Verweisen, dass Zschokke sich theoretisch mit einem Thema auseinandersetzte, das ihn persönlich betraf, hatte er doch selber einmal an Magie, Dämonen und Geister geglaubt oder auf sie gehofft. Von den vier Dramen und sieben Romanen, den ungezählten Essays und Gedichten, die während Zschokkes Aufenthalt in Deutschland (bis August 1795) entstanden, ist «An Rosais. Über Ahndungsvermögen und Schuzgeister» die einzige Arbeit, welche in seine gesammelten Schriften Eingang gefunden hat.

Noch persönlicher wird Zschokke in einem Roman, den er im Brief an Hoffmann als «Wilhelm Walter, oder befriedigter Hang zur Magie, eine wahre iesuitisch-freimaürer[ische] Geschichte» bezeichnete. Es entstand daraus seine erste selbständige Veröffentlichung, «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten. Eine warnende Anekdote unserer Zeit von J. H. Zsch***», die 1789 im Verlag Oehmigke in Küstrin herauskam.69

Obwohl diese Erzählung erst im Folgejahr erschien, muss sie hier erwähnt und etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie in Schwerin (in Teilen wahrscheinlich bereits in Magdeburg) entstand und autobiografische Züge trägt. Gegen den Schluss wird in einer Fussnote auf Zschokkes «Narren-Kronik» verwiesen.70 Damit sind alle Zweifel ausgeräumt, dass dieser Kurzroman von 92 Seiten, den Adrian Braunbehrens vor zwanzig Jahren entdeckte und Heinrich Zschokke zuschrieb, tatsächlich von ihm stammt.71

Der erste Teil dieses Textes folgt zunächst Zschokkes eigenem Werdegang. Wilhelm Walter, in einer mittelgrossen deutschen Stadt geboren, verliert früh seinen Vater. Ihn faszinieren Märchen und Erzählungen in der Art von 1001 Nacht, wo dienstbare Geister vorkommen, und er wünscht sich eine Wunderlampe wie die von Aladin. Er liest, was ihm gerade in die Hände kommt, und als er in H* (Halle) sein Studium aufnimmt – hier trennen sich die Wege von Zschokke und Wilhelm –, vertieft er sich intensiv in magische Literatur. Als er die Nachricht erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt, will er sogleich nach Hause fahren, wird aber unterwegs von einem buckligen Männchen in einem grauen Rock aufgehalten, das Interesse für seine magischen Studien bekundet. Es schnallt den als Buckel getarnten Rucksack ab, holt Geld heraus und gibt es Wilhelm. Zu Hause findet er die Mutter bereits tot. Überraschend wird er vom Magistrat seiner Vaterstadt als Sekretär angestellt und erhält regelmässig Besuche vom geheimnisvollen Fremden, der ihn in den Geheimnissen der Magie unterweist.

Da sein nächtliches Studium seine Gesundheit unterminiert, erkrankt Wilhelm schwer. Freunde und Bekannte versuchen, ihn von seiner verhängnisvollen Sucht zur Magie zu befreien und in die Wirklichkeit zurück zu holen. Tatsächlich scheint es ihnen zu gelingen, bis Wilhelm wieder dem Fremden begegnet, der ihn zu einer Zeremonie des Geheimordens der Dreifaltigkeit mitnimmt. Um aufgenommen zu werden und einen höheren Grad zu erreichen, muss er ein Schweigegelübde ablegen und Prüfungen bestehen. Man schickt ihn mit einer Botschaft zur Schwesterorganisation nach W*. Ein Mädchen macht sich an ihn heran, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Er widersteht zwar ihren Schmeicheleien, aber nicht ihren Reizen, und schläft mit ihr.

Anderntags erwacht er im Gefängnis, wo er einer strengen Befragung unterzogen wird. Einen Monat lang wird er unter den härtesten Bedingungen festgehalten und immer wieder verhört, gibt sein Wissen aber nicht preis. Seine Inquisitoren, so stellt sich heraus, sind Brüder des Ordens und haben seine Standfestigkeit und Verschwiegenheit zu prüfen. Zu diesem Zweck wurde ihm auch eine Dirne zugeführt. Wilhelm hat mit Bravour bestanden; er soll für den Orden jetzt schwierigere Aufgaben übernehmen, erhält reichlich Geld und wird in die beste Gesellschaft eingeführt. Aber seine Gesundheit ist durch die Kerkerhaft völlig zerrüttet, und er stirbt im Alter von 31 Jahren. Ein Ungenannter findet seine Aufzeichnungen und beschreibt das Schicksal des bedauernswerten Schwärmers, zur Warnung für Leute, die wie er Adepten der Magie werden möchten.


Der schmale Roman «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten», der 1788 in Schwerin entstand, ist Zschokkes erstes selbständiges Werk. Es enthält autobiografische Anteile.

Die Erzählung steht im Umfeld von Zschokkes Tätigkeit für Elias Caspar Reichard mit dem Aber- und Wunderglauben seiner Zeit und fügt Elemente des damals noch jungen Genres des Geheimbundromans ein,72 eines Vehikels, dem sich ebenso viel aufladen liess wie dem Kriminalroman im nächsten Jahrhundert. Zschokke schrieb weitere Romane dieser Art; der vorliegende ist der unpolitischste und lehnt sich an die Andichtungen oder tatsächlichen Machenschaften des Grafen Cagliostro, der soeben von der päpstlichen Inquisition verhaftet worden war, der Rosenkreuzer, der Jesuiten und der Illuminaten an.

Zschokke gehörte mit den fast gleichaltrigen Ludwig Tieck (1773–1853) und E. T. A. Hoffmann (1776–1822) zu jenen Dichtern, die trotz Widerstand der Verwandten und der Schule und ungeachtet knapper finanzieller Mittel eifrig phantastische Literatur lasen und bald dazu neigten, selber solche Romane zu verfassen.73 In England besass diese Art von Literatur als «gothic novels» bereits eine Tradition.74 Marianne Thalmann spricht von einer literarischen Revolution, da diese jungen Menschen sich nicht mehr an literarischen Klassikern, sondern an Trivialliteratur orientierten.75 Der dort vorgefundene Stoff und die Motive liessen sich beliebig variieren und anreichern, um Spannungseffekte zu erzeugen. Der beliebteste deutsche Geheimbundroman, «von der jungen Generation bis zur Tollheit gelesen»,76 wurde «Der Genius», ein Vierteiler von Zschokkes Magdeburger Mitschüler Carl Grosse, der aber erst nach Zschokkes «Geister und Geisterseher» erschien, diesen Roman also nicht mehr beeinflussen konnte.77

Zschokke gab dem Verleger Hoffmann aus seiner «Narren-Kronik» vorderhand nichts zu lesen; stattdessen legte er das Manuskript eines Trauerspiels bei, mit der Erklärung, dass es an guten Trauer- und Lustspielen mangle, und Schauspieler ihm versprochen hätten, sein Stück in Schwerin aufzuführen. Nun stimmte es zwar, dass Hoffmann hin und wieder Dramen verlegte; die Aussicht auf eine Aufführung in Mecklenburg war aber sicher kein schlagendes Argument für ihn. Es scheint, dass Zschokke auch nicht unbedingt mit einer Zusage rechnete, aber von der Qualität seines im Sommer 1788 fertig gestellten Dramas überzeugt war und dem Brief mehr Gewicht verleihen wollte – auch im wörtlichen Sinn. Er scheue die Rezensenten nicht, von denen sich einige schon dazu geäussert hätten, schrieb er Hoffmann, deshalb sei er bereit, seinen Namen darunter zu setzen.

«Graf Monaldeschi» heisst das Drama, mit dem Nebentitel «oder Männerbund und Weiberwuth».78 Den Stoff hatte er einem Lexikon des Basler Professors Jakob Christoph Iselin (1681–1737) entnommen.79 Es ging darin um Königin Christina von Schweden (1626–1689), die gemäss Iselin wegen ihres italienischen Günstlings Monaldeschi auf ihren Thron und den protestantischen Glauben verzichtet hatte und 1656 mit ihm nach Frankreich reiste, wo sie aus kompromittierenden Briefen von seinem Verhältnis zu einer anderen Frau und seiner Verachtung für die Königin erfuhr. Darauf liess sie ihn auf Schloss Fontainebleau töten, was zu einer diplomatischen Verstimmung mit Frankreich führte. – Noch Jahrhunderte später wurden den Besuchern von Schloss Fontainebleau die Galerie gezeigt, wo diese Exekution stattfand, und das durchlöcherte Kettenhemd, das Monaldeschi dabei angeblich getragen hatte.80 Unter Weglassung der politischen Zusammenhänge, die auch bei Iselin nur angetönt sind,81 schrieb Zschokke ein bürgerliches Trauerspiel um Intrigen, Betrug und Verrat und konzentrierte sich auf Graf Monaldeschi, den er als Opfer von Machenschaften des Adels hinstellte. Monaldeschi verliebt sich in ein bürgerliches Mädchens, die Malerstochter Theresa, und will mit ihr eine Ehe eingehen, wird aber von der geballten Eifersucht der Königin und zweier Schurken, der Gräfin Kassandra de Karignan und des Marquis de Sida, zur Strecke gebracht. Kassandra vergiftet Theresa mit einem Glas Limonade, worauf deren Vater die Gräfin erdolcht. Zuvor aber hat die wahnsinnig gewordene Kassandra ihren Mord und die Fälschung der verräterischen Briefe Monaldeschis gestanden. Zu spät erfährt die Königin von ihrem Irrtum.

Die Literaturkritiker nahmen das Drama ungnädig auf. Man bemängelte, dass Zschokke Motive von Shakespeare, Schiller, Lessing und Meissner verwende, aber offenbar die Geschichte des Grafen Essex nicht kenne, dem unter der englischen Königin Elisabeth I. ein ähnliches Schicksal widerfahren war.82 Vor allem aber wurde beanstandet, es herrsche «ein unerträgliches Chaos von Verwirrung, und Lerm und Unordnung und eine äußerst verschrobne Kraftsprache darinn. Banditen treten auf; es wird entsetzlich gemordet, gerast; Geister erscheinen und die Sterbenden wälzen sich in ihrem Blute, welches gar fürchterlich auf dem Theater anzusehen seyn muß».83

Tatsächlich lauern bereits in der ersten Szene Meuchelmörder Monaldeschi auf, und es vergeht kein Akt, in dem nicht jemand seinen Dolch zückt, mit seiner Pistole auf einen anderen zielt, je nach Geisteszustand auf Freund oder Feind. Dabei überbieten sich die Frauen in ihrer rasenden Eifersucht und der abgefeimte Marquis de Sida an Schlechtigkeit. Grässliche Flüche werden ausgestossen, Himmel und Hölle angerufen und der Jüngste Tag heraufbeschworen. Durch blutrünstige Handlungen, schreiende und brüllende Personen, mit weit jenseits der Grenzen zum Wahnsinn angelegten Gefühlsausbrüchen wird das Publikum aufgeschreckt und in dauernder Anspannung gehalten.

Zschokkes «Monaldeschi» war eine Anklage gegen den korrumpierten Adel, der sich durch Geburtsrechte und Titel Ungerechtigkeiten und Übergriffe auf unschuldige Menschen erlaubte. Das Drama machte das Böse sichtbar und zwang die Zuschauer, aus einer Erschütterung heraus Stellung zu beziehen. Dabei ging es Zschokke gar nicht so sehr um eine Sozialkritik der gegenwärtigen Verhältnisse, denn das Stück ist ja in der Vergangenheit und in einem anderen Land verortet. Vielmehr war «Monaldeschi» ein Experiment, in dem er sein Theaterkonzept und die Zurschaustellung seelischer Ausnahmezustände erprobte. Zschokke griff tief in die Psyche der Personen ein: Er setzte sie extremen Situationen aus, in denen sie ihre Beherrschung verloren; das Publikum sollte dadurch in heftige Schwingung versetzt werden.

In seinem Aufsatz «Brief, aus dem Meklenburgischen», der Anfang Juli 1788 entstand, als «Monaldeschi» gerade fertig wurde, legte Zschokke seine dramaturgische Absicht offen. Das Wichtigste im Theater sei sein moralischer Nutzen. «Es scheucht mit Donnerstimme, mit Dolch und Gift, mit Fluch und verzweifelnder Wuth von der schwarzen Lasterthat zurück; malt die Tugend in süsser, liebenswürdiger Grazie vor, wie sie immer das Herz des unbefangnen Gefühlvollen am mehrsten bezauberte, und zeigt uns unsre Fehler und Schwächen in der lächerlichsten Gestalt.»84 Der Zuschauer soll sich wie in einem Spiegel selber erkennen und auf der Bühne mit den eigenen Schwächen konfrontiert werden:

«Wie oft hat nicht der Knauser im Parterr

Den Knauser auf der Bühne laut belacht.»

Zschokke zielte darauf ab, bei den Zuschauern Entsetzen und Rührung auszulösen, als Mittel zur moralischen Besserung. Nicht nur die Gebildeten erreiche diese Art der Erschütterung, sondern auch einfache Menschen, die keine Bücher läsen, «bis in die äussersten Glieder der menschlichen Gesellschaft, [...] bis zur Werkstelle des Handwerkers».85 Gutes Theater habe dieselbe Wirkung wie echte Religion: Es veredle und läutere die Menschen aller Klassen, mache den Tyrannen zum Fürsten und den Fürsten zum Vater. Daher solle man die dramatische Kunst genauso pflegen und schützen wie die Kirche. «Als mein Freund einst aus der Vorstellung von Kabale und Liebe zurückkam, und ich ihn fragte, woher er so spät käme? gab er mir zur Antwort: Aus der Kirche!»86 Eigentlich müssten Schauspieler genauso geachtet und besoldet werden wie Pfarrer, meinte er, «weil beyde Tugend predigen und heut zu Tage jene es öfters sogar mit glücklicherm Erfolge thun».87

Es lässt sich kaum verhehlen: «Monaldeschi» ist ein misslungenes Stück, was die Absicht und die Zschokke zur Verfügung stehenden Mittel betrifft. Zschokke kannte zwar die Dramen von Schiller und das eine oder andere von Lessing, hatte aber den Wandel zum bürgerlichen Trauerspiel, den Lessing mit «Miss Sara Sampson» (1755) und seinen theoretischen Schriften begründet hatte, noch nicht vollzogen, sondern war stark vom deutschen Barockdrama beeinflusst. In einem Versuch, den Dichter Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) zu rehabilitieren, rühmte er die «Urschönheit des Trauerspieles, auf ihre geheimnißvollen Mittel, Thränen der Wehmut zu erwecken, oder tiefes Grausen zu erregen».88 Zwei während Neros Gewaltherrschaft spielende Stücke von Lohenstein bezeichnete er als seine besten Dramen und zitierte daraus eine Folterszene und die Verführung Neros zur Blutschande durch seine Mutter Agrippina. Martin Schulz, der sich als bisher einziger Forscher mit Zschokkes Dramen und seiner Dramentheorie auseinandersetzte, findet diesen Aufsatz «ohne Wert» und meint, er werfe «ein wenig günstiges Licht auf das ästhetische Empfinden seines Verfassers». Und weiter: «Wieweit diese Ansicht in seinen eigenen Dramen zum Vorschein kommt, wird deren Untersuchung erweisen.»89

Zschokke zog aus Lohenstein die falschen Schlussfolgerungen und überschätzte dessen dramatische Wirkung. Statt die Zuschauer pflegsam zu behandeln und ihr Mitleid zu wecken, wie Lessing es vorschlug,90 putschte er ihre Gefühle auf und stiess sie ab.91 Eine Katharsis war so nicht mehr zu erreichen, und für den Kunstgenuss des gebildeten Publikums im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Verstand und ästhetisches Empfinden sowieso zu wenig einbezogen. Dennoch: Im wenig aufregenden bürgerlichen Theater jener Zeit verschaffte sich Zschokke, der noch echte Bösewichte auf die Bühne brachte, den Ruf eines Kraftgenies.

Auch wenn die Personen im «Monaldeschi» noch weitgehend aneinander vorbeireden, weil Zschokke die Kunst der Dialoge nicht richtig beherrschte, gab er den Schauspielern reichlich Gelegenheit, in unterschiedlichen Stimmungslagen zu agieren und sich exklamatorisch zu entfalten. Er schrieb ein aussergewöhnlich expressives Stück, für Zuschauer mit starken Nerven sicherlich ein Riesenspektakel. Schiller wohnte Anfang Januar 1791 einer Liebhaberaufführung in Erfurt bei; es wäre interessant zu erfahren, wie er das Stück empfand. Er habe, hiess es, den Gegenstand für eine künftige Bearbeitung in seinem Verzeichnis notiert.92

Bedauerlicherweise lernte Zschokke in dieser Hinsicht nicht viel dazu und variierte Themen und Mittel zu wenig, um das Potential seines Theaterschaffens in den elf Stücken, die er bis 1804 schrieb, auszuloten. Immerhin gelang ihm einige Jahre später mit seinem «Abällino» ein grosser Wurf, wobei er dem Versuch, das Publikum zu schockieren, eine neue Dimension gab.

IM TROSS EINES WANDERTHEATERS

Ob Zschokke das Theater in Schwerin häufig besuchte, wissen wir nicht. In dieser Zeit wurden «Emilia Galotti» und «König Lear» aufgeführt (beide zweimal), hintereinander drei verschiedene Versionen von «Figaros Hochzeit», «Romeo und Julie» als Singspiel von Gotter mit Musik von Georg Benda, Goethes «Clavigo» und «Der Graf von Essex oder die Gunst der Fürsten» von Johann Gottfried Dyk nach dem Englischen von John Banks. Beliebt waren Lustspiele mit publikumswirksamen Titeln wie «Der Eheprokurator oder Liebe nach der Mode» und «Die Wirthschafterin oder der Tambour bezahlt alles», Erfolgsstücke, die der Zerstreuung und Unterhaltung dienten, Vorstellungen die ein Ehepaar gemeinsam besuchen konnte, ohne Ungebührliches zu befürchten. Dieses Theater war weit von der moralischen Besserungsanstalt entfernt, die Zschokke und andere forderten.

Falls Zschokke also in Schwerin ins Theater ging, dann wohl selektiv und in der Absicht des Dichters, das für ihn erforderliche Rüstzeug zu erlernen, sein kritisches Urteil zu schärfen und sich mit schauspielerischen Möglichkeiten vertraut zu machen. Es gibt aber keinen Hinweis, dass er Theaterrezensionen für die «Monatsschrift von und für Mecklenburg» verfasste. Dagegen befreundete er sich mit dem Schauspieler Wilhelm Burgheim, Vater mehrerer Kinder, der ein angenehmes Äusseres mit einer schnarrenden Stimme verband.93 In Schwerin spielte er bevorzugt Offiziere und alte Geizige, seine Gattin (oder die Dame, die er dafür ausgab) Hilfsrollen.94 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute Burgheim Zschokke an, er heisse eigentlich von Schlabrendorf, sei Baron und von seiner Familie verstossen worden, weil er eine nichtadelige Geliebte aus dem Kloster entführt habe. Nun werde er mit unversöhnlichem Hass verfolgt und müsse sich inkognito und als Schauspieler durchs Leben schlagen.95 Diese romantische Geschichte rührte Zschokke; vielleicht erinnerte sie ihn an Graf Monaldeschi und seine Theresa – oder hatte Burgheim für Monaldeschi und die Liebe zu einer Bürgerlichen gar Modell gesessen? Dass Zschokke Burgheims Geschichte für bare Münze nahm, kommt uns naiv und überspannt vor, aber man muss seine Jugend, den Mangel an Lebenserfahrung und Burgheims selbstbewusstes Auftreten in Rechnung stellen. Trotz seiner Vorliebe für Rangprädikate und Titel, mit denen Zschokke, bei aller demokratischen Gesinnung, ein Leben lang kokettierte, war es nicht in erster Linie die Baronie, die ihn zu Burgheim hinzog. Burgheim war vielleicht der erste Mensch, der Zschokke ernst nahm, ihn als ebenbürtig, nicht wie ein Kind oder einen Schüler behandelte. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen und planten eine gemeinsame Zukunft: Burgheim als Theaterdirektor und Zschokke als sein Dichter und Sekretär.96 Offenbar vergassen sie über ihren Plänen, dass Burgheim ein einfacher Schauspieler war und nicht einmal über Macht und Mittel verfügte, Zschokkes «Monaldeschi» auf die Bühne zu bringen.

Burgheim gehörte zu den Schauspielern, die im November 1787 dem kleinen Trupp der Marianne Köppi entsprungen waren, um sich in Schwerin engagieren zu lassen. Im Herbst 1788 kündigten die Mitglieder der ehemaligen Köppischen Gesellschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt in Schwerin geblieben waren, und zogen mit einer neuen Truppe nach Prenzlau, der Hauptstadt der Provinz Uckermark. Es gelang Burgheim, Zschokke zur Mitreise zu bewegen, wozu es keiner grossen Überredungskünste bedurfte.97 Vermutlich empfand Zschokke den Aufenthalt in Schwerin zunehmend als Belastung, als ein Hindernis auf seiner Karriere zum Dichter und Gelehrten. Es reizte ihn, sich ganz seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen und die Produkte seiner Tätigkeit gewürdigt und aufgeführt zu sehen. Hierzu bot ihm Burgheim bessere Perspektiven als Bärensprung, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Zschokke beschrieb ein Jahr später Behrendsen sein Verhältnis zu Burgheim: «Ich war [...] fast täglich in seinem Hause – wir arbeiteten gemeinsam – ich konnt es ihm nicht versagen, ging mit und erhielt ausser 4 Rth.98 wöchentl[icher] Gage, freies Logis und Mittagsessen an seinem Tisch. Ich ging, nicht sowol als Schauspieler, denn hiezu war ich die Person nicht, sondern vielmehr als Dichter und Korrespondent seines Theaters mit, befand mich überaus glüklich dabei und er ist noch stets mein Freund.»99

Es wird nicht ganz klar, wer Direktor dieser Theatertruppe war. Zschokke behauptete, es sei Burgheim gewesen; offiziell firmierte sie aber, mindestens seit Februar 1789, als Hubersche Gesellschaft.100 Wandernde Gesellschaften waren bis um 1800 noch der Normalfall im Theaterwesen. Die meisten grossen Schauspieler wie Ekhof, Ackermann oder Schröder hatten ihr Debüt so erlebt und waren jahrelang mit einer Truppe herumgezogen.101 Später hatten sie selber solche Gesellschaften gegründet und geleitet, die, im Fall von Ekhof in Gotha, Schröder in Hamburg und Bellomo in Weimar, den Stamm einer stehenden Bühne bildeten. Solche fest installierten Theater mit eigenem Ensemble entstanden 1766 als Leipziger Schauspielhaus, 1774 als Gothaer Hoftheater, 1776 als Wiener und 1779 als Mannheimer Nationaltheater. Daneben zogen noch zahlreiche Theatergesellschaften mit ihren Prinzipalen in Deutschland herum; sie wurden aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts teilweise von den festen Bühnen übernommen, so die Carl Döbbelinsche 1795 vom Magdeburger Theater.

Nur Fürsten und wohlhabendere Städte mit kulturbeflissenen Mäzenen konnten sich ein stehendes Theater leisten. Es war normalerweise ein (kostspieliges) Zuschussunternehmen und griff die Privatschatulle des Fürsten oder die Steuereinnahmen der Stadt empfindlich an. Wandertheater waren preiswerter im Unterhalt. Man musste ihnen nur einen Saal zur Verfügung stellen und konnte erst noch an den Einnahmen partizipieren: durch Gewerbesteuern oder Vorstellungen, deren Erlös der Armenkasse zugute kam. Zudem belebte der Theaterbetrieb einheimisches Handwerk und Gewerbe, die Gastwirte, die Schneider, Schreiner und Maler für Kostüme oder den Kulissenbau. Das waren Vorteile, mit denen sich jede wandernde Truppe einem Magistrat beliebt zu machen suchte.102

Die Gesellschaften blieben, solange Interesse an ihren Vorstellungen bestand oder bis ihr Repertoire von vier bis sechs Stücken pro Woche durchgespielt war. Es konnte vorkommen, dass die Bürger mit den Aufführungen so unzufrieden waren, dass sie buhten, pfiffen, die Bühne stürmten und ihr Geld zurückverlangten. Dann hiess es für die Truppe, sich bei Nacht und Nebel davon zu stehlen und ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Theatergesellschaft von Burgheim machte diese Erfahrung wohl mehr als einmal. Sobald sich die Zuschauerreihen lichteten und die Tageseinnahmen schmolzen oder im Sommer, wenn es die Menschen ins Freie zog statt in einen schlecht gelüfteten Saal, wanderte die Truppe weiter, falls nicht ohnehin eine begrenzte Spieldauer vereinbart war. Zum Abschluss der Saison wurde gern noch eine Redoute gegeben, ein choreografierter Maskenball, bei dem sich biedere Bürger unter das lustige Schauspielervolk mischten.

Schon das Eintreffen einer fremden Theatertruppe mit ihren bunten Wagen war in kleineren Städten wie Prenzlau (weniger als 7000 Einwohner) ein Ereignis: kostümierte Menschen, die durch die Strassen ritten oder gingen und mit kurzen szenischen Darstellungen die Aufmerksamkeit auf sich zogen, Theaterzettel verteilten oder an die Hausmauern klebten und auch sonst für Wirbel und Trubel sorgten. Ihr Einzug muss oft Ähnlichkeit gehabt haben mit dem des Rattenfängers von Hameln: Eine grosse Kinderschar begleitete die Wagen, belagerte die Quartiere der Schauspieler, wartete gespannt vor dem Theater, wo die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, und begleitete sie auch wieder zur Stadt hinaus, falls die Truppe es nicht vorzog, sich in aller Frühe und unerkannt zu verziehen.

Dann rückte der Abend der ersten Aufführung heran: Die Leute strömten in den kerzenbeleuchteten Saal, der zum Bersten voll war. Für die Junker, Räte, höheren Beamten und anderen Honoratioren waren in der ersten Reihe Stühle aufgestellt, dahinter nahmen Bürger und Handwerksmeister mit Gattinnen Platz, den Rest füllte das Militär auf.103 Jugendliche hatten oft nur unter Anwendung einer List eine Chance hineinzugelangen: So schmuggelte sich Carl Ludwig Costenoble einmal als Bassist ins Theaterorchester.104

Das war die Kulisse für Zschokke, als er mit Burgheim und rund einem Dutzend Schauspielern im November 1788 von Schwerin abreiste und in drei Wagen – einen für die Frauen, den zweiten für die Männer und den dritten fürs Gepäck – in Richtung Prenzlau fuhr. Schon diese Reise war für den jungen Theaterdichter ein Abenteuer.105 Sein Umgang hatte bisher fast ausschliesslich aus Männern bestanden, und bis auf seine Schwester Christiana und seine Kindheitsgespielin Friederike Ziegener hatte er zum weiblichen Geschlecht keine Zuneigung empfunden, keine Frau in einer indezenten Situation gesehen. Nun aber lebte er auf engstem Raum mit Frauen zusammen, die, was ihr Benehmen oder ihre Alltagsgarderobe betraf, kaum Rücksicht auf einen prüden jungen Mann nahmen, sondern im Unterkleid am Brunnen ihre Röcke wuschen und sich vielleicht gar einen Sport daraus machten, den gehemmten Jüngling zu reizen oder in Verlegenheit zu bringen.

Hübsche junge Schauspielerinnen waren für jeden Theaterdirektor ein wichtiges Kapital, das er gezielt einsetzte. Ihr Auftreten füllte die Zuschauerreihen und überdeckte technische oder schauspielerische Mängel. Richtig ins Rampenlicht gebracht halfen sie dem Direktor, für seine Wünsche bei den Notabeln einer Stadt Gehör zu finden. Dafür mussten «die liebenswürdigen Theaternymfen», wie Zschokke sie einmal nannte,106 es sich gefallen lassen, von den Herren angehimmelt und zur Favoritin erkoren zu werden. Die Kehrseite beschrieb der Theaterkenner und -kritiker Johann Jakob Christian von Reck 1787 in seinem Buch über die Lage der Wandertheater: «Vom Theaterfrauenzimmer will ich gar nichts erwähnen, wer kennt sie nicht? – Wie selten findet man eine Ausnahme? [...] Liederlicher Lebenswandel, Ausgelaßenheit ist das gewöhnlichste.»107

Klagen über die frivole Lebensweise von Schauspielern finden sich in jener Zeit allenthalben. Reck führte das Übel darauf zurück, dass sich hier unter schlechten Arbeitsbedingungen «Barbiergesellen, Perükenmacher, Musketirs, von der Universität geloffene verführte Studenten und dergleichen Volk mehr» versammelten, die sich, der Verachtung der Öffentlichkeit preisgegeben, dadurch schadlos und über Wasser hielten, indem sie schmeichlerisch, betrügerisch und niederträchtig seien.108 Reck riet, solche Gesellschaften staatlich zu kontrollieren, den Schauspielern ihren Lebensunterhalt zu garantieren und sie so in das bürgerliche Wertesystem einzugliedern.

Ob gerade dieses Ungezähmte, Ungebärdige und leicht Verruchte Zschokke an seiner Truppe lockte, ist zweifelhaft; er konnte es sich nicht aussuchen. Einer nach dem Vorbild Recks regulierten Gesellschaft hätte er sich vielleicht lieber angeschlossen, aber die hätte ihn gar nicht in Dienst genommen. Das halbe Jahr in der fahrenden Gesellschaft war für Zschokkes Persönlichkeitsentwicklung aber von enormer Bedeutung. Er wurde selbstbewusster, verlor wenigstens zum Teil sein linkisches, schüchternes Benehmen und lernte sich im Umgang mit unterschiedlichen Menschen behaupten. Seine idealistische Vorstellung von Schauspielern als Trägern von Idealen verflüchtigte sich rasch,109 dafür eignete er sich Schlagfertigkeit, Wortwitz und eine ironisch gebrochene, rhetorisch überhöhte Redeweise an. Seine Vitalität, die bisher durch Bevormundung und Regeln gehemmt wurde, konnte sich hier freier entfalten. Er reifte vom Jüngling zum Mann, jedoch kaum in sexueller Beziehung; daran hinderte ihn seine Prüderie und Unbeholfenheit im Umgang mit Frauen. Was ihm aus dem Leben der Schauspieler relevant schien, schilderte er in «Eine Selbstschau»,110 in mehreren Zeitschriftenaufsätzen und in einem satirischen Roman über das Leben einer wandernden Theatertruppe.

Zschokkes Aufgabe bestand in Sekretariatsarbeiten und im Verfassen von Prologen und Epilogen. Er habe ausserdem, schrieb er, «ein Paar Saus- und Grausstücke» verfasst und andere Dramen bearbeitet oder gekürzt.111 Von solchen «Saus- und Grausstücken» ist, bis auf «Graf Monaldeschi», das aber schon früher entstanden war, nichts bekannt. «Graf Monaldeschi» ist auch das einzige Stück, von dem wir wissen, dass es aufgeführt wurde. Auch von Pro- und Epilogen ist keine Spur mehr vorhanden.

Die Prologe – der berühmteste der deutschen Literaturgeschichte ist zweifellos jener, den Goethe seinem «Faust» voranstellt – wurden beim ersten Auftritt der Gesellschaft in einer Stadt oder zu Anfang einer Aufführung vorgelesen oder deklamiert, um das Publikum anzuheizen, es auf das einzustimmen, was es zu erwarten hatte, und um anwesender Prominenz oder Gönnern zu schmeicheln. In gereimter Form war dies besonders effektiv. Hier lernte Zschokke schnelles Dichten für verschiedene Gelegenheiten, was ihm später zugute kam. Mit Genugtuung und Stolz wird er in der Nähe der Bühne gestanden und zugehört haben, wenn der Direktor oder ein ausgesuchter Schauspieler seinen Text rezitierte und die witzigen Redewendungen belacht und applaudiert wurden. Auch das Ausbuhen seiner Truppe blieb ihm nicht erspart, und so lernte er, wie eng im Theaterberuf Triumph und Misserfolg nebeneinander liegen.112

Zschokkes Haupttätigkeit für Burgheim lag in dem, was er «dramatische Schneiderkunst» nannte: Er hatte alte Dramen aufzufrischen, zu kürzen und anzupassen, bis sie dem Publikumsgeschmack und den Möglichkeiten der Truppe entsprachen. Ein Theaterdirektor war gut damit beraten, seinem Publikum Erfolgsstücke anzubieten, auch wenn sie sein Personal überforderten. Man brauchte auf den Handzetteln, die vor der Aufführung verteilt wurden, nicht zu verraten, dass Shakespeares «Hamlet» nicht in seiner integralen Fassung gezeigt wurde. Fehlte es an Schauspielern, um alle Rollen zu besetzen, war jemand ausgefallen und hatte der Ersatz nicht genügend Zeit, seinen Text zu studieren, oder war er nicht imstande, einen längeren Monolog zu sprechen oder in einem der damals beliebten Singspiele einen Gesangsteil zu übernehmen, dann hatte der Theaterdichter einzuspringen und ihm den Text nach dem Mund zu präparieren.113

Zschokkes Erscheinen in der Theaterwelt wurde zweimal poetisch nachgestellt: von Eduard Boas (1815–1853) in seinem Roman «Des Kriegscommissär Pipitz Reise nach Italien»,114 und von Paul Dahms im Aufsatz «Mit bunter Fuhre. Episoden aus Zschokkes Jugendzeit in einer Ostmarkstadt».115 Paul Dahms bediente sich diskret, aber ausgiebig der «Selbstschau» und Carl Günthers Zschokke-Biografie, während Eduard Boas, dessen Roman ein Jahr vor der «Selbstschau» erschien, seiner Schilderung die «Lebensgeschichtlichen Umrisse» von 1825 zu Grunde legte. Da die Darstellung von Boas zeitlich näher an den Ereignissen liegt und von einem Augenzeugen seiner Bühnenauftritte stammt, sei sie hier wiedergegeben. In einem Brief an einen Freund gerät Kriegskommissär Pipitz unversehens in Reminiszenzen an seine Kindheit in Landsberg an der Warthe:

«Es war zu Ausgang des Winters 1790 und ich zählte etwa dreizehn Jahre, als eine reisende Schauspielertruppe in dem Wohnort meiner Eltern anlangte. Wir Knaben waren sehr vergnügt und freuten uns mächtig auf die bunten Ritter-Tragödien, die unserer harrten.

Die Directoren der Truppe schlugen ihr Theater im alten Rathhause, in dem großen, öden Hausflur des oberen Geschosses auf, und wir konnten die Zeit gar nicht erwarten, wo die Zettel endlich an Straßenecken und Brunnenröhre geklebt wurden. Am ersten Abend saß ich oben in der dunkelbraunen, durch Talglichter erhellten Halle, vor dem bunten Vorhang, und sechs Trompeter von den Dragonern, rothe Federbüschel auf den breitkrämpigen Filzhüten tragend, spielten ein lustiges Stücklein. Dann klingelte es im Souffleurkasten, die Gardine rollte auf, und eine mit Flor und Flittern ausgeputzte, roth geschminkte Actrice trat hervor, einen Prolog, ‹gedichtet von Zschokke› zu sprechen. Dieser Zschokke wurde für uns Buben ein Gegenstand des Neides. Wir sahen ihn oft auf der Straße; er mochte um die 18 Jahr alt seyn, und begleitete die Theatergesellschaft als Theaterdichter. Er sagt selbst, seine Arbeit sey gewesen, ‹den Briefwechsel der lockeren Thespisvögel zu führen, Prologe und Epiloge zu reimen, oder an den Werken der deutschen Bühnendichter Prokrustes-Arbeit zu treiben.› Solch ein freies, ungebundenes Leben mitten unter den hübschen Schauspielerinnen mit den kecken schwarzen Augen, dünkte uns ein Götterdaseyn, und als wir hörten, er hätte, ohne Erlaubniß seiner Vormünder, sich von der Schule zu Magdeburg entfernt, um sich einige Zeit unabhängig in der Welt umherzutummeln, da fehlte nicht viel, daß wir Knaben alle seinem Beispiele gefolgt wären.

Er war ein junger, schlanker Mensch mit schwärmerischen Augen und einem angenehmen, blassen Gesichte, doch lag in demselben jene unbeholfene Blödigkeit, und in allen seinen Bewegungen jenes eckige schlotternde Wesen, welches Jünglinge jenes Alters characterisirt. Sein Anzug war eben nicht elegant und bestand unabänderlich aus Schnallenschuhen, kurzen Hosen, einem grünen Überrocke, dessen Fadengewebe schon ins Weißliche spielte, und aus einem kleinen Dreimaster. Er trug auch immer einen langen Zopf. Zschokke, der Theaterdichter, unser Ideal, betrat zuweilen selbst die Bretter, jedoch nur in Nebenrollen, denn sein jugendlich täppisches Wesen, verbunden mit einem scharfen, schneidend unsichern Organ, ließen ihn wenig zum Bühnenkünstler taugen. Doch einmal, entsinne ich mich, als er in dem damals ganz neuen Kotzebueschen Drama ‹Menschenhaß und Reue› den einfältigen Bedienten Peter mit drastischer Komik spielte, wurde ihm lauter Beifall zu Theil.»116

Zu diesem letzten Satz meinte Zschokkes Freund Theodor Heinrich Otto Burchardt (1771–1853), der aus Landsberg an der Warthe stammte und beim Erscheinen von Boas’ Roman dort Justizkommissär war, das könne nicht stimmen; Zschokke sei nie Schauspieler gewesen und habe nur «aus Gefälligkeit zwei oder dreimal kleine Rollen übernommen».117

Kennzeichen einer Theatergesellschaft war es damals, neben den neusten und erfolgreichsten Lustspielen auch Schiller und Shakespeare im Programm zu führen. Die Hubersche oder Burgheimsche Gesellschaft machte hier keine Ausnahme. Ihre Aufführung des «Hamlet» aber wurde in Prenzlau zum Tiefpunkt ihrer Spielzeit. Ein Zuschauer machte in der «Theater-Zeitung für Deutschland» seinem Ärger Luft. Es sei unklug vom Direktor gewesen, mit einer so kleinen Truppe dieses Stück auf die Bühne zu bringen. Den König von Dänemark habe ein Schauspieler gegeben, der von seiner Figur einem Sancho Pansa geglichen habe und von seiner Kleidung «ein wahrer zusammengeflickter Lumpenkönig» gewesen sei. Der Hamlet von Herrn Burgheim (Hr. B—g—m), der als bester Schauspieler der Truppe gelte, sei schlecht gespielt worden, «die übrigen Personen, Laertes und die Ophelia ausgenommen», noch viel schlechter.118 Einen Monat später schrieb ein anderer Theatergänger aus Prenzlau, man sehe einer besseren Truppe mit Sehnsucht entgegen.119 Die geballte Unzufriedenheit des Prenzlauer Publikums muss für die Schauspieler Franz Huber und Wilhelm Burgheim und für Zschokke sehr unerfreulich gewesen sein.

Aus der «Selbstschau» bekommt man den Eindruck, als habe Zschokke die Blamage gar nicht mitbekommen oder sich von der Truppe innerlich so weit distanziert, dass er die Kritik nicht auf sich beziehen musste. Er habe sich, schrieb er, «nach und nach von diesem Gemengsel arbeitscheuer Gesellen, entlaufener Weiber, ungerathner Söhne, gefallsüchtiger Mädchen, verdorbner Studenten u. s. w.» abgesetzt und nur noch mit Burgheim zusammengelebt. Die Anzüglichkeiten, Frivolitäten, Eifersüchteleien und Streitereien des Theatervolks gingen ihm gegen den Strich. In seinen freien Stunden habe er seiner «angeborenen Lesesucht» gefrönt und verschiedene Bibliotheken durchstöbert, darunter eine, die sich im morschen, verwitterten Chor einer Kirche befand, von hundertjährigem Staub bedeckt.120 Mit dieser abschätzigen Bewertung der Schauspieler, die der Beschreibung des deutschen Theaters von Reck entnommen zu sein scheint, brauchte er sich den Misserfolgen, an denen er mitbeteiligt war, nicht mehr zu stellen.

Unmittelbar nach Abschluss seines Engagements als Theaterdichter schrieb er den Aufsatz «Schuzrede für wandernde Truppen», worin er die Bedeutung des Theaters für Aufklärung, Sittenverfeinerung und Volksbildung noch einmal hervorhob und den Wunsch äusserte, auch kleinere Städte und Provinzen möchten Zugang zu gutem Theater erhalten. «Auserlesenen kleinern Truppen» solle ein fester Bezirk zugewiesen werden, den sie, ohne finanzielle Einbussen zu erleiden, privilegiert bereisen dürften, um den Bürgern Amüsement und «die geläuterten Freuden des Geschmacks zu verschaffen».121 Diese idealistische Vorstellung stand in einem gespannten Verhältnis zu dem, was Zschokke im Wandertheater an Einblicken gewonnen hatte, aber es änderte nichts daran, dass er dem Theater eine kathartische Wirkung auf die Besucher zubilligte, wie sie bei einer weitgehend illiteraten Bevölkerung sonst kein Medium haben konnte. Voraussetzung sei allerdings – und hier schloss sich Zschokke wieder Reck an –, dass die Schauspieler finanziell besser gestellt seien und sich auch ihr Ruf verbessere: «An vielen Orten Deutschlands fällt es dem gemeinen Mann noch immer schwer, den Komödianten vom Marktschreier zu unterscheiden. O, gute Thalia, wie demüthigt dich dieses bei all deinen Triumphen!»122

Zschokke befreundete sich in Prenzlau mit einem preussischen Offizier, einem «bescheidnen, wissenschaftlich gebildeten» Mann. Der aus Schlesien stammende Karl Andreas von Boguslawski (1759–1817) war einer der nicht ganz seltenen Adligen, die im Militär Karriere und sich auch als Schriftsteller einen Namen machten. In seiner Freizeit übersetzte er Homer, Vergil und Metastasio. Er «arbeitete damals an einer metrischen Übersetzung der horazischen Oden» und lud Zschokke zu einem Wettstreit ein.123

Natürlich konnte Zschokke mit Boguslawski bei Übersetzungen aus dem Latein nicht mithalten, aber er bekam durch ihn einen neuen Zugang zur lateinischen Sprache und Literatur, ein Gefühl für ihre Schönheit und Würde. Die Bekanntschaft mit Boguslawski bildete einen Gegenpol zur lärmigen, oberflächlichen Welt des Theaters. Sie liess ihn erkennen, dass man sich mit Enthusiasmus einer Sache widmen konnte, ohne gleich an den Nutzen zu denken, und dazu noch in einem Fach, das er bisher mit Schule und Zwang verband. Er realisierte, dass es dabei auf die innere Einstellung ankam, der Gegenstand dagegen unerheblich war. Vielleicht fasste Zschokke damals den Vorsatz, mehr aus seinem Leben zu machen, statt mit Gelegenheitsdichtungen auf den grossen Erfolg zu warten und dabei zu riskieren, als brotloser Künstler unterzugehen.

Neben Horaz und Vergil arbeitete Boguslawski an einer Übersetzung der «Ilias», deren ersten Gesang er 1787 «travestiert» herausgegeben hatte.124 Das bedeutete, dass er sich weniger um eine wörtliche Übersetzung bemühte, sondern darum, den Kerngehalt in die eigene Sprache zu bringen. Begeistert nahm Zschokke diesen Gedanken auf. Eine Übersetzung sollte nicht eine originalgetreue Übertragung, sondern eine Eindeutschung sein, die den Text dem heutigen Leser verständlich mache. Man müsse sich zwar bei einem klassischen Text die Toga anziehen und das veredelte Altertum wieder auferstehen lassen, aber eines, das glaubhaft sei, indem man die Verfeinerungen der Kultur und die Eigenarten des deutschen Publikums mitberücksichtige. So ungefähr äusserte sich Zschokke im Januar 1795 in Berlin vor einer gelehrten Gesellschaft in einem Vortrag über poetische Verdeutschungen aus dem Latein.125

Besonders lobenswert fand Zschokke die Übersetzungen des Martial durch Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), und er griff die Kontroverse auf, ob die Übertragung aus anderen Sprachen und Zeiten, wie in der Schule oder von Philologen praktiziert, Wort für Wort und Satz für Satz erfolgen oder sich der eigenen Sprache anpassen müsse. Zschokke entschied sich für den zweiten Weg, auch als er 1805 die Komödien von Molière und 1837 die Erzählungen des Genfers Rodolphe Töpffer übertrug, was dieser einmal «eine Travestie ohne Treue» nannte. Eine Travestie schien Zschokke aber der einzig gangbare Weg, den Empfindungen und der Mentalität der Deutschen gerecht zu werden und Literatur lebendig werden zu lassen. Der Übersetzer wurde so zum Nachdichter, deshalb war das Einfühlungsvermögen und die stilsichere Beherrschung des Deutschen wichtiger als eine gute Kenntnis des Französischen oder Lateinischen.

Statt sich mit Boguslawski auf einen Übersetzerwettstreit einzulassen, hatte Zschokke die Idee, selber ein Epos in Hexametern zu verfassen. Er nahm sein früheres Motiv von der Eroberung Magdeburgs wieder auf und erweiterte es zum Plan einer grossen Dichtung über den Dreissigjährigen Krieg. Soweit es sich aus den Fragmenten und wenigen Angaben beurteilen lässt, sollte es ein Panorama von Krieg und Zerstörung, Heldentum und Verrat, Leid und Leidenschaften werden. Eine grosse Liebe kam auch darin vor: zwischen dem evangelischen Administrator Magdeburgs Christian Wilhelm (dem offiziellen Landesfürsten) und der Katholikin Sidonia. Zschokke nannte sein episches Gedicht «Der heilige Krieg», und es besteht kein Zweifel, dass er damit nicht nur den Krieg des schwedischen Königs gegen den Habsburger Kaiser meinte, sondern den Krieg der Protestanten für die Religionsfreiheit und gegen das usurpatorische Papsttum. Den ersten Gesang mit 450 Hexametern, der während der Belagerung Magdeburgs spielt, veröffentlichte er 1794 im zweiten Teil seiner Sammlung «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen von Johann von Magdeburg». In einer kurzen Vorrede notierte er, er habe das Projekt im 18. Lebensjahr (also in Prenzlau) angefangen, dabei aber die Schwierigkeiten der Ausführung unterschätzt.126 Der Anfang ist stark an die «Ilias» angelehnt und das ganze Werk weniger eine ernstzunehmende Dichtung als der Versuch, ein für ihn neues Stilmittel zu erproben.

SCHRIFTSTELLERTEUFEL

Beim «ersten Frühlingshauch» des Jahrs 1789 packten Burgheim und Zschokke ihre Sachen und zogen mit ihrer Künstlerschar nach Landsberg an der Warthe, um dort ihre Bühne zu eröffnen. Im Frühsommer löste sich die Truppe auf: Christian Friedrich Runge ging mit einem Teil der Truppe weg,127 Burgheim entliess nach und nach die übrigen Schauspieler und blieb in der Stadt, um seine geschwächte Gesundheit zu pflegen.128


Ansicht von Landsberg (dem heute polnischen Gorzów Wielkopolski) von Süden, mit der Warthe im Vordergrund, wo sich auch ein Bootshafen befand. Dieser Anblick dürfte sich Zschokke geboten haben, als er im Frühling 1789 mit der Theatertruppe Wilhelm Burgheims über die Brücke in die Stadt einzog. Hier verbrachte er ein Jahr, dichtete und bereitete sich auf die Universität vor.

Die Krönung von Zschokkes theatralischer Sendung war es, als in Landsberg sein «Monaldeschi» aufgeführt wurde. Dieser Erfolg war Grund genug, gegenüber seinen Verwandten sein anderthalbjähriges Schweigen zu brechen. Er sei in der Stadt allseits bekannt und geliebt, schrieb er an Andreas Gottfried Behrendsen. «Was kann ich mir mehr also noch wünschen?»129 Trotz dieses Triumphs rührte er einige Jahre lang kein Theaterstück mehr an, sondern verarbeitete seine Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Theater in Aufsätzen und im satirischen Roman «Der Schriftstellerteufel», der Anfang 1791 in Berlin erschien.130 Es ist ein aberwitziges Buch, sicher etwas vom Humorvollsten, was Zschokke je verfasste, eine Art Studentenulk, der noch heute vergnüglich zu lesen ist.

Zschokke hatte ein Gebiet gefunden, das er in Cranzscher Manier satirisch bearbeiten konnte. Er bereicherte die «Gallerie der Teufel» um ein weiteres, nicht unsympathisches Mitglied, den Satan Merimatha, «König, Apoll und Gesezgeber aller elenden Autoren und Autorinnen, Wochenblätter und Pamfletenschmierer etc. etc.»131 Merimatha ist Herr über die Hölle für Schriftsteller, die mit der Makulatur der deutschen Belletristik geheizt wird, und von da steigt er zur Erde hinauf, da ihm das Heizmaterial ausgeht und die Höllenfeuer zu erlöschen drohen.

Merimatha will den schlechten Büchern zu ihrem Recht verhelfen und die Lage seiner Schutzbefohlenen, der deutschen Poeten, verbessern. Zu diesem Zweck reist er selber als Poet durch Deutschland, angetan mit den Requisiten, die ihn als verkanntes Kraftgenie ausweisen: verwahrloste Kleidung, ungepflegte Haare, tintenbekleckste Finger, eine Lorgnette, die er alle Augenblicke an die Nase hält, und eine verworrene Sprache. «Das ist der feinste sinnlichste Autorkniff, um das Volk zu täuschen, es glauben zu machen, du habest durch nächtliches Studieren deinen schönsten Sinn verloren», rät ihm Machiavelli, den er um Rat gebeten hat.132

In Purlenburg, das man sich als irgendeine deutsche Provinzstadt denken kann, wird Merimatha von der «bekannten Kümmelschen Schauspielergesellschaft» für eine mickrige Gage als Theaterdichter engagiert: «Über anderthalb Thaler wöchentlich kann ich Ihnen nicht geben; mein erster Liebhaber bekömmt nur drei!», sagt Kümmel.133 Als Einstieg verfasst Merimatha einen Prolog, der von der Direktrice rezitiert werden soll:

«Der Vorhang ging auf; mir schlug das Herz gewaltig; ich zitterte ungeduldig, meinen schönen Prolog aus dem Munde der Madame Kümmel zu vernehmen. Sie kam – knixte – stotterte – schwankte und sank beinahe in Ohnmacht. Mir vergingen alle fünf Sinne; ich sah nicht; ich hörte nicht. Mühsam radebrechte sie dies Meisterstük eines Prologs zu Ende, und empfahl sich. Hierauf folgte der Graf von Essex, in welchem der kleine Herr Kümmel in seinem weißen Sonntagskleide, mit einer papiernen Feder auf dem Hut, den großen Essex martialisch herdeklamirte. –

Das Stück schlief sich glüklich aus.»134

Um den Misserfolg auszubügeln, entwirft Merimatha den Plan «zu einem fürchterlichen Originaltrauerspiele: die Eroberung und Zerstörung von Purlenburg, in fünf Akten». Der Inhalt erinnert nicht zufällig an «Monaldeschi», da sich Zschokke hier und an anderen Stellen im Roman selber persifliert:

«Ich will nicht erwähnen, daß mein Stük gräslicher flucht, als ein Schillerscher Libertin; unsinniger rast, als Klingers Guelfo; daß im vierten Akt schon Weib und Kind, wie Rüben, auf dem Theater herumgemäht liegen, und alles erstochen, erschossen, ersäuft, erhängt, erschlagen, vergiftet ist, was in den vorigen Aufzügen Odem saugt; nicht erwähnen, daß der fünfte aus lauter Geisterszenen, schauerlich und grauerlich, zusammengesponnen ist, – denn man hat seine Noth von den übrigen vagabundirenden Truppen, welche nur nach derlei Grausspielen lechzen [...].»135


Zschokkes satirischer Roman «Der Schriftstellerteufel» mit den Abenteuern von Satan Merimatha, der nach Deutschland kommt, um die armen Poeten vor dem Hungertod zu retten. Im Anhang ein Ausfall gegen Johann Georg Zimmermann, den Leibarzt von Friedrich dem Grossen.

Die Kümmelsche Gesellschaft reist von einer Stadt zur andern. Das Trauerspiel «Die Eroberung und Zerstörung von Purlenburg» findet «gellenden Beifall», wobei Merimatha die geniale Idee hat, den Namen Purlenburg auf dem Theaterzettel auszuwechseln, um das Stück für jeden Aufführungsort passend zu machen, auch wenn man dort seit der Stadtgründung noch nie einen Feind gesehen hat.136

«Meine blühendste Theaterepoche war ietzt. Von allen Seiten erhielt ich Trauer- Graus- Schau- Familien- Lust- Possen- und Singspiele eingeschickt, um mein Urtheil und Gutachten darüber zu geben, und sie auf dem Kümmelschen Theater aufführen, oder den Verfassern zurükkommen zu lassen.»137

In der Stadt Teterow geht Herrn Kümmel das Geld aus; die Schauspieler laufen ihm davon, er gibt sein Unternehmen auf und ruft Merimatha zu sich, um ihm zu kündigen.

«Ich. Ist das Ihr Ernst, Herr Kümmel? – und Sie wollen auch meine wichtige Person verlieren?

Kümmel. Wichtig! Ha, ha, ha! Sie waren iust das unnüzzeste Möbel in meiner Direkzion.

Ich (aufspringend). Undankbarer – also hat mein großes Trauerspiel, die Eroberung und Zerstöru – –

Kümmel. Mir Nachtheil mehr, als Nuzzen geschaft – Sollte der Himmel so gnädig sein, und mich noch einmal zum Führer einer Schauspielergesellschaft erhöhen: so sollen alle Prunkspiele aus derselben verbannt sein; sie sind der Ruin meiner Börse und – –

Ich. Herr, davon verstehen Sie – –

Kümmel. Mein Herr, da ist die Thür – –»138

Darauf lässt Merimatha sich als Turmwächter anstellen und mietet sich in einem Poeten-Dachstübchen ein, wie er es sich erträumt hat, «wo du die Harmonie der Sphären belauschen und alle Herrlichkeiten der Welt unter deinen Füßen sehen kannst».139

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem Roman voller Ein- und Ausfälle, Anspielungen, Rundumschläge und Finten, da der Autor ja, wie Cranz es vormachte, jede Wahrheit äussern, jede Narrheit blossstellen darf, wenn sie im Gewand der Satire daherkommt. Kaum ein Berufszweig wird nicht irgendwo karikiert, vom keifenden Magdeburger Butterweib über Handwerker, Kleiderjuden, Quacksalber, Turmwächter, Sänfteträger, Studenten und Schönlingen bis zum Lehrer, Kanzlisten, Gelehrten, Rezensenten und Verleger. Bedauerlicherweise ist diese kleine Kostbarkeit der humoristischen deutschen Literatur vollständig in Vergessenheit geraten. Um eine grössere Leserschaft an Zschokkes Dichtungen heranzuführen, ist sie ein guter Einstieg, auch weil er sich für einmal kurz fasste und keine rührselige Liebesbrühe darüber goss. Im Zusammenhang mit der Affäre um Kotzebue und Carl Friedrich Barth werden wir noch einmal auf diesen Roman zurückkommen.

Es ist übertrieben, Landsberg an der Warthe, ein Städtchen in der Neumark an der Grenze zu Polen,140 als kleines Magdeburg zu bezeichnen, auch wenn Zschokke diesen Eindruck hatte. Er fühlte sich rasch heimisch, mehr als in Schwerin und Prenzlau. Vielleicht lag es am Frühling und an den neuen Aufgaben, denen er sich stellte, dass die Schwermut von ihm abfiel. Er fand Freunde und lebte nicht mehr so eng mit Leuten zusammen, die ihn ihrer ungehemmten Eigensucht und ihres Hedonismus wegen abstiessen und seine Moralvorstellungen verletzten. «Nun, und ich bin glüklicher – bin seliger, meine Tage sind eine aneinanderhangende Kette süsser Traüme», schrieb er Behrendsen.141

Wie Magdeburg war Landsberg eine Stadt des Bürgertums, ohne Fürstenhof oder einflussreichen Adel, mit bedeutender Wollzeugmanufaktur und einem Handel, der sich des Flusses Warthe bediente. Es war eine preussische Garnisonsstadt wie Magdeburg und Prenzlau, beherbergte ein Regiment Dragoner und war von einer Wehrmauer umgeben. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurden links und rechts der Warthe Kanäle, Schleusen und Deiche angelegt und aus den Sumpfgebieten des Warthebruchs Siedlungsland geschaffen.142 Dennoch kam es 1785 im ganzen Gebiet der Oder, in welche die Warthe bei Küstrin einmündet, zu Überschwemmungen.

Landsberg hatte ungefähr 5500 Einwohner, darunter gegen 300 Juden, die seit dem 14. Jahrhundert hier Zuflucht gefunden und 1752 eine Synagoge errichtet hatten. Ein Zeichen friedlichen Zusammenlebens der Religionen und Konfessionen war die Konkordienkirche, die von der lutherischen und reformierten Gemeinde gemeinsam benutzt wurde und wo Friedrich Schleiermacher 1794–1796 als Hilfsprediger wirkte. Man war hinsichtlich der Religionstoleranz ein bisschen fortgeschrittener als Magdeburg mit seiner stark lutherisch-pietistischen Tradition und einer mehr oder weniger starken Segregation von den Reformierten und Katholiken.

Als die Burgheimsche Theatergesellschaft sich verlief, vielleicht schon vorher, beschloss Zschokke, sein früheres Ziel wieder aufzunehmen und an die Universität zu gehen. Er hatte allerdings noch ein kleines Hindernis zu bewältigen: Es fehlten ihm die finanziellen Mittel dazu. Auch wenn die ihm vom Glockengiesser Ziegener auferlegten zwei Jahre Wartezeit noch nicht ganz verstrichen waren, so war er im März 1789 immerhin 18 Jahre alt geworden und durfte hoffen, sein väterliches Erbe endlich ausgehändigt zu erhalten. Zschokke lebte in Landsberg, wie er sich in der «Selbstschau» erinnerte, von seinen geringen Ersparnissen, und erteilte Privatunterricht.143 Vermutlich hielt ihm auch Burgheim etwas Geld zu, solange er für ihn tätig war.

Durch zwei Landsberger Juden – den Buchhändler und Publizisten Saul Ascher144 und den Kaufmann A. F. Jacobi – wurde Zschokke in die jüdische Religion und Lebensweise eingeführt.145 Viel erfährt man nicht von dieser Begegnung, die den Beginn von Zschokkes lebenslanger Beschäftigung mit verschiedenen Religionen und seines Einstehens für die Rechte und Emanzipation der Juden markiert.146

Eine andere bedeutsame Begegnung Zschokkes fand mit Gotthilf Samuel Steinbart (1738–1809) statt, Ordinarius für Philosophie und ausserordentlicher Professor für Theologie an der Universität Frankfurt (Oder), Leiter des Waisenhauses und verschiedener Anstalten in Züllichau und seit 1787 Mitglied des neugeschaffenen preussischen Oberschulkollegiums. Im gleichen Jahr hatte er ein umfang- und inhaltsreiches Schriftstück ausgearbeitet, «Gedanken und Vorschläge über die Verbesserung der städtischen Bürgerschulen», in dem er sich statt einer theologischen für eine pädagogische Ausbildung der Lehrer aussprach, mit dem Ziel einer «neuen Klasse Menschen, der Schullehrer». Was der Bürger an praktischen Kenntnissen brauche, sei den theologisch geschulten Lehrern fremd; die könnten nichts als Bibellesen, Katechismus, lateinische und griechische Grammatik. In Seminarien müsse ein neuer Lehrerstand herangebildet werden.147 In Züllichau machte Steinbart den Anfang.

Bekannt wurde Steinbart mit seinem «System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums»,148 in dem er darlegte, dass Gott den Menschen geschaffen habe, damit er glücklich sei, und nicht, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen oder asketisch leben zu lassen. Steinbart verband Epikurs Philosophie der Angst- und Schmerzfreiheit als menschliches Trachten mit einer zeitgenössischen christlichen Lehre. Gott, so lautete seine Überzeugung, wolle von uns geliebt und nicht gefürchtet werden; er kümmere sich um uns und um die kleinsten Veränderungen unseres Lebens und wolle «blos durch Redlichkeit und wohlwollende Gesinnungen gegen andere unter dem frölichsten und vernünftigsten Genuß alles Guten in der Welt von uns dankbar verehret werden».149 Steinbart wandte sich entschieden gegen dogmatische Streitereien und theologische Spitzfindigkeiten.

Sein «System» wurde von der Aufklärung enthusiastisch gefeiert, da es den Menschen als im Prinzip unbegrenzt bildungsfähig und Gott als fürsorglichen Pädagogen darstellte, dessen Wirken von den besten Absichten und von vernünftigen Überlegungen geleitet war. Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792), der radikalste theologische Aufklärer seiner Zeit, meinte über Steinbart, nur wenige deutsche Theologen hätten so freimütig wie er die Idole des Kirchensystems umgeworfen und zertrümmert: «Dieser Mann hat nicht bloß das alte Haus eingerissen, sondern einen neuen Palast an seine Stelle gesetzt. Seine Glückseligkeitslehre verdient, das allgemeine Kompendium der Religion zu werden.»150 Zschokke, der unter Steinbart studierte, hatte seine theologischen Überzeugungen hauptsächlich ihm zu verdanken.

Steinbart war neben allen anderen Ämtern neumärkischer Konsistorialrat, und Landsberg fiel deshalb in seinen Einflussbereich; er war also nicht zufällig hier zu Besuch, und Zschokke nutzte die Gelegenheit, mit ihm über seine Pläne und finanziellen Sorgen zu sprechen. Darüber schrieb er an Behrendsen am 12. Juni 1789: «... ich bin durch eine der ansehnlichsten Familien allhier dem berühmten Steinbart, Prof. der Univers[ität] vorgestellt worden, bei welchem ich nicht allein freie Kollegia, sondern auch freie Wohnung erhalten werde.» Damit war es entschieden, dass er nicht wie die meisten Magdeburger nach Halle, sondern wie andere Neumärker an die Viadrina gehen würde. Ob der Wunsch, Steinbarts «System» zu studieren, bereits eine Rolle spielte, wissen wir nicht. Während es jenseits des Rheins wetterleuchtete und schliesslich ein Gewittersturm losbrach, richtete sich Zschokke im hintersten Winkel Deutschlands behaglich ein. Ein Dichterstübchen besass er zwar nicht, wohl aber eine Gelehrtenstube, wo er von seiner Wirtin, einer Frau Bunzel, mütterlich umsorgt wurde.

«Im Sommer 1789 befand ich mich zu Landsberg an der Warta, in der Neumark. Ich war an einem schönen Morgen ausgegangen ins Freie, jenseits des Flusses, wo einzelne Landhäuser an dessen Ufer zerstreut umher gelagert sind. Niemand begleitete mich, als mein Horaz. Aber wie mocht’ ich ihn lesen? Himmel und Erde waren zu schön. Ich schwelgte mit allen Sinnen in den Wundern der Natur, schwärmte über Hügel und Thal, und fühlte nichts, als das süße Glück zu leben.

Ich behielt den römischen Dichter in der Tasche, sang und jauchzte; meine Empfindungen waren lyrisch; sie bedurften des fremden Anglühns nicht. [...]

Erst spät kehrt’ ich zurück. Es war schon Mittag, als ich zu Madame B** ins Zimmer trat. Sie erwartete mich schon längst zum Essen.

Wir speiseten allein in ihrem Zimmer. Fröhliche Gespräche versüßten das Mittagsmahl.

Bald nach Tische gieng Madame B** hinaus. Ich warf mich, nachdem ich einige Gänge gemacht hatte, in einen Lehnsessel, der nahe am Fenster stand, vor welchem die weissen Mousselinvorhänge niedergelassen waren, so wie vor dem andern Fenster des Zimmers, um den einfallenden Sonnenstrahlen zu wehren.»151

So begann Zschokkes Bericht darüber, wie er plötzlich gewahr wurde, dass er seinem imaginären Doppelgänger gegenüber sass. Diese Episode zeigt, wie stark er mit sich selber beschäftigt war. Er hatte sich in kürzester Zeit körperlich derart verändert, dass er sich selber nicht wieder erkannte: «In Pensionen und Schulzimmern zwischen Büchern erzogen, war mein körperliches Wachsthum lang zurückgehalten worden. Ich war bis in mein achtzehntes Jahr klein und unansehnlich geblieben; dann aber entfalteten sich meine physischen Kräfte schnell. Ich wuchs, und sah bald über diejenigen meiner Altersgenossen hinweg, die mich vorher an Größe übertroffen hatten.»152

Auch in seiner Persönlichkeit war seit seinem Abschied aus Magdeburg eine grosse Veränderung eingetreten. Er befand sich in einem Übergang zwischen Jugend und Erwachsenem, wusste nicht, wer er war, was aus ihm werden und wie er sich einschätzen sollte. Er fühlte sich als Schüler, Dichter und Gelehrter zugleich und las, was ihm in die Hände fiel. Dadurch wurde seine Phantasie weiter beflügelt, und er hatte nach ausgedehnten Lektüren und durchwachten Nächten wie früher in Magdeburg vermutlich mehr als einmal Mühe, Einbildung und Wirklichkeit, Wachtraum und Realität voneinander abzugrenzen.

Im Oktober 1789 schrieb Zschokke an Christoph Martin Wieland und bot ihm den ersten Gesang seiner Versdichtung «Orian» für den «teutschen Merkur» zum Abdruck an. In seinem Brief skizzierte er kurz seinen poetischen Lebenslauf, der auch inhaltlich erdichtet war: Er sei Sohn eines Tuchmachers von gutem Herzen, der ihm «zwei gesunde Hände, ein reines Herz und eine dichterische Ader» hinterlassen habe, und wann immer er einen geistreichen Knittelvers verfasste, sei er von seiner andächtigen Familie, «von den Reimen herzlich erbaut, mit einem wolgemeinten Seegen» aufgenommen worden. «Mein Verstand reifte mit den Jahren. Ich las die Dichter der Alten und Neuen; pflegte meinen Geist mit den Meisterstükken der Muse iedes Zeitalters; spürte zuweilen im Taumel der Entzükkung einen unbekannten Trieb ähnliche Flüge zu wagen, ohne daß ich diesem Trieb einen Namen geben konnte. Ich begnügte mich damit unterweilen ein Epigram zu schmieden; eine Romanze war mein kühnstes Wagestük.»153

Vor allem Wielands «Oberon» habe ihn tief beeindruckt, die Abenteuer des Ritters Hüon im Morgenland. Hier, in einer Märchenwelt, halb 1001 Nacht, halb Ritterzeit des Frühmittelalters, siedelte Zschokke auch sein Versepos «Orian» an. Das Versmass der Stanzen (Ottave rime) lieh er sich ebenfalls bei Wieland aus, der seinerseits italienische Vorbilder benutzte. In Zschokkes Fabel verwandelt der mächtige orientalische Fürst und Zauberer Orian seine beiden Töchter in eine Sirene und einen gespenstischen Schatten, weil sie seinem Befehl nicht gehorchten. Nur zwei sie liebende Ritter können sie erlösen. «Soweit der Plan.» Zschokke wartete vergeblich darauf, dass ihm der bewunderte Dichter eine «gütige Antwort, damit ich meiner schwankenden Ungewisheit wegen des Schiksals meines Kindes desto früher entbunden werde», schicke. Und er wartete auch darauf, dass der Anfang des «Orian» im «teutschen Merkur» erscheine, so dass er weiter hätte dichten und Wieland «privatim ein mehreres über meine Person entdekken» können.154

Von diesem «Orian» ist noch ein kleines Fragment vorhanden, das Zschokke in seinen Roman «Geister und Geisterseher» an der Stelle einfügte, wo Wilhelm Walter von einer Dirne verführt wird.155 Auch in der freizügigen Erotik waren Wielands Versgedichte, von «Musarion» über «Agathon» bis «Oberon», Zschokkes Vorbild. Er vermerkte dazu: «Aus einem noch ungedrukten, romantischen Gedichte: die Helmaiden, erstes Buch.»156

Wielands Schweigen hielt ihn nicht davon ab, in dieser Art weiter zu dichten. 1793 gab er ein Buch heraus, «Die Bibliothek nach der Mode», dessen Untertitel, «Erstes Bändchen», eine Fortsetzung versprach.157 Es ist nirgends mehr aufzutreiben, vielleicht, weil es nicht nur den Rezensenten der «Allgemeinen Literatur-Zeitung» empörte. Schon der erste der beiden Beiträge, die Erzählung «Die falschen Münzer» stiess ihn ab, nicht nur, weil die Hauptperson «eine unglückliche Kopie von Schillers Karl Moor, ein edler Mann und zugleich Anführer einer Bande edler Räuber und falscher Münzer ist», nein, schon der Anfang, wo ein junges Fräulein mit einem nackten Burschen zusammengebracht werde, sei frech und schlüpfrig.158 Der Rezensent der «Allgemeinen deutschen Bibliothek» – Freiherr von Knigge159 – schloss sich an: «Die Schreibart ist incorrect, und Scenen der Wollust malt der Verf[asser] in diesem Romänchen und in dem Gedicht, wovon wir sogleich reden werden, mit solchen Farben aus, daß man wohl sieht, wie wenig ihm Beförderung der Sittlichkeit am Herzen liegt.»160 Auch Knigge meinte, Schillers Räuber sei geplündert worden.

Hat man bei Schiller aber schon den Eindruck, es sei nur Zufall, dass der eine Bruder zum Ausgestossenen und Räuber wird und der andere als braver Sohn und Biedermann gilt, so ging Zschokke noch einen Schritt weiter, indem er beide Charaktere in einer Person vereinte. Es tritt also das Motiv der doppelten Persönlichkeit hinzu, ein Dr. Jekyll und Mr. Hyde mit der Janusmaske des Verbrechers und des braven Bürgers. Auch der Titel «Die falschen Münzer» enthält die zweifache Bedeutung des falschen Falschmünzers. Aus dieser Grundidee entwickelte Zschokke später sein Erfolgsstück «Abällino, der grosse Bandit». Dass sich die beiden Seiten der Person am Schluss sauber voneinander trennen und das Gute obsiegt, ist eine Schwäche von Zschokkes Ansatz.

Der zweite Beitrag hiess «Atlantis oder die Entdeckung von Madera, ein episch romantisches Gedicht in gereimten Stanzen». Er beruht auf einer Sage, die den Besuchern Madeiras heute noch erzählt wird: Ein englischer Edelmann floh im Jahr 1346 mit seiner nicht standesgemässen Geliebten übers Meer, wurde vom Sturm abgetrieben und strandete auf einer Insel, wo das Mädchen an Heimweh und er bald darauf an Trauer starb. So wurden die beiden unwissentlich und aus Zuneigung füreinander Entdecker der Insel Madeira, von der die Kunde ging, dass sie das sagenhafte Atlantis sei.161

Abgedruckt wurden in der «Bibliothek nach der Mode» die ersten beiden Gesänge von diesem Versepos, und darin eine Liebeszene zwischen Arabelle und Lyonnel, die stärker in Details ging, als das Schamgefühl des durchschnittlichen Lesers es gestattete.162 Zwar erfuhr man nicht viel mehr über Sex als in einschlägigen Stellen bei Wieland. Dort hatten sich die Literaturrichter allerdings darauf geeinigt, es als Kunst zu betrachten, was man einem anonymen Dichter nicht verzeihen konnte. Die Schilderung des Liebesspiels von Arabelle und Lyonnel druckte Zschokke bereits 1791 in seinem Roman «Die schwarzen Brüder» ab, im Kapitel «Die Schäferstunde», bis zu jener Stelle, wo die reuevolle Arabelle seufzt: «O Lyonnel, was haben wir gethan!»163 Dazu gab Zschokke den Kommentar: «Eine in der Lage sehr gewöhnliche Frage der Damen; hätte lieber manche manchen gefragt: o Lyonnel, was wollen wir thun? es wäre vielleicht besser gewesen.» Im ursprünglichen Gedicht lautet die Antwort des Liebhabers auf Arabelles Seufzer bejahender:

«Frag nicht mehr: ,Lyönnel, was haben wir gethan?’ –

Gethan, was die Natur, was Gottes Engel sahn.»164

Wie eng Zschokke sich in seiner Versdichtung an Wieland hielt, zeigt eine ähnliche Szene im «Oberon». Dort entwindet sich Amanda dem Arm ihres Geliebten Hüon, nachdem sie sich gegen Oberons Weisung miteinander vereint haben: «Gott!» ruft sie aus, «was haben wir gethan!»165

Man mag sich über diesen Ausflug Zschokkes in die erotische Literatur wundern, die ihm einen Eintrag in Hayn/Gotendorfs «Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa» einbrachte, in den Biografien aber schamhaft verschwiegen wird.166 Er experimentierte mit verschiedenen Literaturformen und sicherlich auch mit der eigenen Sexualität. Erotisch-schwüle Stellen in Romanen wurden zu jener Zeit, wie zu früheren und späteren Zeiten auch, begierig verschlungen und wirkten verkaufsfördernd. Es war für den Autor eine Gratwanderung abzuschätzen, wie freizügig eine Darstellung sein durfte. Die Liberalität oder Prüderie des Bürgertums und des staatlichen Zensors entschieden, ob ein Buch verboten wurde, in die öffentlichen und Leihbibliotheken aufgenommen wurde oder als galante Literatur unter dem Ladentisch gehandelt in Privatbibliotheken verschwand. Vielleicht trug diese Schwierigkeit dazu bei, dass man Zschokkes «Bibliothek nach der Mode» nirgends mehr findet und keine Fortsetzung erschien.

Die kleinere Schwester der Oper, eine Vorform der Operette, war im 18. Jahrhundert das Singspiel.167 Auch in diesem Genre, dem Theater näher als dem Versepos, versuchte Zschokke in Landsberg sein Glück. Unter dem schönen Titel «Meloda» verfasste er eine «dramatische Schwärmerei, aus den Zeiten der Kreuzzüge» in Jamben.168 Von seinem Freund, dem Landsberger Kantor und Lehrer Friedrich Gottlieb Teichert (* 1731), wurde es in Musik gesetzt und in Privatgesellschaften aufgeführt,169 vermutlich unter Beihilfe Burgheims und seiner geschrumpften Theatergesellschaft. Das war ohne übermässigen Aufwand möglich, da nur vier Personen vorkommen: der Eremit Michael und sein geistig zurückgebliebener Sohn Antonio, die in ihrer Klause Besuch von einer schönen Büsserin erhalten, Meloda, und von Fernando, einem Ritter, der seine Rüstung stets anbehält, als befinde er sich noch immer auf dem Kreuzzug. Das hat seinen dramaturgischen Grund: Fernando darf sich nicht zu früh zu erkennen geben; er ist der verschollene ältere Sohn des Eremiten und Melodas Geliebter, den sie in den Kriegswirren verloren hatte.

Die Handlung ist so nebensächlich wie in anderen Singspielen und Operetten auch; es wird in Versen gesprochen und einzeln und im Duett gesungen. Die Wiedererkennungsszene setzte Zschokke ganz an den Schluss, da Meloda, wenn Fernando auftaucht, entweder gerade den Schauplatz verlässt oder ohnmächtig herumliege. Sie findet dann aber herzergreifend statt und mündet in ein finales Gedicht, in das mit der letzten Strophe alle einfallen:

«Thränen sind der Freuden Würze,

Dämmerung verschönt des Glanzes Pracht;

Ja, wir glauben, dulden, hoffen,

Leiden still und unbetroffen:

Denn der Morgen dämmert hinter Nacht.»170

Es war Zschokke darum zu tun, in gefühlsbetonter Sprache, die oft aus einem kummervollen Herzen strömt, eine poetisch-wehmütige Stimmung zu erzeugen. Alles andere, das Dekor, die Choreografie, die Logik der Handlung oder die Glaubhaftigkeit der Charaktere sind Nebensache. Nach «Monaldeschi», dem lärmenden Eintritt, war «Meloda» der sanfte Abschied Zschokkes aus dem kulturellen Leben des neumärkischen Provinzstädtchens.

AUF DEM WEG ZUR UNIVERSITÄT

Ende 1788 war in Preussen die Reifeprüfung von der Universität an die Schulen verlegt worden. Die Prüfung fand in alten und neuen Sprachen, besonders aber in Deutsch statt, und sollte auch wissenschaftliche Kenntnisse umfassen, vornehmlich historische. Sie war unter dem Vorsitz eines staatlichen Kommissars schriftlich und mündlich abzulegen. Der Geprüfte erhielt ein Zeugnis seiner Reife oder Unreife; das Prüfungsprotokoll wurde dem Provinzialschulkollegium eingereicht.171

Um das Abitur abnehmen zu können, musste sich eine Schule als «Gelehrte Schule» qualifizieren. Der Rektor der Grossen Stadtschule in Landsberg, an der das Gymnasium eine kleine Abteilung war, bemühte sich nicht um diesen Status, da kaum Schüler direkt an die Universität gingen. Belegt sind über Jahrzehnte hinweg nur vereinzelte Fälle.172 Studienwillige Schüler verbrachten nach Beendigung der Schulzeit meist noch ein bis zwei Semester an einer auswärtigen Anstalt. Das Küstriner Konsistorium, das dem preussischen Oberschulkollegium über die Neumärker Schulen berichtete, empfahl, es dabei zu belassen, dagegen den Unterricht in allen Klassen «mehr auf nützliche Bürgerkenntnisse zu richten».173

Zschokke umging die Landsberger Stadtschule und begann, sich auf eigene Faust für das Abitur vorzubereiten. Dazu quartierte er sich zunächst beim Deichinspektor Runge ein, später bei einem Kaufmann Bunzel, und liess sich die Post, wie schon in Schwerin, an «Herrn Zschokke, Homme des lettres» adressieren. So war er zugleich Schüler und Gelehrter, eine Kombination, die ihm behagte, konnte er doch so seine Studien und Lektüre in alle Richtungen führen und zugleich selber schreiben. Unproduktiv war er nämlich auch jetzt nicht.

Während der Sommerferien lernte er zusammen mit einem jungen Landsberger, der ebenfalls an die Viadrina wollte, dem etwas jüngeren Johann Karl Weil (1771 oder 1772 bis 1821), Sohn des Regimentsquartiermeisters, der das Joachimstaler Gymnasium in Berlin besuchte. Vermutlich war auch der zwei Jahre jüngere August Ludwig Hahn (1773 bis nach 1846) in ihrer Lerngemeinschaft,174 Sohn eines Baudirektors, der ebenfalls das Joachimstaler Gymnasium absolvierte und sich erst im Oktober 1790, ein halbes Jahr nach Zschokke und Weil, an der Universität einschrieb. Karl Weil mochte Zschokke bewogen haben, nicht schon wie ursprünglich beabsichtigt im Herbst 1789 die Universität zu beziehen,175 sondern bis zum nächsten Frühling zu warten.

Dieser Aufschub liess sich gut nutzen, auch wenn Zschokke seine Ungeduld, endlich das Studium aufzunehmen und mit seinen ehemaligen Mitschülern gleichzuziehen, noch einmal zügeln musste. Der Besuch einer Universität kostete Geld, das er vorderhand nicht besass, weil der Vormund nicht gewillt war, Zschokkes Wartefrist abzukürzen. Erst im Februar 1790 erkundigte sich die Vormundschaftsbehörde bei der Landsberger Behörde über Zschokkes «Aufführung und Geschicklichkeit, um auf die Universität gehen zu können», worauf man ihn am 8. März vor den Stadtrat lud. Zschokke bat darum, «daß man ihn in Ansehung seiner Reife zur Universität examiniren und hierüber ein pflichtmäßiges Zeugniß ertheilen möchte».

Der Magistrat stellte daraufhin ein Prüfungskollegium mit Michael Dietmar Stenigke, Pastor an der Marienkirche und Schulinspektor von Landsberg, Benjamin Christoph Heinrich Opitz, Rektor der Stadtschule, und Konrektor Christian Friedrich Wentzel zusammen. Opitz legte die Termine fest: für die schriftliche Prüfung den 13., für die mündliche den 17. März, und verfasste darüber ein Protokoll, das mit allen Einzelheiten von Zschokkes Abitur von einem späteren Direktor des Landsberger Gymnasiums in den Schulakten gefunden und der Öffentlichkeit präsentiert wurde.176 Darin enthalten sind nur die offiziellen Dokumente, nicht die Vorgeschichte.

Für welche Fächer er sich vorbereitet hatte, geht aus seinem Brief an Stenigke vom 6. März hervor, worin er seine Situation schilderte und ihn bat, ihn «in der Lateinischen, Französischen Sprache, in der Weltgeschichte, Geographie, ältern und neuern Litteratur, Antiquitätenkunde, Mythologie usw» zu prüfen.177 Bis auf Latein und Französisch machte ihm der Stoff wohl nur wenig zu schaffen, und Latein konnte er sich notfalls selber beibringen. Aber in Französisch, der Hypothek am Beginn seiner schulischen Karriere, hatte er noch einiges zu verbessern und brauchte mindestens in der Aussprache und Konversation Unterstützung. Vielleicht holte er sich die bei Karl Weil, von dem ein anderer Schüler, der sich zur gleichen Zeit und mit dem gleichen Ziel in Landsberg befand, sagte, er sei «ein vortrefflicher Knabe, der viel wußte, bei dem Hofmeister des Obristen von Pape Unterricht erhielt und besonders in der französischen Sprache und in der Musik es sehr weit gebracht hatte».178

Die fünf schriftlichen Arbeiten sind im Programm des Landsburger Gymnasiums 1862 im Wortlaut abgedruckt, ebenso Informationen zu Zschokkes mündlichem Examen.179 Aus Ovids «Metamorphosen» übersetzte er jenen Teil, der von der goldenen Zeit handelt, als die Menschen die Erde zu bewohnen begannen (Aurea prima sata est ...),180 sicher und elegant, obwohl rurale, botanische und andere Begriffe vorkommen, die nicht zum gängigen Wortschatz gehörten. Der Übersetzung eines Abschnittes über die Kreuzzüge aus den in Schulen verbreiteten «Amusemens philologiques»181 – Schummels spannende Erzählungen aus 1001 Nacht waren nicht bis nach Landsberg gedrungen – spürt man hingegen seine Unsicherheit im Französischen an, während der Aufsatz über den Dreissigjährigen Krieg, «Abrégé de l’histoire de la Guerre de trente ans», stilistisch und inhaltlich erfreulich ausfiel und erstaunlich wenig grammatische und orthografische Fehler enthält.

In Latein hatte sich Zschokke mit dem Vergleich von Griechenland in der Antike und in seiner Zeit zu befassen. Man merkt sein Bestreben, eine grundsätzliche Frage herauszuarbeiten. Der erste Satz lautet (auf Latein): Die Schwäche menschlicher Bemühungen, der immerwährende Wechsel, der vom Anfang der Zeiten im Himmel und auf der Erde herrschte, zerstörte auch einst die blühenden Gegenden Griechenlands.182 Und der Schluss: Das heutige Griechenland ist daher nicht im geringsten das ehemalige, denn anhaltende Dummheit umgibt heutzutage den Geist der Bewohner.183 Dreissig Jahre später, im Zuge der philhellenischen Bewegung, die Zschokke in Wort und Tat (mit Zeitungsartikeln und Waffen) unterstützte, hätte er dies nicht mehr unterschrieben.

Der Titel des Deutschaufsatzes lautet «Landsbergs Gegenden». Erwartet wurde eine geografische Beschreibung der Umgebung der Stadt, die Zschokke von seinen zahlreichen Spaziergängen sehr gut kannte. Er unterlief diese Erwartung, setzte in Klammer «Eine Fantasie» und zeichnete ein Stimmungsbild des erwachenden Frühlings, den er in der Fremde (in Frankfurt [Oder]) nun nicht mehr erleben werde. Es war ein Wagnis, einen dichterischen Text abzuliefern, aber Zschokke schien sich sicher, dass es dem Prüfungsergebnis keinen Abbruch tun würde. Erstaunlicherweise hat es dieses Werk, an dessen Ende ein solider Deutschlehrer den Satz: «Thema verfehlt!» hätte schreiben können, in den Sammlungen deutscher Abituraufsätze zum Musteraufsatz geschafft,184 was wohl daran lag, dass der Verfasser im 19. Jahrhundert als ein bedeutender deutschsprachiger Schriftsteller galt.

Rektor Opitz erklärte, durch die Auswahl der literarischen Themen den Examinanden zugleich in Geschichte und Geografie geprüft zu haben, und fand in allen schriftlich gelösten Aufgaben «eine sehr rühmliche Fertigkeit und besondere Leichtigkeit Herrn Zschokke’s».185 Auch die mündliche Prüfung fiel zur allseitigen Zufriedenheit aus, wobei man sich die Mühe sparte, noch einmal neue Themen zu stellen.186 Zschokkes Maturitätszeugnis wurde vom Prüfungskollegium für das Magdeburger Vormundschaftsgericht auf Deutsch und für die Universität auf Latein ausgefertigt.187

Nach den Prüfungen ritt Zschokke nach Magdeburg, um seine Erbschaftsangelegenheit in Ordnung zu bringen. Es war sein erster Besuch in der Heimat seit über zwei Jahren, und er kam für die Verwandten völlig überraschend. Falls er befürchtete, man habe ihn vergessen oder überschütte ihn mit Vorwürfen, so wurde er angenehm enttäuscht: Man empfing ihn wie einen verlorenen Sohn, sah in ihm einen jungen, respektablen Mann. Bei dieser Gelegenheit sah er Friederike Ziegener wieder, die Tochter seines Vormunds, und sie gefiel ihm, zu einer jungen Frau erblüht.

Andreas Gottfried Behrendsen schilderte in seinen «Notizen aus meinem Leben» das Wiedersehen mit Zschokke, den ersten Kontakt seit dem Brief vom Juni 1789 aus Schwerin:

«Folgende Ostern kam er wieder zum ersten Male nach Magdeburg. Er klopft an, bringt eine Empfehlung von Herrn Zschokke, derselbe würde nächstens selbst nach Magdeburg kommen und mir persönlich aufwarten. Er hatte ein grau Jäckchen an, um den Kopf hundert Locken, einen Kopf höher war er gewachsen, seine Stimme männlich geworden. Nun konnt er sich nicht länger halten – er fiel mir um den Hals. Wir freuten uns beyde herzlich. So lange er in Magdeburg blieb, war er täglich bey mir.»188

Lange konnte Zschokke in Magdeburg aber nicht verweilen; es reichte nicht einmal zu einem Höflichkeitsbesuch bei seiner Schwester Lemme189 – oder hatte er nur keine Lust dazu? Zschokke war mit Karl Weil verabredet, um sich gemeinsam an der Universität zu immatrikulieren. Von diesem Weil, der auch «der Kleine» genannt wurde, ist bei Zschokke kaum mehr die Rede. Er studierte Jurisprudenz, wurde Polizei- und Stadtrat in Potsdam und starb 1821.

Heinrich Zschokke 1771-1848

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