Читать книгу Heinrich Zschokke 1771-1848 - Werner Ort - Страница 13
ОглавлениеDIE VIADRINA UND IHRE PROFESSOREN
Am 22. April 1790 schrieb Zschokke sich an der Viadrina ein, zusammen mit Karl Weil und fünf weiteren Studenten aus Liegnitz in Schlesien und Stargard in Pommern. Rektor während des zu Ende gehenden Universitätsjahrs war Geschichtsprofessor Carl Renatus Hausen (1740–1805), der auch die Einschreibungen vornahm. In einer Festschrift zum 300-jährigen Bestehen der Viadrina schrieb Hausen über Zschokke, er sei unschlüssig gewesen, ob er Kameralistik oder Theologie studieren solle; Kameralistik habe seiner Neigung entsprochen, aber seine Familie habe sich für Theologie ausgesprochen. «Da er von dieser allein Unterstützung erwarten konnte, so gab ich ihm den Rath: er solle sich provisorisch als Theologe einschreiben lassen. Er folgte diesem Rath.»1 Hausen berief sich in der kurzen Biografie seines Lieblingsstudenten auf «authentische Nachrichten»,2 was bedeutet, dass er die Angaben direkt von Zschokke bezog, mit dem er korrespondierte, als diese Schrift entstand.3
In der «Selbstschau» bot Zschokke eine zweite Version an. Alle Fächer hätten ihn gleichermassen angesprochen, und so habe er bei seiner Immatrikulation zu Hausen gesagt: «Erlauben Sie, daß ich einsweilen unter den neun Musen freie Wahl behalte».4 Nur der Ekel vor dem Sezieren von Leichnamen habe ihn daran gehindert, auch noch die Medizin ins Auge zu fassen. Bezeichnenderweise gab er im Juni 1789 in Landsberg noch an, dass er Jurisprudenz ins Auge gefasst habe, und im März 1790 bestätigte er: «Ich werde entweder die Rechtswissenschaft oder schöne Wissenschaften studieren.»5
Zschokke beschloss, bei Hausen und nicht bei Steinbart zu wohnen, vielleicht weil Steinbarts Zimmer schon belegt waren oder weil er weniger bezahlen musste. Die Hoffnung, Steinbart würde ihn gratis beherbergen, hatte sich als trügerisch herausgestellt. Hausen besass ein zweistöckiges Haus an der Forststrasse 1, im Oberstock mit einer Anzahl kleiner nebeneinander liegender Zimmer, die von der Hofseite über eine Holzgalerie erreichbar waren. Daneben und darunter befanden sich grössere Räume, die auch für Vorlesungen genutzt werden konnten. Zschokke verewigte sich, vermutlich als er im März 1792 Abschied nahm,6 indem er Nägel in die Brüstung der Galerie trieb, welche die Initialen J. H. Z. ergaben. Im Jahr 1886 waren die Nägel noch sichtbar.7 Solche Markierungen mit der Bedeutung «Auch ich war hier!» waren ein weit über das Studentenmilieu hinaus gängiger Brauch, wenn auch gewöhnlich nur mit Tinte geschrieben oder mit einem Messer ins Holz geritzt.
Hausen las jedes Semester über deutsche Reichsgeschichte, alle zwei Semester über europäische Geschichte der Neuzeit und, falls genügend Anmeldungen eintrafen, über allgemeine Weltgeschichte, basierend auf seinem Lehrbuch.8 Ausserdem lehrte er europäische Staatskunde, für die Juristen deutsches, preussisch-brandenburgisches und europäisches Staatsrecht, im Sommer theoretische und im Winter praktische Kameralistik und las über Staatspolizei.9 Wahrscheinlich belegte Zschokke die kameralistischen Vorlesungen Hausens nicht schon in den ersten Semestern, da sie ein starkes Interesse an Staatswissenschaften und Verwaltungsfragen voraussetzten. Als junger Student erlebte und interpretierte er die Welt noch aus der Ich-Perspektive, aus einem individualistischen Erfahrungshorizont, und war zu sehr mit persönlichen, religiösen und ideellen Fragen beschäftigt, um sich auf die Staatsverwaltung im Detail einzulassen. Auch die historischen Vorlesungen Hausens, in denen der Professor gerne und ausgiebig aus Urkunden zitierte, waren wenig geeignet, daran etwas zu ändern.
Mit einem 22-köpfigen Lehrerkollegium und etwa 120 Studenten war die Universität überschaubar, das Verhältnis zu den Professoren war unkompliziert und leutselig.10 Dies wog einige Nachteile und Mängel auf, welche die Viadrina hinsichtlich Forschung und Lehre hatte. Es scheint, dass die Professoren bis auf Ausnahmen gut miteinander auskamen. Bei den kleinen Fachschaften galt es, sich gegenseitig auszuhelfen und vor allem nach aussen mit einer Stimme aufzutreten. An der theologischen Abteilung lutherischer Ausrichtung ging es an der Viadrina recht beschaulich zu und her.
Von 1790 bis 1792 wohnte Zschokke mit anderen Studenten bei Professor Hausen an der Forststrasse 1, hier von der Hofseite fotografiert. Über eine Aussentreppe und die hölzerne Galerie gelangte man zu den Stuben im ersten Stock.
Die meisten Theologiestudenten zog es an die Universität Halle, es sei denn, sie waren reformiert. Der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund, der zur reformierten Konfession übergetreten war, hatte 1617 verordnet, die theologische Fakultät der Viadrina solle ausschliesslich dieser Glaubensrichtung dienen. Alle ordentlichen Professuren waren fortan für die Ausbildung reformierter Theologen reserviert.11 Lutheraner wie Zschokke mussten sich an der Viadrina mit ausserordentlichen Professoren begnügen, von denen eine einzige besoldet wurde. Hausen stellte in seiner 1800 erstmals erschienenen «Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder» aber klar, dass die theologischen Diplome der Viadrina jenen der Universitäten Halle und Königsberg gleich seien, da sie die Absolventen befähigten, in Preussen «alle geistlichen Ämter und die Predigerstellen bei den Regimentern auszuüben».12 Diese Qualifikation sagte freilich wenig über die Qualität der Ausbildung aus. Gotthilf Samuel Steinbart hatte seit 1774 eine unbezahlte theologische Professur, war aber zugleich ordentlicher Professor für Philosophie mit einem Jahresgehalt von 400 Talern.
Unter Friedrich dem Grossen konnte sich die Forschung und Lehre relativ frei entfalten, und die Theologen durften ihre Ansichten ungeniert äussern, solange sie nicht der Staatsräson zuwiderliefen. Sein Neffe Friedrich Wilhelm II. (König von 1786 bis 1797) setzte dieser monarchischen Grosszügigkeit ein Ende, indem er seinen Günstling und Berater Johann Christoph Woellner (1732–1800) zum einflussreichen Minister des Geistlichen Departements erhob, unter dessen Leitung 1788 ein Religionsedikt und ein Zensuredikt erlassen wurde, das die religiöse und theologische Aufklärung vor allem an Universitäten und Schulen bekämpfen sollte.13
Auf ausdrücklichen Wunsch des Königs wurde im gleichen Jahr an der Viadrina ein lutherischer Theologe zum bezahlten ausserordentlichen Professor ernannt, einer, der Gewähr bot, dass er «die christliche Religion rein und lauter und nicht nach dem jetzigen verwerflichen Modeton» unterrichte:14 der Pastor an der Frankfurter Marienkirche, Friedrich Nathanael From (1736–1797). Mit dem «verwerflichen Modeton» war die Neologie gemeint, eine auf Vernunftprinzipien basierende Theologie, ein Kind der Aufklärung.15 Die Ernennung war ein Schlag ins Gesicht der vom liberalen Geist geprägten Viadrina, vor allem auch für Steinbart, «den Helden der Vernunft und der Wahrheit, den lichtvollen Denker».16 Dieser trug die Hauptlast der Theologenausbildung Augsburger Richtung, assistiert vom Prediger an der Frankfurter Unterkirche J. G. Hermann, der ebenfalls 1788 zum ausserordentlichen Professor ernannt wurde, aber sein neues Amt gratis versah. Wohl wegen seiner obrigkeitlich verfügten Ernennung, seiner konservativen Einstellung und vielleicht auch wegen seines Vortragsstils, hatte From einen schweren Stand im Kollegium und unter den Studenten. Die Immatrikulationen an der theologischen Fakultät sanken 1790 um ein Drittel gegenüber 1789.17
Dies war die unerfreuliche Situation, als Zschokke im Sommersemester 1790 sein Theologiestudium aufnahm. Welche Vorlesungen er an dieser Fakultät besuchte, ist nicht bekannt, am ehesten jene, die Steinbart in einem viersemestrigen Zyklus anbot.18 Steinbart trug seine Vorlesungen teils nach einem Lehrbuch vor, teils diktierte er sie den Studierenden. Dazu gab er Praktika, im Sommersemester 1790 homiletische Übungen, jeden Morgen von 11 bis 12 Uhr eine historisch-kritische Einführung ins Alte Testament für Lutheraner und um 3 Uhr eine Geschichte der Symbole und symbolischen Bücher der christlichen Kirche (nur montags und dienstags). Ferner hielt er zwei philosophische Vorlesungen: Ästhetik nach seinem Lehrbuch «Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack»19 (um 8 Uhr morgens) und Logik nach seinem Lehrbuch «Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmäßigen Selbstdenken»20 (von 10 bis 11 Uhr).21 Diese beiden Vorlesungen waren propädeutisch gedacht für Hörer aller Fakultäten, also vorab für Anfänger, für die Steinbart regelmässig auch eine allgemeine Einleitung in das akademische Studium gab.
Logik war die am meisten gehörte Vorlesung an der Viadrina, da jeder Studierende, der sich examinieren lassen wollte, ein Testat brauchte, an ihr teilgenommen zu haben.22 Als Lehrender war Steinbart mindestens ebenso sehr Pädagoge wie Theologe und Philosoph, und seine Vorlesungen bezweckten «die Richtung aufs Praktische», wie er Zschokke später in einem Brief in die Schweiz mitteilte.23 Infolgedessen sollte auch seine Logik die Prinzipien der logischen Schlüsse nicht abstrakt referieren, sondern, wie der Titel seines Lehrbuches schon sagt, den Studienanfängern eine gemeinnützige Anleitung zum Selbstdenken vermitteln. Man habe ihm den Vorwurf gemacht, schrieb er in der Vorrede zur 2. Auflage, «daß es für ein akademisches Lesebuch allzupopulär abgefaßt sey, weil die zur Erläuterung der Regeln darin angeführten Beyspiele nicht aus den höhern Wissenschaften, sondern aus dem gemeinen Leben fast sämmtlich entlehnt worden sind».24
Steinbart, «der bedeutendste Sozialethiker der mitteleuropäischen Spätaufklärung»,25 ein Schüler des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der bis zu seinem Tod an der Viadrina gelehrt hatte, war kein Freund des kunstmässigen Spaltens und Zergliederns der Begriffe «bis in solche kleine Theile [...], die nicht mehr mit dem blossen Verstande, sondern nur vermittelst dazu ganz eigentlich zugespitzter technischer Redformeln annoch gefaßt werden können».26 Er zweifelte an der Alltagstauglichkeit von Theorien und hielt «die gesundere und practische Philosophie des Gemeinsinns» der «Unfruchtbarkeit und Unsicherheit der transcendenten Speculationen» entgegen. Sein kaum zu überschätzender Einfluss auf seine Studenten zeigt sich darin, dass Zschokke diese Haltung Steinbarts übernahm.27
Im Zschokke-Nachlass befinden sich drei Nachschriften von Vorlesungen Steinbarts, die über seinen Studienfreund Johann Gabriel Schäffer (1768–1842) Jahrzehnte später an ihn zurückgelangten.28 Die beiden philosophischen Vorlesungen zum praktischen Vernunftgebrauch und zur Frage des Geschmacks29 hatte sich Zschokke bestimmt auch nicht entgehen lassen, aber da ein Lehrbuch vorlag, brauchte er nicht mitzuschreiben. Dagegen haben wir aus dem ersten Semester seine sechzigseitige Niederschrift «Über die Symbola und symbolischen Schriften der christlichen Kirchpartheien und der lutherischen insonderheit».30
Dies war eine Pflichtvorlesung für die Theologiestudenten, aber für Steinbart ein heikles Thema, um das heftige Debatten geführt wurden: Welche Aussagen und Schriften sollten als Dogmen einer Konfession gelten? Musste man sie predigen und glauben, selbst wenn sie dem gesunden Menschenverstand, den Naturgesetzen, der Lebenserfahrung und der philosophischen Ethik widersprachen? Steinbart, der vom englischen Empiristen John Locke und von der Idee des common sense, des gesunden Menschenverstands geprägt war, machte kein Hehl daraus, dass ihm dies schwer fiel. Die allgemeine christliche Kirche bedürfe keiner Bekenntnisse ausser dem Satz: «Jesus ist der Christus, auf welchen die Apostel getauft haben», und das Neue Testament sei ihre einzige Grundlage. Nur Kirchenparteien bedürften zu ihrer Abgrenzung voneinander zusätzlicher Symbole und symbolischer Schriften.31
Steinbart wich einer Konfrontation mit der Orthodoxie aus, indem er erklärte, er trage seine Ansichten historisch vor, ohne über die Richtigkeit der Grundsätze der einzelnen Kirchenparteien zu urteilen.32 Tatsächlich stellte er die Glaubenssätze der verschiedenen christlichen Kirchen einfach nebeneinander, von der evangelischen über die griechische bis zu den anabaptistischen. Es sei Sache der Pastoraltheologie, erklärte er am Schluss seiner Vorlesung, dazu Stellung zu nehmen und ausführlich von «der Autorität und dem Gebrauch der symbol[ischen] Schriften in unseren Tagen, besonders in wiefern sie das Gewissen der Protestantischen Lehrer einschränken», zu sprechen.33
Steinbart legte biblische Texte aus, ohne Rücksicht auf kirchliche Autoritäten oder Traditionen zu nehmen; er nannte Theologen, die wie er vorgingen, «exegetische Aufklärer», welche «durchaus auf den Geist des Christentums oder praktischer Gottseligkeit dringen und die hinzuphilosophierten metaphysischen Lehrbestimmungen des Systems von der Lehre Christi unterscheiden, übrigens jedem es überlassen, in solchen spekulativen Dingen zu denken, wie er es zur Ehre Gottes und Christi nach seiner Philosophie am gemäßesten findet».34 In diesem Sinn hielt er auch seine Vorlesungen. Was er als Irrtum betrachtete, wollte er nicht als Wahrheit ausgeben, auch wenn es von einer Kirche mit dem Siegel des göttlichen Ursprungs versehen wurde. Damit stellte er sich quer zur orthodoxen Strömung in der Theologie, die nach dem Tod von Friedrich II., der jeden nach seiner Façon selig werden lassen wollte, die Politik beherrschte.
Im Wintersemester 1790/91 und im darauf folgenden Sommersemester belegte Zschokke täglich um zehn Uhr Steinbarts zweiteilige Vorlesung «Einführung in die christliche Theologie für Lutheraner». Auch hier liegt, in zwei Quartbänden, Zschokkes Mitschrift vor. Es war Steinbarts theologische Grund- und Hauptvorlesung, die er alle zwei Jahre wiederholte. Darin vermittelte er einen Überblick über die Geschichte der christlich-jüdischen Theologie. Die griechische Philosophie behandelte er ausführlicher als die hebräische Bibel, wie das Alte Testament damals oft genannt wurde. Theologie in einem weiteren Sinn war für Steinbart die Beschäftigung mit den Grundfragen der Existenz. Antworten darauf gab das Leben Jesu’. Nach einem Streifzug zur Entstehung des Christentums und quer durch die Kirchengeschichte bis zur Gegenwart beendete Steinbart den ersten, historischen Teil mit einer Charakteristik der für den aufgeklärten Theologen wichtigsten Denker der unmittelbaren Vergangenheit, darunter auch die französischen Freigeister Voltaire, Diderot, Helvetius und Rousseau.
Steinbart wusste, was seine Studenten von seinen Vorlesungen erwarteten. Obwohl er angeblich keine eigene Lehrmeinung vertrat und sich auch in der Philosophie nicht in Streitigkeiten der verschiedenen Schulen einmischen wollte, besass er doch eine deutliche Vorstellung von der Wahrheit: seine Glückseligkeitslehre. Also baute er sie auch hier ein. Bereits im ersten Abschnitt, vom Zweck der Religionen überhaupt, erklärte er die Religion zur höheren Glückseligkeitslehre. Zschokke folgte ihm darin und machte sich Steinbarts Ansicht für seine Weltanschauung zu eigen, hatte aber einen Vorbehalt, den er als Anmerkung in seine Vorlesungsnotizen eintrug: Falls die Existenz Gottes und ein Leben nach dem Tod die notwendigen Voraussetzungen waren, um die Menschen der höchsten Glückseligkeit zu versichern, wie können wir dann zuversichtlich sein, dieses erstrebte Ziel wirklich zu erreichen, solange wir von Gott und vom Jenseits keine positive Gewissheit haben?35
Im zweiten, dogmatischen Teil behandelte Steinbart die Lehre von der heiligen Schrift als Erkenntnisquelle der christlichen Theologie, ging aber nicht auf die verschiedenen Bücher im einzelnen ein, sondern referierte auch hier über grundsätzliche Fragen und den Umgang mit der Bibel. Da er sich darin auch mit der Lehre von Gott, den Beweisen seiner Existenz und seinen Eigenschaften befasste, sprach man von Dogmatik, und so ist dieser zweiteilige Vorlesungszyklus auf dem Buchrücken von Zschokkes Notizen mit «Steinbarts Dogmatik I» und «Steinbarts Dogmatik II» beschriftet.
Dass diese Vorlesung über die Fakultätsgrenzen hinaus Beachtung fand, belegt ein Brief von Zschokkes Studienfreund Theodor Heinrich Burchardt, dem Landsberger Justizrat, der sich noch 1845 erinnerte, Steinbarts Dogmatik mitverfolgt zu haben, zwar nicht als Hörer – dazu fehlte ihm die Zeit –, sondern nach der Mitschrift eines Kommilitonen.36 Viel von seiner religiösen Denkweise, die damals von Steinbart mitgeprägt wurde, schrieb er, habe er auch in Zschokkes «Selbstschau» wieder gefunden. Man kann behaupten, dass Steinbart einer ganzen Generation von Studenten an der Viadrina seinen Stempel aufdrückte.
Das ehemalige Kollegienhaus der Viadrina, wo sich auch die Universitätsbibliothek befand. Hier ging Zschokke ein und aus. Heute ist hier das Frankfurter Stadtarchiv.
Dass der Mensch das, was er tun solle, auch wolle, da es seinem innersten Wesen entspreche, war Steinbarts Botschaft an die Studierenden. Alle Tugend müsse williger innerer Trieb sein. Im Satz «Du sollst gern wollen!» liege die Idee unseres Strebens, schrieb er Zschokke in seinem einzigen noch vorhandenen Brief.37 Steinbart, der sich eher am Leben orientierte als an absoluten Begriffen, bemerkte zu Kants moralischem Gesetz ironisch: «Der Magen hat auch seinen kategorischen Imperativ: Befriedige mich!»38
Was die Studenten an Steinbart überzeugte, war nicht nur sein Vortrag, sondern die Übereinstimmung von Lehre und Person. Er wird als «liebenswürdige, gesellige Natur» geschildert, schon vom Äusseren als einnehmender Mann. «Auf seiner Stirne sitzt der Verstand und auf seinen Lippen sanfte Beredsamkeit», meinte eine Durchreisende,39 und in Justinus Pfefferkorns Beurteilung der Professoren wird er als «ein wahrer Redner, der seine Zuhörer ganz zu lenken, zu belehren, zu rühren, zu erheitern weiß, ohne daß man Kunst dabey gewahr zu werden glaubt», gerühmt.40 Zschokke verehrte ihn und klebte Steinbarts Schattenriss auf das Titelblatt vom ersten Band der «Dogmatik», selbst wenn er philosophisch eher zu Kant neigte, mit dem Steinbart nicht viel anfangen konnte.41
Die Ausbildung der lutherischen Theologen an anderen Universitäten mochte raffinierter, umfassender, forschungsintensiver sein;42 der Umstand, dass an der Viadrina die theologische mit der philosophischen Fakultät verknüpft war, war aber auch ein Vorteil: So konnte man Ansichten vertreten, die von der Doktrin eines Luther oder Melanchthon und der darauf aufbauenden Orthodoxie oder auch von Woellners Edikten meilenweit entfernt lagen. Steinbart lehrte, in der Nachfolge seines Lehrers und Vorgängers Johann Gottlieb Toellner (1724–1774) auf dem doppelten Lehrstuhl für Philosophie und Theologie an der Viadrina, auch die «natürliche Religion». In der Natur, so war Steinbart überzeugt, spreche Gott ebenso zu den Menschen wie in der Heiligen Schrift. Damit vertrat er die Idee der doppelten Offenbarung, die auch Menschen den Zugang zu Gott ermögliche, die «den herrschenden Vorstellungen und Regeln, welche die Christen in der Bibel zu finden glauben», nicht folgen könnten oder wollten. Die natürliche Theologie beantwortete auch die durch Römerbrief 1, 18 ausgelöste Streitfrage, ob Menschen, die mit der christlichen Lehre nicht in Berührung kämen, dennoch Gott erkennen und seiner Gnade teilhaftig werden könnten.43 Im Wintersemester 1790/91 las Steinbart explizit über theologia naturalis; bezeichnenderweise wurde diese Vorlesung in der philosophischen Fakultät angekündigt, war also ebenfalls für alle Studenten zugänglich.
Von dieser Vorlesung ist uns kein Exzerpt Zschokkes überliefert, aber die dahinter steckende Idee, dass Gott in der Natur, ja in der ganzen Weltordnung sichtbar sei, wurde ein Eckpfeiler seiner eigenen religiösen Weltanschauung. 1819 erschien erstmals Zschokkes Buch «Gott in der Natur. Ein Andachtsbuch in Betrachtungen der Werke des Schöpfers», eine Ausgliederung aus den achtbändigen «Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung». Darin stellte er die Betrachtung der Natur als spirituelles Erlebnis dar und verband Barthold Heinrich Brockes’ gefühlvolle religiöse Gedichte, die ihm seit Kindheit vertraut waren, mit Steinbarts Religionsphilosophie und eigenem Naturerleben. Im Sommer 1794 kündigte er als Privatdozent an der Viadrina selber eine Vorlesung zur natürlichen Theologie an.
Es gibt kein Indiz dafür, dass Zschokke neben den Vorlesungen und Übungen Steinbarts noch andere theologische Veranstaltungen besuchte. Hätte Zschokke sein Theologiestudium gründlich betrieben und sich auf die Ausbildung zum Pfarrer konzentriert, hätte er wohl alle zu diesem Zweck angebotenen Veranstaltungen und Hilfestellungen benutzt. Aber das wollte er gerade nicht. Bei Steinbart fand er bereits den für ihn einzig gangbaren Weg, eine auf philosophischen Grundlagen beruhende Theologie, und da Steinbart das ganze Curriculum der theologischen Lehre und Ausbildung abdeckte, fühlte er sich ausreichend versorgt. Oder anders gesagt: Die Einsichten, die er bei Steinbart gewann, weckten keine Neugier nach theologischen Sophistereien anderer Professoren. Es ist immerhin denkbar, dass er sich an Professor Hermanns Anleitungen und Übungen zum praktischen Kanzelvortrag beteiligte, vielleicht nicht so sehr aus theologischen Gründen, sondern weil ihn die Frage der wirkungsvollen Rede interessierte.
Im kurzen Lebensabriss Zschokkes schrieb Carl Renatus Hausen: «In der Theologie und Philosophie war der Ober-Schul-Rath und Professor Steinbart sein Lehrer, in der leztern auch der Doctor und Professor Berends. Beide verehrt derselbe[,] wie er mir in mehrern Briefen schreibt. Er hatte vielen Trieb und Talent zur Geschichtskunde und wählte mich in den historischen Studien zum Lehrer.»44
Carl August Wilhelm Berends (1759–1826) war Arzt des Kreises Lebus und der Stadt Frankfurt (Oder) und seit 1788 Professor der Medizin. Er hielt im Wintersemester jeweils eine philosophische Vorlesung, gewöhnlich zur Logik, wobei er auch die empirische Psychologie miteinbezog und seinen Ausführungen die «Philosophischen Aphorismen» Ernst Platners (1744–1818) zugrunde legte, seines Berufskollegen in Leipzig. Im Wintersemester 1790/91 hielt er eine Vorlesung über Metaphysik, ebenfalls nach Platner, die er im Jahr darauf modifiziert als «Transzendentelle Philosophie (ehemals Metaphysik)» ankündigte. In der Anzeige dazu erklärte er, er werde die «Kritik der reinen Vernunft voranschicken, um die Zuhörer zur Beurteilung geschickt zu machen, ob diese wohl über jene transcendentellen Gegenstände etwas ausmitteln oder lehren könne? Er wird zugleich die alten Systeme der sogenannten Metaphysik vor der Kantischen Reformation der Philosophie erklären, und deshalb Platner’s philosophische Aphorismen zum Grunde legen».45 Das ist insofern von Bedeutung, da Minister Woellner darüber wachte, dass an seinen Universitäten kein Theologe über Kant las, dem der König 1794 per Kabinettsbeschluss ein Publikationsverbot erteilte.46
Was Zschokke an Gedankenschärfe bei Steinbart vermisste, fand er bei Berends in hohem Grad. Justinus Pfefferkorn war über ihn des Lobes voll: «Er ist Philosoph, und was bey einem Arzt vorzüglich zu schäzzen ist, Skeptiker; besizt ausserordentliche Belesenheit, gründliche Sprachkenntnisse, feinen Scharfsinn und glänzenden Wiz.»47 In seiner Dissertation, eine erkenntnistheoretische Studie, die sich mit der Hypothesenbildung befasst, bezeichnete Zschokke Berends als «vir intelligentissimus, et quem praeceptorem summa pietate colo» (einen sehr intelligenten Mann, den ich als Lehrer mit höchster Ehrfurcht verehre). Dieses Lob war keine blosse Schmeichelei, sondern entsprach persönlicher Zuneigung und Bewunderung.
An der Viadrina brach Zschokkes alte Wunde wieder auf, sein Zweifel an Gott, an der Bestimmung des Menschen und an der Weiterexistenz nach dem Tod. Luthers Wort, ihm vom Vater mit auf den Weg gegeben, «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen», konnte diese Ungewissheit nicht mehr überdecken, denn studieren hiess forschen, Fragen stellen, Widersprüche aufdecken. Es bedeutete, konträre Hypothesen zuzulassen und liebgewordene Ansichten allenfalls zu verwerfen. Die Frage nach der Existenz Gottes konnte in dem rationalistischen Geist, der an der Viadrina herrschte, nicht ausbleiben. Steinbarts System der höchsten Glückseligkeit setzte voraus, dass ein «höchster Anordner» alles plane, überwache und zum Besten richte; falls dies nicht stimmte, verlor das Lehrgebäude seinen Halt.
Zschokke wollte Steinbart, den er ausserordentlich schätzte und um dessen Anerkennung er warb,48 in dieser intimen Angelegenheit offenbar nicht um Rat fragen. Also wandte er sich an Berends, den Skeptiker, was er sicher nicht getan hätte, wenn er nicht sein Wohlwollen empfunden und ihm Vertrauen entgegengebracht hätte. Berends riet ihm: «Hören Sie keine Philosophika. Das Philosophiren läßt sich nicht lernen; so wenig, als das Dichten. Thun Sie, wie ich gethan habe; studiren Sie Geschichte der Philosophie, und zwar das Wesentliche der Philosopheme, in den Werken der Denker selbst. Ein jeder muß sein Glauben und Wissen in sich selber aufbauen, wenn er nicht in fremdem Hause wohnen mag.»49
Den Rat, auf das Philosophieren zu verzichten, konnte Zschokke nicht umsetzen; dass er seinen Weg zur Wahrheit selber suchen musste, ahnte er schon. Wahrscheinlich legte er Berends diese Aussage nachträglich in den Mund, die als Frucht eigener Erkenntnis langsam in ihm reifte. Hinter seinen Wissensstand zurückgehen konnte er nicht. Der Rat zur Umkehr kam zu spät.
Berends war ein sehr beliebter Dozent, und Zschokke hatte die Ehre, ihm zu einem nicht bekannten Anlass 1795 im Namen der Studierenden an der Viadrina ein Festgedicht zu überreichen. Obschon er sich während seines Studiums hauptsächlich auf ihn und Steinbart stützte, bemühte sich Zschokke doch stets, seine eigene Wahrheit zu finden und sich von Doktrinen fernzuhalten. Dies gibt seinen wissenschaftlichen Bemühungen oft etwas Improvisiertes und Autodidaktisches, auch wenn er sich an einer Lehrstätte bewegte. In einem frühen philosophischen Werk, den «Philosophischen Nächten» (1794), die er als «Plaudereien» bezeichnete, schrieb er:
«Ich erkenne keine Schule, keinen Meister. Betrachte mich, lieber Leser, als einen Laien, oder wenn du lieber willst, als einen Partheigänger. Zwar hört’ ich bei einem sehr berühmten Manne über Baumgarten dogmatisiren, bei einem weniger berühmten über Kant und Plattner skeptisiren, aber weder der Glaube des einen, noch der feine Zweifel des andern vollendete mich zu dem, was ich bin, wenn gleich beide ihren Theil dazu beigetragen haben können.»50
Damit waren Steinbart und Berends gemeint.51 Es scheint, dass Zschokke sein Pensum nicht mit Veranstaltungen überlud. Da er mit Zeit und Geld sparsam umgehen musste, auf einen raschen Studienabschluss hinarbeitete und daneben anderen Beschäftigungen nachging, überlegte er es sich genau, wen er hörte und woran er sich orientierte. Die zweieinhalb Jahre nach seiner Promotion benutzte er dazu, sich umfassenderes Wissen anzueignen. Das eigentliche Studium und die Zeit als Privatdozent werden in der Biografie Zschokkes zuweilen miteinander vermischt, da er sich selber dazu nur knapp und unklar äusserte.52
STUDENTENLEBEN AN DER ODER
Er habe, schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau», zunächst den Umgang mit Studenten bis auf jene gemieden, die er von Landsberg her kannte; den anderen Studenten sei er mit Distanz begegnet. Aus der Warte des 70-Jährigen formulierte er: «Der vollen Freiheit längst gewohnt, waren mir ihre sogenannten akademischen Freiheiten und Renomistereien lächerlich; ihre Landsmannschaften, Konstantisten-, Unitisten- und andre Orden kindische Spielerei.»53
Diese Zurückhaltung galt also dem damals üblichen Studententreiben und den Verbindungen, die man grob in Landsmannschaften und Orden einteilen konnte. Die traditionelle Korporation der Studenten erfolgte nach ihrer Herkunft oder Nation. An der Viadrina bestanden seit Beginn eine märkische, fränkische, schlesische und preussische Landsmannschaft; sie wurden trotz ihrer Harmlosigkeit 1732 verboten.54 Die Gründe dafür waren zunächst nicht politisch; das Verbot war als Massnahme gegen «alles ungesittete Betragen der studentischen Jugend» gedacht. So begründete Friedrich der Grosse 1782 seinen Erlass gegen «die unter den Studenten zeithero übliche Verbindungen von Landsmannschaften, Orden und dergleichen».55
Eine Alternative zu diesen national oder sprachlich gegliederten Landsmannschaften waren Studentenorden, wie die seit den 1770er-Jahren in Jena, Halle, Göttingen und Erlangen aufschiessenden Bünde der Unitisten, Constantisten, Confidentisten, Harmonisten oder Independisten, die zum Teil auch an der Viadrina Mitglieder hatten. Das Renommieren, der Kommers oder auch das öffentliche Absingen von Liedern und das Zurschautragen von Uniformen stand nicht im Zentrum dieser Gruppen. Viel eher waren es klandestine Zirkel, in denen sich Studenten über gesellschaftspolitische oder esoterische Themen unterhielten, und, in Nachahmung der Freimaurerlogen, sich zu Tugend-Idealen und Verschwiegenheit verpflichteten.
Vielleicht wurde in solchen studentischen Gemeinschaften über die neusten Ereignisse in Frankreich gesprochen: der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, die Abschaffung der feudalen Standesrechte oder anderer Privilegien durch die Nationalversammlung, die Absetzung und Verhaftung des Königs am 10. August 1792. Aktuelle Zeitungsberichte waren an der Viadrina offiziell kein Thema, aber es liess sich nicht vermeiden, dass darüber privat debattiert wurde und man sich für die Französische Revolution und ihre Helden begeisterte. Es gibt allerdings keine Anzeichen dafür, dass Zschokke sich im ersten Jahr in Frankfurt (Oder) mit der Französischen Revolution und ihren Folgen befasste, geschweige denn in Diskussionen darüber eingelassen hätte. Er verhielt sich unpolitisch und versuchte, Stellungnahmen auszuweichen. Vielleicht war dies mit ein Grund dafür, dass er sich von anderen Studenten fernhielt.
Eine Besonderheit der Viadrina waren die vielen fremdsprachigen Studenten: Sorben,56 Polen und Ungarn aus deren Stammlanden und aus Siebenbürgen. Grund dafür waren die günstige geografische Lage, die theologische Ausbildung für Reformierte und die Möglichkeit, zu einer Beamtenkarriere im östlichen Mitteleuropa ein solides rechts-, kameral- und staatswissenschaftliches Fundament zu legen. Mit einigen von ihnen schloss Zschokke offenbar Bekanntschaft. Als er nach Frankfurt kam, gab es dort vier offiziell gedultete «Kränzchen» in der Nachfolge der Landsmannschaften: ein preussisches, schlesisches, pommersches und markbrandenburgisches. Georg Friedrich Rebmann bezeichnete solche Verbindungen geringschätzig als «Schlägergesellschaften». «Ihr Hauptzweck ist Schlagen und ihr Nebenzweck Saufen.»57 Saufen mochte Zschokke nicht, aber dem Schlagen war er durchaus nicht abhold. Er übte sich im Umgang mit dem Rapier, den er wohl kaum einem der besoldeten Exerzitienmeister der Viadrina,58 sondern einem Mitstudenten verdankte. Wie geschickt er diese Waffe handhabte, erzählte er seinen Söhnen in einer Anekdote:59 Er sei an der Viadrina als ein «guter Schläger» bekannt gewesen. Fast jeden Tag habe er nach dem Mittagessen gefochten, «theils um sich zu üben, theils die Verdauung zu befördern». Eines Tages sei ein Student bei ihm erschienen, um ihm eine neue Finte zu zeigen.60 Sie bestand darin, den Gegner abzulenken, indem man mitten im Duell einen Hieb gegen den Boden führte, und während der andere dem Degen oder Rapier folgte, blitzschnell einen Streich gegen dessen Kopf machte. Zschokke habe den Trick gleich und mit Erfolg am anderen ausprobiert; Scheufelhut, wie der Mittelstudent hiess, sei darob wütend geworden und habe vorgeschlagen, diesmal scharfe Waffen zu nehmen und noch einmal zu beginnen. Zschokke habe zugestimmt, und es sei ihm gelungen, den anderen erneut zu täuschen; sein Hieb habe ihn an der Oberlippe verwundet und ihm einen Zahn gekostet. Darauf habe Zschokke Essig holen lassen, um die Wunde zu säubern. Sie seien als Freunde auseinandergegangen.
Selbst wenn in dieser Darstellung väterlicher Stolz und Prahlerei stecken sollten, ist es erwiesen, dass Zschokke gern und mit Leidenschaft focht. Er betrieb diesen Sport nicht, um Ehrenduelle zu bestehen, sondern weil es ihm Spass machte, und es gelang ihm anscheinend, sich damit einigen Respekt zu verschaffen, auch wenn er sich vom Trinken und Raufen sonst fernhielt.
In Biografien wird der Student Zschokke als zartbesaiteter Träumer beurteilt, schwärmerisch, schüchtern und unbeholfen, so, wie er sich im Nachhinein selber gern beschrieb.61 Dieses Bild muss revidiert werden. War schon der kleine Heinrich ein Wildfang, der mit Holzschwertern focht,62 so wich er auch als Student keiner Kraftprobe aus und zeigte sich draufgängerisch; er wusste sich durchzusetzen und seiner Haut zu erwehren.
Schon im zweiten Semester erhielt er Gelegenheit, sich seinen Kommilitonen und Lehrern ins Bewusstsein zu bringen. Professor Steinbart bat ihn, beim Begräbnis des Mitstudenten Johann Gustav Friedrich Toll (1772–1790), der an Nervenfieber gestorben war, eine Rede zu halten. Zschokke hielt die Traueransprache, obwohl er mit Toll nichts zu tun gehabt hatte. Er verschaffte sich damit die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Studenten und Professoren.62 Auch Ludwig Tieck war an diesem nasskalten Herbsttag unter den Trauernden und schilderte in den Worten seines Biografen Rudolf Köpke seinen Eindruck so:
«Am Grabe sprach ein Student einige Worte der Erinnerung, Heinrich Zschokke aus Magdeburg. Früher Theaterdichter bei der Schauspielertruppe in Landsberg, hatte dieser sich erst spät entschlossen, zu studiren. Seine mannichfachen Erfahrungen, sein männlich ausgebildetes Wesen und Derbheit hatten ihm unter den Studenten bedeutendes Ansehen erworben. Ludwig machte seine persönliche Bekanntschaft, doch weder die Stimmung noch der Augenblick waren zu weiterer Annäherung geeignet.»63
Es ist dies eine von wenigen Beschreibungen über Zschokke aus seiner Studentenzeit und deshalb wertvoll. Sie zeigt, dass er das Grobe, Ungehobelte, das Lehrer Koch ihm 1780 vorgeworfen hatte, zehn Jahre später noch nicht ganz abgelegt hatte, vielleicht aber auch wieder neu kultivierte. Was früher als bäuerisch gerügt wurde, galt jetzt als männlich.
Wir kennen etwa ein Dutzend Studenten, mit denen Zschokke sich befreundete; Carl Günther stellt einige von ihnen mit ihrem Lebenslauf vor, so dass es nicht nötig ist, dies zu wiederholen.64 Dazu gehörte zunächst der Landsberger Karl Weil, mit dem er immatrikuliert wurde, und Gottlob Benjamin Gerlach (1770–1845), Sohn eines Züllichauer Schneiders, der kurz nach ihm an die Viadrina kam und wie Zschokke bei Professor Hausen wohnte. Karl Weil wollte Jurist werden, Gerlach gab als Studienfach Pädagogik an und wurde Pfarrer. Schon 1789 eingeschrieben hatten sich Theodor Heinrich Otto Burchardt (Rechte, später Justizrat und Syndicus in seiner Heimatstadt Landsberg), Karl Friedrich Braumüller aus Strasburg in der Uckermark (reformierte Theologie) und Otto Ferdinand Lohde aus Berlin (Rechte). Im gleichen Semester wie Zschokke trug sich auch Johann Georg Marmalle (1770–1826) aus Königsberg ein, der an der dortigen Universität und unter Kant sein Studium angefangen hatte (reformierte Theologie), ein halbes Jahr danach August Ludwig Hahn aus Landsberg (Rechte, 1809 Regierungsrat, später in Magdeburg) und im Frühling 1791 der Berliner Heinrich Wilhelm Hempel (1771 bis nach 1850; Rechte, Landrentmeister in Koblenz), Enkel der gefeierten Dichterin Anna Louisa Karsch.
Schon fast am Ende ihres Studiums befanden sich Johann Gabriel Schäffer aus Berlin, eingeschrieben im Oktober 1787 (reformierte Theologie, 1799 Pfarrer in Halle und ab 1808 in Magdeburg), und Samuel Peter Marot (1770–1865) aus Magdeburg (reformierte Theologie, 1798 Pfarrer in Berlin, 1816 Superintendent, 1846 Oberkonsistorialrat). Marot war seit April 1788 eingeschrieben und mit Zschokke von der Schulzeit her bekannt.65 Die anderen Mitstudenten verliessen Frankfurt mit der Zeit, und Zschokke verlor sie aus den Augen. Ausser mit Schäffer blieb er nach seiner Abreise von Frankfurt (Oder) nur noch mit Gerlach in Verbindung, vielleicht auch mit Marmalle, der in Berlin am Joachimstaler-Gymnasium Sprachlehrer wurde, und mit den beiden Professoren Hausen und Steinbart.
Es fällt auf, dass Zschokke hauptsächlich mit angehenden Juristen und Theologen verkehrte und mit keinem Mediziner. Da er an der medizinischen Fakultät keine Vorlesungen belegte, waren die Berührungspunkte klein. Es kann auch damit zusammenhängen, dass die Zahl der Medizinstudenten an der Viadrina nach 1788 rapide sank; 1790 schrieben sich noch elf Studenten ein, davon sieben als Prüfungskandidaten. Die Mediziner stellten dennoch über vier Fünftel aller Doktoranden. Der Titel war an der Viadrina leicht zu haben, da die Professoren bei der Disputation kräftig mithalfen, wie Alexander von Humboldt bemängelte, der ein Jahr vor Zschokke hier studiert hatte.66
Ein gutes Mittel, um herauszufinden, mit welchen Kommilitonen ein Student befreundet war und welchen Vergnügungen er nachging, sind Stammbücher. Fast alle Studenten besassen ein solches Buch, in das sich Freunde bei besonderen Anlässen oder beim Abschied eintrugen, mit einem Vers, einem freundschaftlichen Gruss und «Memorabilia», gemeinsamen Erlebnissen, die man in Erinnerung behalten wollte. Neben Diplomen und öffentlichen Auszeichnungen war das Stammbuch das Kostbarste, was ein Student von der Universität mitnahm und meist ebenso gut aufbewahrte wie amtliche Dokumente, Wertpapiere und Quittungen. 1844 besass Zschokke sein Stammbuch noch, wie aus dem Briefwechsel mit Heinrich Wilhelm Hempel hervorgeht; danach wird es nicht mehr erwähnt und taucht auch in seinem Nachlass nicht auf. Zum Glück wird in den Briefwechseln zuweilen aus den Stammbüchern zitiert. In Hempels Stammbuch etwa schrieb Zschokke:
«Unsterblichkeit schnellet die Waage irdischer Minutenfreuden empor, und verspinnt unsern Namen in den Faden jedes Jahrhunderts!
Ewig Dein Heinr. Zschokke
Doct. der Phil»
Und darunter:
«Frft. a/O. d. 25. März 92.
am Abschiedstage.
Symb. Bleib mir ewig hold!»67
Das war der Tag, als Zschokke nach seiner Promotion von Frankfurt (Oder) abreiste, um in Küstrin sein theologisches Diplom, die «licentia concionandi», zu erwerben und dann ein halbes Jahr in Magdeburg zu verbringen. «Symb[olum]» – Marke, Kennzeichen – bezieht sich auf die anschliessende Bemerkung, die beiden als Erkennungszeichen diente, eine Formel, die Zschokke so oder ähnlich oft in Briefen benutzte. In einem weiteren Brief teilte Zschokke Hempel mit, was sich in seinem Stammbuch von Hempels Hand befand,68 zunächst ein schwärmerisches Zueignungsgedicht, dann ein paar Memorabilia:
«3. Die witzigen Impromtü’s meiner Grosmutter in Betreff Deiner, beim Abendessen in der Sommerstube des Prof. Hut
4. Unser Spatziergang nach deiner Stube und unser Brüderschaftstrunk NB. ein Citronenwasser
5. Meine Muse verbeugt sich vor der Deinigen.
6. Die herrlichen Kallenbachschen Lieder: Er ist dahin! – O wein, Mädchen, wein!»
Nicht alle Anspielungen lassen sich klar deuten. In einem späteren Brief brachte Zschokke weitere Memorabilia von Hempel aus seinem Stammbuch: dass sie sich an Sonntagen gegenseitig besuchten oder ein Pastor in vollem Ornat bei Zschokke einmal einen wohlschmeckenden Kaffee getrunken habe – Banalitäten, die aber gerade dadurch die Intimität des Gemeinsamen konservierten.69
Soweit wir die Memorabilia Zschokkes und seiner Freunde kennen,70 spielen die üblichen studentischen Streiche kaum eine Rolle. Neben sonntäglichen Ausritten in die Neumark oder in die Lausitz, nach Pommern oder Polen,71 kleinen Zwischenfällen mit peinlichen oder gut gemeisterten Situationen und Andeutungen auf Gefühle und Liebschaften thematisierten die Studenten ihre Gespräche. Carl Günther gibt einige Memorabilia Zschokkes aus Marmalles Stammbuch wieder: In Erinnerung an die Neujahrsfeier 1790/91 stand da: «Schmerzliche Nachwehen!» Während einer Bootsfahrt sei es zum Streit über das Prinzip der Ästhetik gekommen. «Öftere Fehden unter uns, welche übrigens die Würze der Freundschaft bleiben müssen.» Ferner: «Eine alte polnische Dame wird von mir für die neuankommende Geliebte gehalten. Oh!» In Sommer 1791, nach einem Ritt zu Burgheim nach Landsberg: «Wir bitten Mr. Lichtenfeld und Mamsell D** noch um ein paar Schritte. Es geht ein Herz verloren.»72
Zschokkes erster Eintrag in Marmalles Stammbuch, datiert vom 10. Juni 1791, steht unmittelbar neben jenem von Immanuel Kant vom 22. April, der Marmalle zum Abschied von Königsberg einen sinnigen Spruch von Plautus mitgab: «Tu, si ex animo velis bonum, / Addas operam. Sola cadaver est voluntas.» Zschokke schrieb denselben Vers hin wie bei Hempel und fügte die Frage hinzu: «Bruder bin ich dir so unvergeslich, als Kant der Nachwelt?»73 Weiter hinten in Marmalles Stammbuch hielt Zschokke noch einige triviale Vorgänge fest, die zeigen, dass auch diese Freundschaft nicht nur von gewichtigen Themen bestimmt war.
Hempel, wiewohl für die Juristerei bestimmt, wetteiferte mit Zschokke im Dichten. Seine zwölf Jahre jüngere Schwester Helmina von Chézy, Dichterin wie ihre Mutter Caroline Louise von Klenke und ihre Grossmutter Anna Louisa Karsch, schrieb in ihrem autobiografischen Werk «Unvergessenes» über Hempel und Zschokke:
«Beide Jünglinge waren poetisch, geistvoll, feurig, beseelt. Ihre Treue hat sich bis in das Greisenalter glänzend bewährt. Nur ihre Laufbahn war verschieden, nicht ihr Gefühl, noch ihre Gesinnung. Mein Bruder hätte seinem Talent zur Poesie vertrauen sollen; er hielt sich nicht ausschließlich genug an Zschokke: er gerieth auf abirrende Bahnen, weil er sein Ziel aus den Augen verloren hatte.»74
Die «abirrenden Bahnen» sollten vielleicht das Bedauern ausdrücken, dass Hempel als Beamter das Dichten aufgab und seine Begabung verkümmern liess. Hempel sah es offenbar anders, wie aus dem fünften Memorabilium hervorgeht: Die Einsicht, dass ihm Zschokke hierin überlegen war, musste ihn entmutigen. Das sechste Memorabilium von Hempel bezieht sich auf zwei Gedichte Zschokkes, von denen Zschokke das eine, einen Gruss an einen (weggezogenen? verstorbenen?) Freund, veröffentlichte: «Nach dem Abschiede, an Sanft.»75 Die Innigkeit, die darin zum Ausdruck kommt und durch die Melodie von Zschokkes Magdeburger Freund Kallenbach wahrscheinlich verstärkt wurde,76 lässt erahnen, wie emotional Freundschaften unter Studenten damals sein konnten, zu einer Zeit, da Männerfreundschaften die Beziehung zum anderen Geschlecht ersetzen mussten.
Unverheiratete bürgerliche junge Frauen waren für arme Studenten nahezu unerreichbar; sie lebten in der Obhut ihrer Eltern, bis sie standesgemäss verheiratet wurden. Das Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit wurde auf Männer übertragen, in der Steigerung Freundschaft, Blutsbruderschaft und Leidenschaft, verbunden mit Eifersucht, wobei bis auf die Sexualität alles da war, was zur Intimität gehört. Man ging Arm in Arm durch die Strassen, vertraute sich Geheimnisse an, umarmte sich, küsste sich auf den Mund, weinte gemeinsam, tröstete sich und schwor sich Treue und Liebe bis in den Tod. Man darf das jugendliche Alter – die Studenten waren oft nicht älter als 18 bis 22 Jahre –, die Unaufgeklärtheit und mangelnde Reife nicht ausser Acht lassen. Da die Sexualität bei jungen Männern keine Rolle spielte oder spielen durfte, konnte sich die Zuneigung zueinander enger und unbefangener gestalten als in unserer hedonistischen, übersexualisierten Welt. Gefühle unter Burschen standen in ihrer Intensität und Innigkeit Mädchenfreundschaften in nichts nach. Zschokke ging einige solcher Busenfreundschaften ein, die nach der gemeinsamen Studienzeit ausliefen. Was blieb, waren Erinnerungen, Stammbucheinträge, Gedichte und zärtliche Briefe.
Nachdem man sich ein halbes Jahrhundert lang aus den Augen verloren hatte, trat Zschokke in den 1840er-Jahren mit einigen Kommilitonen wieder in einen Briefwechsel, wobei die Initiative meist von den Freunden ausging, da sie Zschokkes Werdegang und Itinerar leichter verfolgen konnten als umgekehrt. Sein Ruhm hatte jetzt den Zenit erreicht. Aber nicht deshalb knüpfte man wieder Kontakt, sondern im Bewusstsein, dass es eine der letzten Gelegenheiten war, sich gegenseitig der unverbrüchlichen Freundschaft zu versichern, bevor der Tod sie für immer schied. Man zog also das Stammbuch hervor und schwelgte in den früheren Gefühlen und Narreteien, ohne Scham, dafür mit Wehmut.
Dabei wird ein zweites Element solcher Freundschaften deutlich: der Gleichklang der Seelen durch übereinstimmende Gedanken, glühende Ideale, das schwärmerische Weltbild. Es war die Zeit überwallender Empfindungen und grosser Empfindsamkeit. Das Leben hatte sich im Laufe der langen Jahre verflacht und versachlicht, man dachte gern an die leidenschaftliche Jugend zurück. Der im Juni 1791 geschlossene Bund zwischen Zschokke, Lohde und Marmalle wurde bei aller Überspanntheit – man brachte sich beim Ritual der Blutsbruderschaft einen Schnitt am Handgelenk bei, dessen Narbe sichtbar blieb77 – bereits damals ironisch reflektiert. Ein Memorabilium Zschokkes im Stammbuch von Marmalle erinnert daran: «Der Bund für die letzte Lebensstunde und irdisches Wohl, geschlossen bei unserm Bluttrank und einer Schüssel grüner Erbsen!»78
Ein Kreis um Zschokke erhielt oder gab sich den Namen «Chocolatebrüder», da er sich mit flüssiger Schokolade oder Zitronenwasser begnügte, statt den Brauch deutscher Verbindungsstudenten an den Tag zu legen, die Freundschaft mit Bier zu besiegeln. Mit einigen Studenten, vielleicht gerade mit diesen Schokoladebrüdern, ging Zschokke ein besonders enges Verhältnis ein. Man dachte sich neue Welten oder Abenteuergeschichten aus oder spekulierte über philosophische und religiöse Fragen, über Utopien; hier durfte die Phantasie überborden, ohne Anstoss zu erregen. Zschokke war Mittelpunkt dieses Kreises, der auf ihn befruchtend zurück wirkte. Ideen und Konzepte, die hier entstanden, arbeitete er zu Aufsätzen oder Romanen aus; die Erzählung «Abällino, der grosse Bandit» scheint hier ihren Ursprung zu haben.79 Liest man Zschokkes auf Fortsetzung angelegte zweibändige Publikation «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen», so findet man vieles davon wieder, was diesen Freundeskreis damals beschäftigte.
Ein Thema, mit dem Zschokke sich damals intensiv auseinandersetzte, blieb die Frage des Lebens nach dem Tod. Wenn es ihn schon irritierte, dass die Existenz Gottes sich nicht zweifelsfrei beweisen liess, so verstörte ihn der Gedanke erst recht, dass mit dem Tod alles zu Ende sein sollte. Also begann er nach Alternativen zur naiven jüdisch-christlich-muslimischen Vorstellung einer physischen Wiederauferstehung zu suchen. Gefunden hat er sie in der Idee der Seelenwanderung bei den Pythagoräern, Brahmanen, Buddhisten und in der christlichen Gnosis. Die Ergebnisse seines Nachdenkens und der Gespräche mit Freunden legte Zschokke im Aufsatz «Vergangnes Seelendasein und dereinstiges» unter dem Pseudonym Johannes von Magdeburg nieder.80
Dieser Aufsatz ist ein Schlüsseltext zum Verständnis von Zschokkes religiöser Entwicklung, und wenn er auch die Vorstellung einer Wiedergeburt bald wieder aufgab, so hielt er doch noch länger an der Idee der Vervollkommnung des Menschen im diesseitigen Leben fest, in der Beglückung der Mitmenschen und in der Freude am Dasein. Der irdische Genuss, die intellektuelle und moralische Bildung und nicht das Versprechen auf ein Jenseits war die Genugtuung, die Gott dem Menschen schenkte. Der eigentliche Sinn des Lebens sei Freundschaft, Weisheit und Menschenliebe. In zwei Gesprächen – schwärmerisch mit einem Fräulein von Z. und philosophisch mit Myron – erläuterte Zschokke seine Idee der Seelenwanderung weiter und hob ihre Vorteile gegenüber anderen Theologien hervor.81 Auch wenn sie nicht mehr als eine Mutmassung sei, habe sie eine «wohlthätige Stärke»82 und müsse schon deshalb verfochten werden, da sie Plausibiliät besitze und «den vortheilhaftesten Einfluß auf Sitten und Karakter des Volks» haben könne.83
Otto Ferdinand Lohde (1770–1851), später Jurist und während vierzig Jahren Bürgermeister in Hildesheim, erinnerte ihn 1841 an jenen «Bunde ewiger Treue und unverbrüchlicher Freundschaft», der vor fünfzig Jahren, «bei Gelegenheit unsrer Unterhaltung über Entstehn, Seyn und Tod – Prae und Post Existenz der Seele unter uns geschloßen und mit Blut unterkreuzet wurde», und er führt ausser seiner und Zschokkes Unterschrift auch die von Johann Georg Marmalle an.84 Als Gottlieb Lemme, der die Schule beendet hatte und sich in der Tuchherstellung betätigte, im Sommer 1791 einmal nach Frankfurt (Oder) kam, führte Zschokke ihn in den Freundeskreis um Marmalle, Lohde, Gerlach und Braumüller ein und liess ihn an Gesprächen über die Seelenwanderung teilhaben.85
Nicht nur die Kommilitonen, sondern auch die Professoren schätzten Zschokke, so dass man ihn zu Anlässen und in Salons einlud. In der «Selbstschau» wird der Hauskreis der Professoren Hausen, Steinbart, Berends und des Astronomen Huth erwähnt.86 Die Dichterin Anna Louisa Karsch (1722–1791) reiste im August 1790 nach Frankfurt (Oder), um dafür zu sorgen, dass es ihrem Enkel, der sich im Mai eingeschrieben hatte, an nichts gebrach. Hempel nahm Zschokke zu einem Treffen ins Sommerhaus von Professor Huth mit. Beruhigt kehrte sie nach Berlin zurück und starb im folgenden Jahr.87 Was Anna Louisa Karsch Geistreiches zu Zschokke sagte – siehe das dritte Memorabilium von Hempel –, ist nicht festgehalten, aber sie lobte Professor Huth als «einen jungen vortrefflichen Mann».88
Im März 1791, noch vor Ende seines zweiten Semesters, verliess Zschokke für sechs Wochen Frankfurt (Oder), um nach Magdeburg zu fahren. Wahrscheinlich versuchte er, die Vormundschafts- und Erbschaftsangelegenheit zu beenden, denn er war gerade 20 Jahre alt geworden. Auch Friederike Ziegener zog ihn hin, und diesmal wollte er ausgiebig auch seine Freunde und Verwandte besuchen. Wir wissen dies aus seinem Brief an Gottlieb Lemme, dem er nach seiner Rückkehr nach Frankfurt schrieb, und erfahren daraus, dass er wie im Jahr zuvor herzlich empfangen worden war und seinen Aufenthalt länger ausgedehnt hatte als geplant.89 Etwas verärgert teilte er Gottlieb mit, dass sich seine Arbeit häufe und er in seiner Abwesenheit viel versäumt habe. Er hatte sich mit den Lemmes versöhnt und wollte von Frankfurt aus einen Auftrag für die Schwester erledigen, schickte Friederike Ziegener Klaviernoten, seinem Neffen Gottlieb sein Gedicht «Bundeslied der Freundschaft», der Nichte Dorothea Lemme die Melodie dazu und seinen Geschwistern insgesamt einen weiteren, ausführlichen Brief, den er unter allen zirkulieren zu lassen bat. Seine Beziehung zu Friederike hatte sich intensiviert. «Empfiehl mich Rikchens Liebe und bleib mir gut», schloss er den Brief an Gottlieb.
DIE SCHWARZEN BRÜDER
Ende 1790 hatte Zschokke einen Roman angefangen, der als Trilogie mit dem Titel «Die schwarzen Brüder» zwischen 1791 und 1795 erschien.90 Eine Kostprobe daraus gab er bereits im «Schriftstellerteufel»: den spannenden Anfang, der mit einem Pistolenknall im Zimmer des Helden und dem Ausruf seines Freundes: «‹Gottlob!› und wild und glühend – – –»91 abbricht.
Er knüpfte damit an die Geheimbundromane an,92 die bereits vor Schillers «Geisterseher» (1787–1789)93 und Goethes «Wilhelm Meisters Lehrjahre»94 in Deutschland ihr Publikum gefunden hatten. Die Leserschaft liebte das wohlige Gruseln, das die Erzählungen von geheimnisvollen Mächten hervorriefen, welche aus einem Versteck die ganze Welt ausspionierten und manipulierten und nach Belieben Menschen formten und beeinflussten. Es waren profane Allmachtsphantasien mit moralischem Einschlag, wenn die Ordensführer und ihre Emissäre als Rächer zugange waren, um das Böse zu bestrafen, die Welt neu zu ordnen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Umgekehrt liessen sich mit etwas Phantasie und Umbiegung der Kausalitäten politische Umstürze, ja sogar Revolutionen mit dem Wirken von Geheimgesellschaften erklären. Durch das Verbot und die Enthüllung der Pläne der Illuminaten zwischen 1784 und 1787 in Bayern und die herumschwirrenden Verdächtigungen und Verschwörungstheorien bezüglich der Jesuiten, Freimaurer und Rosenkreuzer wurde das Interesse mächtig angeheizt.95
Es war für den Romancier um 1787 schon beinahe Pflicht, einen Geheimbundroman verfasst zu haben, je irrwitziger die Konstruktion, desto besser. Der Unsinn, den Denunzianten wie Baron von Mändl und andere gegen die Illuminaten verbreitet hatten, war sowieso kaum noch zu überbieten.96 Das Endziel der Illuminaten sei gewesen, hatte er behauptete, die Welt zu beherrschen, alle einträglichen Posten mit Ordensmitgliedern zu besetzen und wer ihnen hinderlich war, mit Gift und Dolch aus dem Weg zu räumen. Auch Zschokke, sein Magdeburger Mitschüler Carl Friedrich August Grosse und der junge Ludwig Tieck benutzen diese Motive für ihre Romane «Der Genius» (Grosse), «Geschichte des Herrn William Lovell» (Tieck), «Die schwarzen Brüder» und «Die Männer der Finsterniß» (Zschokke). Nachdem im ersten Band der «Schwarzen Brüder» allerlei Machenschaften, Verschwörungen, der Sturz eines despotischen Fürsten und die Initiation des Helden Florentin in den Geheimbund der Schwarzen Brüder abgehandelt sind, werden Florentin und Holder im dritten Band mit einem Schlafmittel ins Jahr 2222 versetzt, wo es Luftschiffe, elektrisches Licht und Deckenlampen («Krystallsonnen» oder «Zimmersonnen») und eine rein philosophische Religion gibt, den «Salomonismus», der, ausgehend von Kant, in seinem Urteil alles Irrationale meidet.
Die Beobachtungen, Abenteuer und Diskussionen in dieser Welt füllen den dritten Band aus. Es ist eine Vorschau auf die Zukunft mit utopischen und dystopischen Elementen. Die Menschen haben alle sie beschränkenden Institutionen und Regeln hinter sich gelassen und fühlen sich frei, zu denken und zu glauben, was sie wollen. Doch diese Freiheit macht sie nicht glücklich; sie befinden sich in einer Sinn- und Orientierungskrise. Damit stellt Zschokke eine mögliche Folge der geistigen Emanzipation des Menschen dar. Bezeichnenderweise fehlt in diesem dritten Band ein Erziehungskonzept, das seit Thomas Morus eine zentrale Rolle in Utopien einnimmt. Die Welt im Jahr 2222 besteht aus einer mehr oder minder statischen Gesellschaft, die mit Neid auf die Vitalität der Menschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts blickt, wo vieles noch machbar schien und grosse Veränderungen bevorstanden.
Man kann die «Schwarzen Brüder» als phantastischen Roman lesen und kommt auch dabei auf seine Rechnung. Diese Sichtweise schlägt Zschokke selber vor. Er habe stets die wundervollen Märchen des Orients geliebt und statt eines orientalischen Märchens ein deutsches geschrieben, statt Zauberer und Elfen «den geheimen Bund einer ausgebreiteten Gesellschaft» gezeigt und «wo mir der Wunder noch nicht genug waren, schuf ich neue».97
Den Roman voreilig auf den Trivialaspekt zu beschränken, wird vorab dem utopischen dritten Teil nicht gerecht, der voller philosophischer Überlegungen steckt und der Frage nachgeht, wie es Menschen erginge, die eine agnostische Weltanschauung lebten.98 Florentin schaudert es: «Religion und Moral, bürgerliche Glückseligkeit, Ruhe der Seelen – alles wird von diesem Ungeheuer verschlungen. [...] Es ist eine Philosophie, die zur Verzweiflung führt.»99 – Zschokke musste es wissen, kämpfte er doch selber damit. Der Glaube von einst sei zwar nur Ammenmilch gewesen, aber eine Milch, auf die man schwer verzichten könne.100 Auch in die ersten beiden Bände streute Zschokke Überlegungen und Argumente ein: zu sozialen Problemen, politischen Machenschaften, längst fälligen Reformen; sie enthielten auch eine veritable Kritik der Woellnerschen Edikte, die er aber stets als subjektive Meinung von Personen in der Romanhandlung darstellte. Die bedenklichsten Aussagen schob er dem Geheimbund der Schwarzen Brüder in den Mund: Gründe, die es rechtfertigten, dass ein Volk seinen Herrscher stürze.
«... soll der zertretne Wurm sich nicht krümmen dürfen unter den eisernen Fersen der Grausamkeit? soll das freigebohrne Volk seine geraubte Freiheit nicht wiederfodern dürfen?
O, es müssen viele Szenen vorangehn, ehe die Nazionen sich auflehnen, ehe die Liebe zu ihren Beherrschern ausgetilgt wird! Nur die Verzweiflung wagt erst einen solchen Schritt, aber dieser ist dann auch desto fürchterlicher!
Nur erst, wenn jede andre Hoffnung dem bedrängten Volke entschwindet, wenn eine ganze Reihe von Tyrannen und Tyranneien die Geduld desselben ermüdete, wenn neue Neronen zum Ruin des Landes ausgebildet, die traurigste Aussicht in die Zukunft darstellen, nur dann erst ist das Volk berechtet, eigenmächtige Veränderungen in seiner Regierung vorzunehmen.»101
Was bei Zschokke als Warnung an die Regierungen gedacht war, die Unterdrückung des Volks nicht auf die Spitze zu treiben, es nicht in Verzweiflung zu stürzen, aus der heraus sich seine Natur gegen den Herrscher auflehnen müsste, wurde im Roman zum Programm der Schwarzen Brüder. Ihre Absicht, insgeheim dem Volk zu helfen, seine Unterdrücker loszuwerden, gipfelt im Ausruf: «Es lebe republikanische Freiheit.»102 Ohne selber Stellung zu beziehen, arbeitete er in seinen Geheimbundroman aktuelle politische Fragen und Auseinandersetzungen mit ein, die sich im Zusammenhang mit der Revolution in Frankreich und der Stimmung in der Ära Woellner in Frankreich ergaben.
Zschokke erklärte in der Vorrede zum zweiten Band, er sei missverstanden worden, wenn man in den «Schwarzen Brüdern» versteckte Anspielungen auf Personen oder gar einen Schlüsselroman suche. «Viele denken sich unter den schwarzen Brüdern nichts geringers, als die Herrn Freimäurer, andre wieder einen Orden aus Kagliostros Fabrik; und beide Theile habens doch nicht getroffen!»
Das Buch wurde Zschokkes erster Bestseller, mit drei Auflagen und verschiedenen Raubdrucken bis 1802.103 «Es wird mit Ungestüm gelesen und verschlungen», schrieb Zschokke an Behrendsen.104 Er hatte sich den Ruf eines viel versprechenden jungen Romanciers erworben, der sich dadurch auszeichnete, dass er jedes Jahr zwei bis drei erfolgreiche Bücher zu produzieren in der Lage war. Seine Verleger versahen das Titelblatt seiner nächsten Romane mit dem empfehlenden Zusatz «vom Verfasser der schwarzen Brüder».105 Er hatte seinen ersten (und für viele Jahre einzigen) Roman in voller Länge geschrieben, durchkomponiert und zum Abschluss gebracht, ohne dass viele Fragen offen blieben, und, vor allem wichtig: Sein Buch konnte die Leser bis zum Schluss bei Laune halten.
Dennoch war Zschokke damit nicht zufrieden, vielleicht gerade weil sein Erfolg so gross war. Zeitlebens hatte er ein ambivalentes Verhältnis zu seinen belletristischen Werken, vor allem wenn er spürte, dass sie nur der Unterhaltung wegen gelesen wurden. Er sah sich als Aufklärer und Beweger, nicht als Entertainer. Dieser mentale Vorbehalt war sicherlich ein Grund dafür, dass er sein grosses Talent als Erzähler nie richtig zu schätzen wusste, es nie so pflegte, dass er auch stilistisch zu den gewichtigeren Schriftstellern seiner Zeit hätte aufschliessen können. Nach seinem Abschied aus Deutschland wurde für Zschokke das Erzählen mehr und mehr ein Mittel zum Zweck, Tendenzliteratur, so dass sein Talent immer seltener aufblitzte und schliesslich verkümmerte. Er sah später keinen Sinn mehr darin, dem Eskapismus Vorschub zu leisten. Aber in dieser frühen Periode seines Dichtens lebte Zschokke seine Lust am Fabulieren, Fantasieren und Philosophieren noch ungehemmt aus.
DOKTOR DER PHILOSOPHIE, MAGISTER DER SCHÖNEN KÜNSTE
Es könnte den Anschein haben, dass Zschokkes Studium über dem Dichten nicht vorangekommen sei. Aber er erwog nie, nur noch zu schreiben. Dazu schien ihm die Lage des Schriftstellers zu prekär. Ein Dichter war von der Laune des Publikums und des Literaturmarkts abhängig und seinen Verlegern ausgeliefert. War ein Buch erfolgreich, so konnte man darauf wetten, dass kurz darauf ein Raubdruck erschien. Ein Urheberrecht gab es nicht, auch keine Literaturpreise, die einen Dichter über Wasser halten konnten. In der Öffentlichkeit begegnete man den Schriftstellern mit Misstrauen und Geringschätzung. Sie galten als wenig kreditwürdig. Wie nüchtern Zschokke die Lage des freiberuflichen Schriftstellers einschätzte, zeigt sein Roman «Der Schriftstellerteufel».
Statt sein Studium zurückzustellen oder an den Nagel zu hängen, machte er sich vielmehr daran, es zu beschleunigen. Er besuchte weiterhin theologische Vorlesungen Steinbarts, konzentrierte sich aber stärker auf Philosophie und die schönen Künste, um statt in Theologie in diesen Fächern abzuschliessen. Das ersparte es ihm, sich vertiefte Kenntnisse in Griechisch und Hebräisch erwerben und mit den Religionswächtern des Ministers Woellner herumschlagen zu müssen, die in der lutherischen Fraktion der Viadrina immer noch durch Professor From vertreten waren.
Am 14. Mai 1791 wurde auf Woellners Betreiben und mit Rückgriff auf das Religionsedikt vom 9. Juli 1788 die geistliche Immediat-Examinationskommission geschaffen. Zu ihren Obliegenheiten gehörte die Prüfung der Geistlichen (einschliesslich der Feldprediger) vor ihrer Ordination beziehungsweise Anstellung. Die Pfarrer wurden verpflichtet, im Sinn der Orthodoxie zu predigen. Unter den gegebenen Umständen war es verständlich, dass Zschokke sich einer solchen Kommission nicht stellen wollte. Am 26. Januar 1792, mitten im vierten Studiensemester, wandte sich Zschokke an Dekan Professor Johann Gottlob Schneider (1750–1822) und die anderen Professoren der philosophischen Fakultät mit dem Gesuch, ihn den schriftlichen und mündlichen Prüfungen zur Erteilung eines Doktors der Philosophie und Magisters der freien Künste zu unterziehen. Die beiden Titel waren verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe,106 wurden an der Viadrina aber selten verliehen, weil nur wenige Studenten ihren Abschluss in Philosophie machten.107 Da zur philosophischen Fakultät die eigentliche Philosophie, aber auch die philologisch-literarischen, historischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Gebiete und als Besonderheit der Viadrina die gut ausgebaute Nationalökonomie gehörten, musste, wer sich in Philosophie prüfen liess, einen Parcours durch alle diese Fächer (mit Ausnahme der Ökonomie) absolvieren.
Zschokke entschuldigte sich bei Schneider, dass seine Kenntnisse in Mathematik nicht ausreichten, um ein examen rigorosum zu bestehen, und bat «um gütige Nachsicht, besonders da ich von dem Werth derselben für die Philosophie zu sehr überzeugt bin, als daß ich auch künftig versäumen sollte, weitere und glüklichere Fortschritte in denselben zu machen».108 Hier waren die Professoren bereit, ein Auge zuzudrücken. Gravierender war Zschokkes Schwäche in den alten Sprachen, die auch hundert Jahre nach Christian Thomasius’ erster Vorlesung auf Deutsch (an der Universität Leipzig) missbilligt wurde. Zschokke gab Schneider unter vier Augen zu (teilte dieser seinen Kollegen mit), dass er in der Latinität ungeübt sei. Damit stellte Zschokke sein Licht unter den Scheffel, denn er konnte sich sehr wohl in Latein ausdrücken. Er kannte Schneiders strenge Massstäbe und wollte sich wohl einer scharfen Beurteilung entziehen, handelte sich aber erst recht Kritik ein. Schneider beanstandete zudem, dass Zschokkes Gesuch nicht auf Latein abgefasst sei. An Zschokkes Stelle würde er sich schämen, rügte auch Professor Huth, in einer solchen Angelegenheit deutsch zu schreiben. Überhaupt habe Zschokke sich noch zu wenig mit ernsthaften Wissenschaften abgegeben, um bereits als Gelehrter gelten zu können. Steinbart bedauerte ebenfalls, dass Zschokke sich für sein Studium nicht mehr Zeit genommen und sein Latein gefestigt habe. Diese Bemerkungen wurden auf Zschokkes Gesuch geschrieben, das unter den Professoren zirkulierte.
Was die Professoren also vor allem störte, war der frühe Anmeldetermin. Sich im vierten Semester reif für ein Magisterexamen zu halten, war stark; es setzte aussergewöhnliches Talent oder besondere Gründe voraus, und beides hatte Zschokke nicht vorzuweisen. Andererseits mussten sich die Professoren bei aller Eitelkeit im Klaren sein, dass sie einem jungen Mann nicht wesentlich mehr bieten konnten, als in vier Semestern zu lernen war. Daran trug die philosophische Fakultät selbst Schuld. Das Studium war nicht richtig strukturiert, und Steinbart fing seine für Anfänger gedachten Veranstaltungen alle zwei Jahre von vorne an. Was aber die sprachlichen Fähigkeiten betraf, so war ihr Erwerb Sache der Studenten und wurde nicht in besonderen Kursen gefördert. Man konnte einen Examinanden nicht gut abweisen, nur weil man vermutete, er sei fachlich ungenügend vorbereitet. Es sollte ja gerade das Ziel der Prüfungen sein, Zschokkes Sattelfestigkeit zu erfahren, namentlich in Latein. In diesem Sinn äusserte sich Professor Hausen, der sich beredt für Zschokke ins Zeug legte. Er gab es als seinen Fehler aus, dass die Eingabe auf Deutsch verfasst war, da er ihm gesagt habe, es komme nicht darauf an. Zschokke habe natürliche Fähigkeiten, sei in Geschichte nicht ungeschickt und habe dank privatem Fleiss seine Zeit an der Universität gut genutzt. Er musste es wissen, war doch Zschokkes Studierstube in seinem Haus an der Forststrasse stets mit Büchern übersät. Nachdem sie ihrer Verärgerung Luft gemacht hatten, lenkten auch die anderen Professoren ein. Professor Wünsch109 war bereit, sein naturwissenschaftliches Prüfungsthema wieder zu streichen, und auch Professor Huth willigte ein, Zschokke wegen seines «bekannten Fleißes und stillen guten Lebenswandels» zu prüfen, und zwar, wie die Kollegen, angesichts der schlechten Vermögenslage des Prüflings, auf dessen Bitte zu einer Gebühr von 24 statt der üblichen 40 Taler.110
Jeder Professor gab ein Thema vor – Steinbart aus der Logik und Huth ein mathematisch-philosophisches –, das Zschokke bis zum 10. März schriftlich zu bearbeiten hatte. Eine Woche darauf fand im Haus von Professor Schneider die mündliche Prüfung statt. Mehr erfahren wir von Carl Günther nicht, was darauf schliessen lässt, dass er in den Archiven von Breslau und Berlin auch nicht mehr fand als die Beurteilung, die er so zusammenfasst: Die Professoren seien nach der Prüfung «noch nicht sonderlich von den Fähigkeiten des Kandidaten entzückt» gewesen.111 Zschokke selber meinte sich nur noch zu erinnern, zwei seiner Examinatoren seien sich in die Haare geraten, «ich glaube der Gnostiker wegen».112
Ihr Vorbehalt hinderte die Fakultät nicht daran, beim preussischen Oberschulkollegium am 19. März die Erlaubnis einzuholen, Zschokke zum Doktor der Philosophie und Magister der freien Künste zu ernennen. Dank der Empfehlungen der Viadrina und der Tatsache, dass Steinbart in diesem Gremium sass, erhielt sie diese problemlos. Die Genehmigung erfolgte am 27. März,113 Zschokkes Diplom wurde auf den 24. März datiert.114 Das war der Tag, an dem die öffentliche Disputation seiner Dissertation «Hypothesium diiudicatio critica» stattfand.115
Diese Dissertation ist eine erkenntnistheoretische Abhandlung zur Bildung von Hypothesen und ihrer Klassifikation, 19 Seiten Latein, mit Thesen, die Zschokke gegen zwei Opponenten (seine beiden Freunde Gottlob Benjamin Gerlach und Johann Georg Marmalle) während mehr als drei Stunden verteidigte, notabene ebenfalls in Latein und sine praeside (ohne Vorsitz).116 Seine Dissertation erschien in üppiger Aufmachung und auf dickem Papier beim Universitätsbuchdrucker Apitz, mit einer lobenden Würdigung und Freundschaftsbezeugungen Marmalles und Gerlachs versehen, ebenfalls lateinisch.117 Nach Studentenbrauch wurde Zschokkes Abschluss enthusiastisch gefeiert. Marmalle und Hempel trugen ein Glückwunschgedicht vor, das sie ihm auch gedruckt überreichten.118
Bereits am nächsten Tag ritt Zschokke nach Küstrin, um, wie er in der «Selbstschau» schrieb, eine theologische Prüfung zu absolvieren und für die preussischen Staaten ein Diplom zu empfangen.119 Im Familienarchiv Zschokke in Basel befindet sich ein Dokument, geschrieben und unterschrieben von Johann Christian Seyffert am 26. März 1792, königlich preussischem Konsistorialrat, neumärkischem Superintendent und Inspektor und Oberprediger in Küstrin, dass er Zschokke an diesem Tag kraft seines Amtes die Erlaubnis erteilt habe, in Preussen zu predigen. Dies war nicht die ganze «Prüfung in seinen Kenntnissen zur Gottesgelahrtheit», wie Zschokke in den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» schrieb,120 sondern nur das ius concionandi, die Öffnung zum Predigtamt.
Zschokkes Universitätsdiplom als Doctor philosophiae et liberalium artium (Doktor der Philosophie und der freien Künste), ausgestellt am 24. März 1792, am Tag seiner öffentlichen Disputation.
Nach seinem theologischen Examen kehrte Zschokke noch einmal kurz nach Frankfurt (Oder) zurück, räumte sein Zimmer bei Hausen, verabschiedete sich von den Freunden, trug sich in verschiedene Stammbücher ein und ritt oder fuhr dann nach Magdeburg. Im Abschiedsgedicht von Hempel und Marmalle vom 24. März schwingt Bewunderung für den erkämpften Titel und für das künftige Leben des jungen Doktors mit, das klar und hell erschien. Er werde nun ein halbes Jahr in Magdeburg bleiben, hiess es in poetischer Form, und dann nach Frankfurt zurückkehren, um Vorlesungen zu halten: «Juble mit uns! künftig sind wir Hörer, / Sind des ernsten Freundes Ruhmvermehrer –». Auch das Privatleben stellte sich in den rosigsten Farben dar: In Magdeburg erwartete ihn seine Auserwählte, Rikchen, mit offenen Armen: «Wie im Paradiese wirst Du leben, / Himmelsruhe wird Dich dort umschweben, / leere ganz den Freudenbecher aus!»121
Zschokke besass mit seinen 21 Jahren alles, was ein Student erträumte: einen akademischen Abschluss, eine Braut und eine glänzende berufliche Zukunft. Dazu kam ein wachsender Ruhm als Dichter, treu ergebene Freunde, kurz: eine rundum angenehme Perspektive. Darüber würden auch jene Wunden heilen, die Zschokkes Miene zuweilen noch verdüsterten, «tief geschlagen vom verlornen Glück», wie es im Gedicht heisst. Was wollten die Freunde damit andeuten? Die anhaltende Trauer um des Vaters Tod? Eine unglückliche Liebe? Der Abschied oder Tod eines geliebten Freundes?
IN DER VATERSTADT AUF DER KANZEL
Ermutigt durch seine beiden Gönner Hausen und Steinbart hatte Zschokke beschlossen, als Privatdozent an der philosophischen Fakultät zu wirken. Da die Eingabe für Vorlesungen im Februar erfolgen musste, hätte er es nicht mehr geschafft, sich für das Sommersemester einzutragen, falls dies sein Wunsch gewesen wäre. Stattdessen beschloss er, bis zum Herbst zu pausieren. Die Reise von Ende März 1792 nach Magdeburg war für ihn eine Rückkehr auf Zeit und auf Probe.
Er wohnte das halbe Jahr bei seiner Schwester Lemme an der Dreiengelgasse, womöglich wieder in dem Hintergebäude, wo er schon als Kind zwei Jahre verbracht hatte, diesmal aber mit anderem Vorzeichen: Jetzt war er repräsentabel und respektabel geworden. Er war nicht mehr der lästige kleine Bruder und Schwager, an dem man seine schlechte Laune ausliess. Sein Groll gegen die älteren Geschwister hatte sich längst gelegt; den ersten Band von «Schwärmerey und Traum» widmete er seinen Schwestern, und zu Neujahr 1791 hatte er Dorothea Lemme mit einem kurzen Gedicht überrascht, das er auf ein Nadelkissen schrieb und ihr zuschickte.122
Ein Umstand erhöhte Zschokkes Bekanntheit in Magdeburg beträchtlich: Mit seiner licentia concionandi in der Tasche predigte er an mehreren Stadtkirchen; eine Voraussetzung, falls er eine Pfarrstelle antreten wollte. Nun war dies vielleicht nicht sein eigentliches Berufsziel, aber das Predigen war eine gute Gelegenheit, sich als Redner zu üben und seine Wirkung auf ein grösseres Publikum zu studieren. Kanzel und Theater waren für Zschokke ja ebenbürtige Mittel, um die Menschen zu erziehen. Seine Mitarbeit an einer Wanderbühne war eine Episode gewesen und vielleicht auch nicht der geeignete Ort für eine Belehrung oder Bekehrung des Publikums; jetzt versuchte er es als Prediger, und es gelang ihm, legt man die «Selbstschau» zu Grunde, erstaunlich gut, die Gemeinde in Bann zu schlagen.123 Indem er predigte, geriet er selber in Rührung, und wenn er in den Zuhörern christliche Gefühle und Gottvertrauen weckte, überzeugte er sich selber ein Stück weit.124
Zufälligerweise starb während seiner Anwesenheit in Magdeburg Georg Andreas Weise,125 zweiter Pfarrer an St. Katharinen, der ihn unterwiesen und konfirmiert hatte. Auf Ersuchen seiner Witwe, behauptete Zschokke in der «Selbstschau», habe er einige Monate lang seine Predigten übernommen und sich, durch den Erfolg ermutigt, der Wahl für Weises Nachfolge gestellt. «Wenig, man sagt, nur eine Stimme, fehlte, die St. Katharinengemeinde hätte ihn zu einem ihrer Pastoren erwählt.»126 Eigenartigerweise fanden weder Carl Günther noch Pfarrer Kurt Haupt, der Historiker der Katharinenkirche, Zschokkes Namen im Kirchenarchiv in den Wahlakten.127 Haupt folgert daraus, dass Zschokke seine Bewerbung noch vor dem Wahlakt zurückgezogen haben könnte. Nachfolger von Weise wurde Christian Conrad Duhm, der zuvor Lehrer am Lyzeum in Brandenburg war, 1801 zum ersten Prediger an St. Katharinen gewählt wurde und sich 1815 nach Bardeleben versetzen liess.
Falls Haupts Annahme stimmt, lässt sich nur spekulieren, was Zschokke daran gehindert haben könnte, schon vor der Wahl aufzugeben. Von Behrendsen erfahren wir, dass er sich während seines Aufenthalts in Magdeburg mit Friederike Ziegener verlobte.128 Da ihr Vater als administrativer Kirchenvater im Vorstand der St. Katharinenkirche sass, hätte Zschokke gute Gründe und einige Chancen gehabt, dort Prediger zu werden. Vielleicht kamen ihm Bedenken, sich so früh schon zu binden, in Magdeburg zu bleiben und eine Familie zu gründen – er war ja erst 21 Jahre alt. Die sichere Zukunft, die Hempel und Marmalle ihm angesungen hatten oder die Vorstellung, ein Leben lang Glauben zu heucheln, war ihm womöglich nicht ganz geheuer. Dies war vielleicht auch einer der Gründe, der bei den Kirchenvorstehern gegen seine Wahl sprach. Zschokke führte ihn selber an: «seine allzugroße Jugend, hieß es, sey einigen der ‹Kirchenvätern› d. i. den Wahlherrn, anstößig gewesen».129 Der Unterschied zu dem frommen Vorgänger liess sich kaum übersehen. Zschokkes Christentum war philosophischer Art und gründete nicht auf dem Glauben, sondern auf dem Zweifel, der Vernunft und den Grundwerten der Ethik. Kants Moralphilosophie war nicht gerade das, was sich die Pietisten in der St. Katharinengemeinde für ihre Sonntagspredigt wünschten. Es mögen noch andere Vorbehalte gegen Zschokke vorgebracht worden sein. Vielleicht wurde ihm dies von Ziegener mitgeteilt, und er zog sich auf seinen Rat zurück, um eine Spaltung im Vorstand und in der Gemeinde von St. Katharinen zu vermeiden.
Noch nach über dreissig Jahren nagte es an Zschokke, dass man ihn damals nicht als Pfarrer haben wollte.130 Es war eine jener schmerzlichen Kränkungen, die er nur schwer verkraftete, was vielleicht auch dazu beitrug, dass er nach 1792 Magdeburg nie mehr aufsuchte und die Verlobung mit Friederike zwar nicht auf-, aber auch nicht einlöste. Mit Glockengiesser Ziegener blieb er noch einige Jahre in freundschaftlicher Verbindung – vielleicht ist dies ein Zeichen dafür, dass er wenigstens die Stimme seines ehemaligen Vormunds bei der Pfarrwahl bekommen hatte.
Seine Predigten brachten Zschokke mit einigen der bedeutendsten Magdeburgern in Kontakt. Er selber erwähnte den reformierten Pastor an der Heiligengeistkirche, Konrad Gottlieb Ribbeck (1759–1826), der 1805 nach Berlin berufen wurde und als Probst und Prediger an der Nicolai- und Marienkirche auch Beichtvater der Königin Luise und anderer Mitglieder der königlichen Familie wurde. Zschokke schätzte ihn als grossen Kanzelredner und schrieb 1795 über ihn: «Die Gewalt, welche er über Blik, Miene, Gebehrdenspiel und Stimmengang erworben hat, gehört zu den Seltenheiten.» Er fügte hinzu: «Die gebildeten Einwohner Magdeburgs wissen aber diesen Mann auch zu schäzzen. Sie haben ihn für immer an ihre Stadt gefesselt, und Ribbek ist dankbar.»131 Der zweite war Georg Samuel Albert Mellin (1755–1825), Prediger der Deutsch-reformierten Gemeinde und Kant-Interpret. Ribbeck und Mellin waren nicht nur erfolgreiche Theologen, sondern auch philosophisch gebildete Aufklärer, und es schmeichelte Zschokke, dass sie seinen Predigten Beifall zollten. Auch ehemalige Lehrer schlossen sich den Gratulationen an.132
In einem Brief an Lemme erwähnte er, dass er in Magdeburg mit viel Glück (Erfolg) moralische Vorträge gehalten habe.133 Ob er damit seine Predigten meinte, Vorlesungen in einer gelehrten Gesellschaft oder im familiären Rahmen, liess er offen; vielleicht stimmte er sich damit auch nur auf das künftige Wintersemester in Frankfurt (Oder) ein. Ein Verein, wo solche Vorträge angemessen gewesen wären, war die Freimaurerloge «Ferdinand zur Glückseligkeit». Hier fanden öffentliche Vorträge zu naturwissenschaftlichen und philosophischen Themen statt.134 Da Zschokke wahrscheinlich erst im Mai 1795 in die Kette trat,135 ist es ungewiss, ob er mit der Magdeburger Loge in Berührung kam, obwohl über Freunde und aus weltanschaulichen Überlegungen schon lange Verbindungen zur Freimaurerei bestanden.
In der Gelehrtenwelt und in der breiten Öffentlichkeit Magdeburgs hinterliess Zschokke keine Spuren, bis, mit einem Paukenschlag, Carl Döbbelin im April 1795 Zschokkes Erfolgsstück «Abällino, der grosse Bandit» zur Aufführung brachte. Döbbelin gastierte mit seiner Wandertruppe fast jedes Jahr in Magdeburg, auch von April bis Juli 1792. Obwohl wir darüber ebenfalls keine Kunde haben, dürfen wir davon ausgehen, dass Zschokke die Aufführungen nach Möglichkeit besuchte, und falls er es nicht tat, so erhielt er während der Messezeiten in Frankfurt (Oder) noch einmal Gelegenheit dazu.136
Zschokke schloss sich seinem Neffen Gottlieb Lemme an, der noch im Elternhaus wohnte und bis 1816 Junggeselle blieb, also über viel Freizeit verfügte. Sie frühstückten gemeinsam, sassen im elterlichen Garten auf einer Rasenbank, spazierten in den Parkanlagen, spielten Schach oder fochten mit dem Rapier.137 Mit Lemme liess sich das ungebundene Leben von Frankfurt (Oder) fortsetzen; hier fand Zschokke Verständnis für seine Dichtungen und seine extravaganten Ideen. Von Lemme brauchte er auch keine Vorwürfe zu befürchten, musste er seine Stimmungsschwankungen nicht verbergen. Wie eng er ihn ins Herz schloss, wie tiefe Einblicke in sein Inneres er ihm gewährte, zeigt ein Gedicht, das er ihm auf einem roten Seidenband im November 1792 zu seinem Geburtstag schenkte. Gemeinsam würden sie ihr Leid teilen, bis die Nacht vorbei sei und ein schönerer Morgen emporsteige. Auch in die Ewigkeit würden sie einst eng umschlungen eingehen.138
An das Gebäude in Lemmes Garten – vielleicht an die Mauer jenes Hinterhauses, wo Zschokke als Kind einquartiert war – schrieb Zschokke den Spruch: «Weinet nicht, denn Gott ist unser, unser ist das Los der Freundschaft, was bedürfen wir mehr, um den Traum des Lebens schön zu träumen!»139 In den «Schwarzen Brüdern» waren dies die Abschiedsworte der sterbenden Augusta von Gülden an ihre Freunde,140 für Zschokke magische Worte, die auch in die Gedichtsammlung «Feldblumen» aufgenommen wurden.141
Andreas Gottfried Behrendsen, der sich zum zweiten Mal verheiratet hatte – Charlotte Eltzner, Zschokkes Cousine mütterlicherseits, war bei der Geburt des ersten Kindes gestorben –, fühlte sich von Zschokke vernachlässigt und beklagte sich bei ihm einmal darüber. Darauf sei Zschokke rasch auf ihn zugelaufen, habe ihm gedroht: «Ich werde Ihnen gleich das Maul stopfen!», und ihm einen Honigkuchen in den Mund gesteckt.142 Zschokke wurde Pate von Behrendsens Tochter, die am 30. September 1792 getauft wurde.143 Mit Fritz Schocke, dem ältesten Sohn seines Bruders, der ein Jahr später von Magdeburg wegzog, einem weiteren Gefährten aus der Kindheit, traf sich Zschokke wahrscheinlich ebenfalls hie und da, während der vierte im Bund, Heinrich Faucher, sich in Küstrin aufhielt, wo ihn Zschokke im Vorjahr aufgesucht hatte.144
Zschokke gewöhnte sich in diesem Sommer an den Müssiggang, was bei ihm nie mit Nichtstun oder Faulheit zu verwechseln ist. Er führte sein schriftstellerisches Werk weiter. Zwar kam 1792 ausser seiner Dissertation nichts an die Öffentlichkeit, aber das lag vor allem daran, dass er sich im vergangenen Jahr hauptsächlich auf die Prüfungen vorbereitet hatte. Jetzt war er von diesem Druck befreit und wandte sich dem zweiten Band der «Schwarzen Brüder» zu. Vermutlich ebenfalls in Magdeburg fasste Zschokke den Entschluss, seine neue Buchreihe «Bibliothek nach der Mode» zu eröffnen. Gemeinsam mit den «Schwarzen Brüdern» erschien der erste und einzige Band zur Ostermesse 1793 bei Johann Andreas Kunze in Frankfurt (Oder).
So adrett gekleidet und frisiert könnte sich Zschokke zu seiner Doktorprüfung und danach in Magdeburg präsentiert haben, um sich als vielversprechender Dichter und Gelehrter einzuführen. Porträt eines unbekannten Künstlers.
Von Magdeburg aus unternahm Zschokke längere Ausflüge, allein oder mit Begleiter, falls er jemanden dazu überreden konnte. Den Norden und Nordosten der Stadt kannte er bereits einigermassen, nicht aber den Westen und Süden, wenn man vom Ausreissen des 10-Jährigen nach Dessau einmal absieht. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» erwähnte er «Lustreisen in die Waldthäler und Höhlen des Harzgebirges, in die paradiesischen Gärten von Wörlitz, in die Herrnhutergemeinde Barby, oder zum berühmten Bücherschatz von Wolfenbüttel».145
In der «Selbstschau» erläuterte er des Längeren, was er in Barby wollte und erlebte, und dass er gegenüber seinem Führer den Wunsch geäussert habe, selber Herrnhuter zu werden, was dieser ihm ausredete.146 Das passt so wenig zu seinen damaligen Einstellungen und Plänen, dass man seine Ausführungen nicht ganz ernst nehmen kann. Graf von Zinzendorfs Idee einer grossen heiligen Familie, in welche sich die erste Einfalt und Liebe des Urchristentums geflüchtet habe,147 die Vorstellung einer Gemeinschaft ohne Standes- und Rassen-, ja ursprünglich nicht einmal Geschlechtsunterschiede, zog ihn an. Der Gewissensdespotismus und das Treffen wichtiger Entscheidungen durch das Los, mit der «vernunftwidrigen» Behauptung, dass Gott darauf einwirke, stiessen ihn ab. Das brauchte ihm freilich nicht in Barby aufgegangen zu sein; es liess sich auch nachlesen. Auch seine Entscheidung, «die bisherige Geistesfreiheit jedem Klosterzwang, protestantischem wie katholischem vorzuziehn» und ein Weltkind zu bleiben,148 hatte er sicher nicht seinem Führer in Barby zu verdanken, sondern sich selber erarbeitet.149 Ohne Zweifel hatten der Ausflug nach Barby und ein zweiter in den Harz für Zschokke eine grosse Bedeutung.
Von seiner Harzreise erhalten wir einen kleinen Einblick dank einem Aufsatz, den er 1793 publizierte: «Die Baumannshöhle im Harz. (Bruchstük einer Reisebeschreibung.)».150 Die Reise ging über Wernigerode und Elbingerode zum Brocken. In mystischer Überhöhung schildert er seine Empfindungen im Anblick von Wernigerode und der Gebirgskette des Harzes:
«Still wars am Himmel und auf Erden; die Natur feierte das Fest ihrer Schönheit, und meine Seele war Harmonie mit dieser Natur. Verherrlichung Gottes strahlte herab von den Felsen, herab vom Himmel. Der Gesang der Vögel in den Gebüschen, das Murmeln verstekter Quellen verherrlichte Gott! die fallende Blüte, das einsame Veilchen der Wiese, der schwirrende Käfer verherrlichte Gott! Und, hingerissen von diesem begeisternden Anblik, übermeistert von den Gefühlen der Bewunderung und Liebe, betete ich an, in der großen Kirche der blühenden Natur und Gott hörte gewiß mein flüsterndes Gebet, sah gewiß die Thräne, welche meinem Auge entstürzte – denn mir ward so wohl!»151
Hier kommt Zschokkes Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung zum Ausdruck, sein Bedürfnis, in und hinter der Natur einen tieferen Sinn, die Weisheit Gottes, Gott selber zu erkennen. Die Harzreise gab ihm eine neue Dimension der Naturerfahrung, die ihm als Kind in Brockes’ Lehrgedichten nicht zugänglich gewesen war. Das Erleben der Natur wirkte seinem drohenden Nihilismus in den existentiellen Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu entgegen. Die Natur wurde für Zschokke die zweite Offenbarung Gottes; hier erahnte er, was in der mit menschlichen Schwächen behafteten Kirche, im Pietismus oder bei den Herrnhuter nicht zu finden war: die sinnliche Idee der Religion, das Christentum des Lebens.
Infolgedessen musste auch die Beschreibung dieser Natur zum priesterlichen Amt werden, eine Verkündigung Gottes in der Leuchtkraft der Sprachbilder, der Intensität des Gefühls, im Ausgreifen über den persönlichen Horizont und Alltag hinaus in eine inspirierte Welt. Eigentlich wäre bei Zschokke zu erwarten gewesen, dass eine solche Erkenntnis eine Flut von Gedanken und Publikationen ausgelöst hätte – das war vorerst nicht der Fall. Der Mensch blieb in dieser gottbeseelten Natur für Zschokke noch ausgespart; er war ein staunender Beobachter, als Aussenseiter auf sich selber zurückgeworfen.
Um es vorwegzunehmen: Jahre später, auf der Terrasse des Schlosses Reichenau, beim Anblick des Zusammenströmens von Vorder- und Hinterrhein, wurden ihm auch das Wesen und der Sinn des Menschen in Gottes Natur greifbar, in einer kosmologischen Vision, die den religiösen Zschokke prägte und ihn bis zu seinem Tod nicht mehr losliess. Alexander von Humboldts «Kosmos»,152 hiess es, war die Lektüre, die in den letzten Jahren seines Lebens aufgeschlagen auf seinem Schreibpult neben der Bibel lag.153
PRIVATDOZENT UND GELEHRTER
Mitte Oktober 1792 kehrte Zschokke nach Frankfurt (Oder) zurück, nach einem kurzen Aufenthalt in Potsdam, wo er Gottlob Benjamin Gerlach besuchte, und in Berlin, wo er einige Tage bei Johann Georg Marmalle verbrachte. «Nie hat in meinem Leben ein Abschied tiefern, schmerzlichern und bleibendern Eindruk auf mein Herz gemacht – als der lezte von Euch. Gott wolle, daß ich kälteres Blut bekomme, es wird mir nüzlich sein!», schrieb er seinen Verwandten und den befreundeten Familien Mehl154 und Ziegener.155 Am 22. Oktober begann das Semester an der Universität. Zschokke bot an der philosophischen Fakultät vier Vorlesungen an: Ästhetik nach Eberhard,156 Kirchengeschichte, Moralphilosophie nach Schmid157 und eine Auslegung der vier Evangelien. Er gefiel sich darin, nicht mehr Student, sondern Privatdozent zu sein. Sein Anfang war viel versprechend:
«Der 29t October erschien. Es schlug 11 Uhr zu Mittag: ich hörte das Getümmel der die Treppen heraufdonnernden Studenten, hörte ihre sonorischen Stimmen ihre klirrenden Spornen[!]. Holla, dacht ich[,] da kömmt das wüthende Heer! – Ich meditirte in der Eil auf eine schikliche Anrede, zur Eröfnung meiner Vorlesungen, nahm meine Hefte unterm Arm, trat ins Auditorium[,] bestieg mit vieler Eleganz und Autorität das Katheder und hielt eine kurze Rede an die versammleten Zuhörer, deren Liebe und Freundschaft ich mir zum Lohn meiner Bemühungen für sie ausbat.
Ich gefiel den Studenten in der Anrede und machte mit meinem Vortrag der wissenschaftlichen Gegenstände hier fast eben so vieles Glük, als in Magdeburg durch meine moralischen Vorträge. Meine Collegia waren von diesem Tage an, der für mich für iede Zukunft entscheidend sein mußte, gut besezt, und allein in der Kirchengeschichte hab ich über 20 Zuhörer – welches hier auf der Universität viel sagen will[,] da die theologische Fakultät am schlechtesten besezt ist, und zweitens ein älterer Lehrer, als ich[,] nämlich ein Doktorandus Dettmers158 eben diese Wissenschaft zu gleicher Zeit vorträgt, der aber nur etwa ein halbes Duzzend Studenten hat, die dies Collegium bei ihm besuchen.»159
Eine weitere Kollision, wenn man so sagen will, ergab sich mit Steinbart, der zur gleichen Zeit wie Zschokke – nachmittags zwischen zwei und drei Uhr – Ästhetik nach seinem Buch160 vortrug. Aber auch hier stellte Zschokke mit Genugtuung fest, er habe ebenso viele Zuhörer wie sein Professor.
«Allein alles dies erregt gewiß wieder den Neid der mich schon in Magdeburg verfolgte. Zwar entdekke ich noch keine Spuren, aber ich glaube immer, es wird sich über lange oder kurze Zeit ein Ungewitter über mich zusammenziehn! – Doch, das macht mich nicht bange. Ich stehe da vor Gott und Menschen mit einem guten Gewissen, mit einem eisernen Fleis gutes zu stiften – und ist Gott für mich, wer will wieder[!] mich sein?»161
Er sei, schrieb er Lemme, «iezt wieder Gelehrter oder vielmehr iezt will ichs in der That werden». Damit spielte er auf die sieben Monate in Magdeburg an, die anderen Dingen als dem Studium gewidmet waren. Er beschränke sein Leben aber auch jetzt nicht auf die Universität. Kaum einen Abend sei er in seiner Stube – damit meinte er möglicherweise bereits seine Wohnung an der Oderstrasse in der Nähe der Universität, wo er sich als Privatdozent einquartierte162 –, sondern verbringe seine Freizeit in Gesellschaften, die er sich selber ausgewählt habe, und sei dabei vergnügt, so gut es ihm möglich sei.163
Die Gesellschaften, von denen Zschokke hier schrieb, waren private Einladungen der Professoren oder Treffen in familiärem Kreis: beim Ehepaar Hausen an der Forststrasse 1 und schräg gegenüber, an der Forststrasse 3, wo der Universitätsbuchdrucker und Verleger Christian Ludwig Apitz (1763–1828) und dessen Frau Sophie wohnten. Mit Apitz eng befreundet war das Ehepaar Schulz an der Schwertfegergasse (nachmals Kleine Scharrnstrasse); die beiden Frauen waren Schwestern. Schulz war Stadtchirurg und hatte mehrere Töchter; eine hiess Johanna Elisabeth und war ein Jahr älter als Zschokke. Er verliebte sich heftig in sie, und sie scheint seine Gefühle erwidert zu haben; unglücklicherweise war sie schon dem 15 Jahre älteren Juristen Christian Gottlieb Jachmann (1755–1798) versprochen.
Mit der Familie Schulz verbrachte Zschokke viel Zeit, ebenso mit der Familie von Kaufmann Karl Friedrich Harttung (gest. 1827), Inhaber eines Wachswarengeschäfts. Vor allem dem Söhnchen Karl («Karlchen») Harttung (1790–1866) war Zschokke eng verbunden. Hier, aber auch beim Ehepaar Apitz, setzte er seine Praxis fort, Gedichte zum Geburtstag, Neujahrs- oder Hochzeitstag auf ein seidenes Band zu schreiben.164 In seinen Briefen redete Zschokke die Ehepaare Schulz und Apitz mit Cousin und Cousine an; dies erhöhte für ihn den familiären Bezug ihrer Freundschaft.
Diese geselligen Zusammenkünfte in Frankfurt (Oder) könnte man mit den Salons in Berlin vergleichen, obwohl der Teilnehmerkreis kleiner, familiärer und die Zusammensetzung der Gäste konstanter war. Sie ergaben sich aus dem Bedürfnis des bürgerlichen Mittelstands nach Austausch und Unterhaltung einerseits, und aus dem Bestreben von Professoren wie Steinbart, Huth, Hausen, Berends und Wünsch andererseits, Studenten um sich zu scharen und durchreisende Gelehrte und Dichter einzuladen. Alle drei Arten der Geselligkeit, die gelehrte, die schöngeistige und die familiäre, waren für den jungen Akademiker und Dichter eine sinnvolle Ergänzung. In einem Brief ihres Mannes an Zschokke umschrieb Frau Hausen im Postskriptum, welches Zschokkes Platz in ihrer Runde gewesen war: «Glauben Sie, daß in unserem kleinen Zirkel zu welchem wie Ihnen bekannt Mad. Müller, Minchen Badernoc und meine zwey Kinder gehören, die sich Alle Bestens empfehlen, ein leerer Raum ist. Bald erinnert das Fortepiano an das genossene Vergnügen, bald die Sommerstube, ersteres an Ihre angenehmen Vorspielungen, letzeres an Ihre oft muntere und scherzhafte Unterhaltungen, die wir alle so gerne hörten.»165
Der Mittwoch von fünf bis sieben Uhr war bei Zschokke für Sitzungen der Königlichen Sozietät der Wissenschaften reserviert, die bei Hausen an der Forststrasse stattfanden. Hausen hatte seit 1791 den Vorsitz der 1766 von Professor Darjes166 gegründeten «Gelehrten Gesellschaft zum Nutzen der Künste und Wissenschaften»167 übernommen. Diese Runde brachte Akademiker, fortgeschrittene Studenten und Anfänger zu wöchentlichen wissenschaftlichen Gesprächen zusammen. Kurz nach Übernahme des Präsidiums schaffte Hausen die Aufnahmegebühren und jährlichen Beiträge ab, mit der sich die Gesellschaft bisher finanziert hatte, «da unter den armen Studierenden oft die besten Köpfe seyn konnten», die solche Gebühren nicht bezahlen konnten.168 Studenten, deren wissenschaftliche Ausbildung man fördern wollte, wurden als Adjunkte aufgenommen, als erster am 7. Dezember 1791 der Kandidat der Philosophie und Gottesgelehrtheit Johann Heinrich Daniel Zschokke. Hausen schrieb über ihn: «Er besuchte die Versammlung unausgesezt und stiftete vielen Nutzen.»169 Kurz vor seiner Abreise, am 4. Mai 1795, wurde Zschokke «wegen seines in den schönen Wissenschaften sich erworbenen Ruhms und Verdienstes» zum ordentlichen Mitglied erhoben.170 Weitere Adjunkte aus Zschokkes Freundeskreis waren Gerlach, Hempel oder Marmalle.
«Von den drei Jahren, die ich nun in Frankfurt, als akademischer Privatdocent, verlebte, läßt sich wenig berichten», schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau». «Sie verflossen arm an Ereignissen, doch nicht ohne Anmuth.»171 Wenn er unter «Ereignissen» seine religiöse Entwicklung verstand, so hatte er Recht; in dieser Hinsicht fand nicht mehr viel statt. Auch in seiner akademischen Karriere kam er nicht voran, jedenfalls nicht so schnell, wie er es sich vorgestellt hatte. Was seine literarische Tätigkeit und seine Vorlesungen betrifft, die in diesen Jahren gewiss seine hauptsächlichen Aktivitäten waren, so schienen sie ihm nachträglich kaum der Rede wert. Dennoch geben sie einige interessante Einblicke in seine Biografie.
Jedes Semester bot Zschokke von elf bis zwölf Uhr morgens eine Vorlesung über Kirchengeschichte an, nicht an der theologischen Fakultät, wo er nicht zu lehren berechtigt war, sondern bei den Philosophien in der Unterabteilung «historische Privatlektionen». Weiter las er im Sommer über christliche Altertümer.172 Als philologische Privatlektionen gab er eine Auslegung von Büchern des Alten und Neuen Testaments: einmal der vier Evangelien, ein andermal der katholischen Briefe, der Apokalypse und der Briefe von Paulus an die Römer. Auch philosophische Privatlektionen kündigte er an: in seinem ersten und in seinem letzten Semester zur Ästhetik – das zweite Mal nach seinem Buch «Ideen zur psychologischen Ästhetik» (1793)173 –, ferner zur Moralphilosophie nach Schmid174 und zur natürlichen Theologie. Im Sommer 1793 gab er eine Vorlesung über Rhetorik und Dichtkunst175 und im Winter 1793/94 eine weitere zur Philosophiegeschichte von der ältesten bis zur neueren Zeit.
Zschokke kündigte jedes Semester als Dozent drei einstündige tägliche Vorlesungen an, im ersten Semester 1792/93 sogar vier. Ob er sie tatsächlich hielt, hing vom Interesse der Studenten ab; offenbar bestand durchaus eine Nachfrage. Zschokkes Vorlesungen waren beliebt, was an seiner Jugendlichkeit und der Frische des Vortrags, am Inhalt, der strikt rationalen Sicht auf die Religion und der Kritik an der Kirche lag. Wenn Zschokke in «Eine Selbstschau» behauptete, er habe alles vermieden, um den Gemütsfrieden der Jünglinge nicht durch Zweifel zu erschüttern,176 so meinte er damit wohl nur Zweifel am Glauben, nicht aber an der Kirche und ihren Dogmen.
Bei Zschokke wussten die Studenten, dass er gegenüber Woellner und dem Religionsedikt kein Blatt vor den Mund nahm. Sie bekamen Wahrheiten über die Kirche bei ihm zu hören, die andere Dozenten nicht oder nur verblümt zu äussern gewagt hätten. Als ihn Behrendsen nach seiner Abreise in die Schweiz fragte, ob ihn diese kritische Einstellung zur Kirche seine Professur gekostet habe, widersprach er: «Daß mich meine Heterodoxie vom Catheder gebracht hat, ist ein Mährchen, sie hat mich vielmehr hinauf gebracht.»177 Später behauptete er allerdings das Gegenteil,178 was seither in alle Darstellungen perpetuiert wurde. Erst Carl Günther begann aufgrund der Aktenlage diese Version wieder in Frage zu stellen,179 leider ohne dass seine Erkenntnis in der Zschokke-Literatur Spuren hinterliess.
Der Studienführer von Rebmann,180 der 1794 unter dem Titel «Katheder-Beleuchtung von Justinus Pfefferkorn» erschien, stellte an der Viadrina neun ordentliche Professoren und als einzigen Privatdozenten Heinrich Zschokke vor.181 Über ihn ist zu lesen:
«Ein junger talentvoller Mann, der sich zu einem guten akademischen Lehrer mit vielem Fleiß und Glück bildet. Er ist weit entfernt, seinen ehemaligen Lehrern nur geradezu nachzubeten, wie bey angehenden Dozenten nur allzuoft der Fall zu seyn pflegt, sondern er denkt selbst sehr scharfsinnig über jeden Gegenstand, den er ergreift, besizt eine für seine Jahre außerordentliche Belesenheit in verschiedenen Fächern der Gelehrsamkeit, womit er einen durch das Studium der schönen Wissenschaften gereinigten Geschmak verbindet. Er ist selbst Dichter, und eines seiner kleinen frühern Werke ist zur Lieblingslektüre der Deutschen geworden. Seinem Vortrag weiß er aus dem üppigen Reichthum seiner Fantasie vieles Interesse zu geben; es fehlt ihm nicht an Würde, Praezision und Deutlichkeit, nur daß er zuweilen durch das ihm eigene Feuer verleitet wird, zu schnell zu sprechen, ein Fehler, für den er seine Zuhörer schadlos zu halten weiß.»182
Rebmann, der als Zeitungsredaktor in Dresden lebte, konnte die Daten über die sieben berücksichtigten Universitäten nicht alle selber erheben; er hatte Zuträger, vermutlich fortgeschrittene Studenten oder Dozenten, und jener, der von der Viadrina berichtete, ergänzte zu Zschokke: «Im gesellschaftlichen Leben ist er freundschaftlich und gefällig, und eine gewisse sanfte Schwermuth, die ihm eigen ist, leiht seinem Umgange manchen Reiz, der dem Herzen wohl tut.»183
Er habe sich, schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau», um dem «Schattenreich der Metaphysik» zu entkommen, in seiner Dozentenzeit «mit ganzer Macht auf das Studium der sogeheißenen Realwissenschaften; auf Naturkunde, auf Finanz-, Polizei-, Forstwesen und neueste Zeitgeschichte» gestürzt.184 Es gibt kaum unmittelbar Zeugnisse – Briefe, Aufsätze, Vorlesungsskripten oder Aussagen Dritter –, die belegen, dass Zschokke sich in Frankfurt (Oder) tatsächlich ernsthaft mit ökonomischen und staatspolitischen Themen befasste. Nachweisbar ist einzig seine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass in der zweiten Periode an der Viadrina sein Interesse an der Kameralistik erwachte und eine teilweise Umorientierung von der Metaphysik und Theologie zu den Realwissenschaften stattfand, die aber erst in der Schweiz manifest wurde.
IDEEN ZUR PSYCHOLOGISCHEN ÄSTHETIK
Über ästhetische Fragen hatte Zschokke schon längst Ideen entwickelt. Unter dem Eindruck von Steinbarts Vorlesung über Ästhetik im Sommersemester 1790 schrieb er für den «Theaterkalender auf das Jahr 1791» einen Aufsatz über relative Schönheit, worin er darlegte, dass es sich bei der Beurteilung des Schönen um eine Geschmacksfrage handle, also eine subjektive Angelegenheit, und es daher von Intoleranz zeuge, wenn Kritiker ihre Meinung anderen als die einzig richtige aufdrängten. Besonders treffe dies bei Theaterstücken zu. «Ich wünschte diesen Zeilen die allgemeine Beherzigung der Kritiker und Kenner und man würde aufhören die Journale zu Tummelplätzen der aus Irrthum sich hassenden Schönheitsbeurtheiler zu machen!»185
Andererseits hatte sich Zschokke selber als Beurteiler und Verfasser von Dramen um Kriterien bemüht, nach denen die Qualität eines Theaterstücks und einer Theateraufführung bemessen werden konnte, und das hiess, ästhetische Massstäbe anzulegen. Man kann das Zeitalter der Aufklärung auch als eines der Ästhetik sehen und die Ästhetik neben der Geschichtswissenschaft und der Anthropologie als dritte grosse neue Disziplin im System der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts.186 Ästhetik ist dabei zunächst in einem weiteren Sinn zu verstehen, als eine Wissenschaft der Wahrnehmung oder der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitiva), wie Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der Begründer der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin, sie in seiner «Aesthetica» von 1750 definierte.
Im engeren Sinn war Ästhetik mit der Frage verknüpft, wieso etwas als schön oder hässlich empfunden werde, und welcher Mittel es bedurfte, um diese Wirkung zu erzeugen. Darum ging es auch Zschokke, als er 1793 sein Buch «Ideen zur psychologischen Aesthetik» schrieb, das zur Herbstmesse im Buchhandel erschien.187 Er konnte sich dabei weitgehend auf das Lehrbuch von Steinbart abstützen, den er bald als «mein grosser Lehrer»,188 bald als «würdiger Mann» oder «achtungswürdiger Weltweiser»189 bezeichnete, ohne sich inhaltlich aber stark auf ihn zu beziehen.
Zschokke umschrieb das Prinzip der Ästhetik mit der Formel «freie Mittheilung schöner Empfindungen»190 und setzte sich als Ziel seiner Untersuchung die Beantwortung der Frage: «Wie und wodurch werden schöne Empfindungen mitgetheilt?»191 Gerade diese Frage nach der Produktion des Schönen vermochte er aber nicht zu beantworten, da ihn die Hauptfrage der ästhetischen Philosophie, was das Schöne sei und wie die Menschen darauf reagierten, zu lange aufhielt.192
Zschokke führte in seinen «Materialien für eine künftige Ästhetik»,193 wie er sein Buch bescheidenerweise nannte und zu dessen Vollendung er «eine Meisterhand» wünschte,194 eine beachtliche Anzahl von Autoren und Werken an, beinahe hundert, die er teils nur als Literaturangabe heranzog, teils einzelne Punkte herausgriff, um ihnen das für ihn Wichtige zu entnehmen. Er entwickelte seine eigene Theorie des Schönen und der Schönheit, «die, was sie in einer psychologischen Ästhetik sein mus, praktisch ist für den edeln Künstler, fruchtbar ist an Gesezzen für ihn, die ihn nie irren lassen».195 Das war ein Anspruch, den er in keiner Weise einlöste. Immerhin gelang es ihm, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen ein Kunstwerk als solches gesehen werden konnte, und die Wirkkräfte auf die Rezipienten herauszuarbeiten.
Er bediente sich ähnlicher Begriffsdefinitionen und Gedankenabfolgen in Paragrafenform, wie er sie von Steinbarts «Grundbegriffen zur Philosophie über den Geschmack» und Platners «Philosophischen Aphorismen» kannte. Auch sonst profitierte er viel von diesen beiden Autoren, stützte sich wie Steinbart auf die beiden Klassiker der deutschen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann Georg Sulzer, zusätzlich auf Immanuel Kant, Karl Heinrich Heydenreich, Henry Home, Carl Christian Erhard Schmid und andere, ging aber sonst seinen eigenen, man könnte sagen, eigenwilligen Weg. Sein Ausgangspunkt war eine Anregung Kants in der zweiten Auflage seiner «Kritik der reinen Vernunft», die Ästhetik teils transzendental, teils psychologisch aufzufassen.196
Zschokke wollte die psychologische Ästhetik zu einer eigenständigen Disziplin werden lassen, zu der er «Ideen» oder, wie er an anderer Stelle meinte, «kleine aphoristische Abhandlungen und einzelne Bemerkungen über Gegenstände der Kritik des Geschmaks» beitrug, «welche theils beim Lesen verschiedner Schriftsteller der Ästhetik, theils während meines Aufenthalts in Meklenburg, durch Betrachtung der Natur- und Kunstschönheiten, woran dieses glückliche Land so reich ist, und die dort in mir zu allererst das Gefühl des Schönen entwickelten und bildeten, theils durch meine Vorlesungen über Herrn Prof. Eberhards Theorie der schönen Wissenschaften veranlaßt wurden».197
Er postulierte ein Grundbedürfnis aller Menschen, anderen ihre Empfindungen mitzuteilen. Empfindungen sinnlich mitzuteilen und darzustellen sei auch die Quelle der schönen Künste,198 und die «freie Mittheilung schöner Empfindungen» sei der wesentliche Zweck jedes Kunstwerks aus der Sicht des Künstlers.199 Daraus ergebe sich aber sofort die Frage, was als schön zu bezeichnen sei. Zschokke versuchte sie anthropologisch zu beantworten, dabei griff er damals noch neue Erkenntnisse über die menschliche Natur auf. In der anthropologischen Forschung hatte man begonnen, nach den physiologischen Vorgängen zu fragen, die dem Empfinden und den Aktivitäten der Menschen zugrunde lagen, und war auf Triebe, Nerven und Reize gestossen.
Begriffe wie Kunst, Schönheit oder Vollkommenheit, wie sie von der philosophischen Ästhetik untersucht wurden, waren gemeinhin objektbezogen, ideell und kunstimmanent definiert worden. Es gab auch andere Ansätze, die das menschliche Empfinden stärker betonten, und Zschokke dachte sie konsequent weiter. Es brauche keine kunsttheoretischen Überlegungen, wenn man sich mit dem Empfindungsvermögen befasse, als die er das griechische «aisthesis» übersetzte. Etwas werde schön empfunden, weil es gefalle.200 Gefallen bedeute aber nichts anderes, als angenehme Empfindungen auslösen. Der Mensch besitze Nerven, die gereizt würden, habe Triebe, die nach Betätigung drängten. Wenn die Nerven harmonisch gereizt, die Triebe befriedigt würden, dann entstehe eine Empfindung von Wohlbehagen und Lust, andernfalls von Abneigung und Unlust.
Jetzt müsste man nur herausfinden, welche Reize diese Empfindungen auslösten und welche Mechanismen daran beteiligt wären. Man müsste die Maschine, als welche der Mensch sich in dieser Hinsicht darbot, verstehen lernen. Zschokke war kein Mediziner; er orientierte sich bei seinen Ausführungen über die Nerven und Triebe an Platner und Karl Franz von Irwing (1741–1801), dessen «Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen»201 er sehr schätzte.
«Die in uns wohnenden Triebe sind das, was die Gewichte der Uhr sind. Beide reizen zur Bewegung in der Thätigkeit; fehlen iene, so hört der Mensch auf zu denken und zu empfinden, fehlen diese, so hemmt das ganze Räderwerk im Lauf. – Handeln mus der Mensch; er ist gezwungen; die Triebe suchen Befriedigung – in der Rüksicht ist er ganz Maschine. Er kann auch nicht darüber disponiren, was ihm mehr oder weniger gefallen soll; durch die Verschiedenheit der Triebe, ihrer Lebhaftigkeit, Stärke oder Schwäche, als auch durch die grössre oder mindere Ausbildung der höhern Vermögen und die Organisation seiner Sinnlichkeit wird das Wolgefallen nothwendig bestimmt. Auch in der Rüksicht ist er Maschine. – Jezt kömmt es endlich noch auf die Verhältnisse an, in welchen der Mensch lebt, und wie diese Verhältnisse dem einen, oder dem andern Trieb mehr Stärke und Lebhaftigkeit geben. Diese Verhältnisse hängen aber schlechterdings, ihrem grössern Theil nach, nicht von unsrer Willkühr ab; wir können sie uns nicht geben; wir müssen jeden Eindruk von aussen aufnehmen – und sind auch in der Hinsicht Maschinen.»202
Dies ist eine Schlüsselstelle zum Verständnis von Zschokkes Psychologie, die aber nur scheinbar materialistisch und deterministisch ist. Der Mensch kann zwar nicht frei entscheiden, wer er ist, was er empfindet und wie er sich verhält, aber er besitzt mit seinen Trieben Kräfte, die zur freien Entfaltung drängen.
Der Mensch sei ein «wunderbares Amphibion», das in zwei Welten lebe: der Sinnlichkeit und Nichtsinnlichkeit, und zwei Naturen besitze: Vernunft und Gefühl.203 Für die Erkenntnis benötige er die theoretische Vernunft, für die Handlung die praktische Vernunft. Um eine Handlung als sittlich richtig oder falsch zu bewerten, brauche er eine moralische Natur. Das Empfinden geschehe mit seiner sinnlichen Natur. Diese Naturen, denen entsprechende Triebe zugeordnet seien,204 widerstritten sich in ihren Zielen. Die vernünftige Natur strebe Harmonie, Wahrheit, Nützlichkeit, Zweckmässigkeit an, die moralische Natur Sittlichkeit und Tugend, die sinnliche Natur aber Wohlsein, Vergnügen und Glückseligkeit.205
Der Künstler, indem er die Empfindungen der Menschen beeinflusse, greife tief in ihr Inneres ein, und daher kämen ihm grosse Macht und Verantwortung zu.206 «Der Künstler ist ein Gewaltiger über die Herzen des Volks.» Er könne «unaussprechlichen Nutzen stiften, den kein Erdengott mit seinen Millionen und Tonnen Goldes allein zu bewirken im Stande ist, den keine Wissenschaft leistet, keine Gewalt hervorbringt, sobald er sich zur Maxime macht, wahre Schönheit, nach unsrer Angabe, darzustellen».207
Was von Zschokke als grundsätzliche Erforschung der Ästhetik angelegt war, wurde ihm unter seinen Händen zu einer pädagogischen und moralphilosophischen Abhandlung, in deren einem Brennpunkt der «edle Künstler» stand mit seinem Bemühen, das Schöne darzustellen und vollkommene Kunstwerke zu schaffen. Nicht dass er dies erreichte, aber er sollte mindestens danach streben. Dies bezeichnete Zschokke als ästhetischen Imperativ,208 in Anspielung auf Kants kategorischen Imperativ, den er aber nicht näher ausführte.
Der zweite Brennpunkt in dieser Ästhetik ist das Volk, auf welches die Kunst einwirkt. Es besitze ein Bedürfnis nach schönen Empfindungen, also Kunst, gleichgültig, wie roh oder verfeinert sein Kunstgeschmack sei. Es könne ein gutes und ein schlechtes Kunstwerk unterscheiden, indem das erste ihm gefalle und angenehme Empfindungen auslöse, das zweite nicht. «Das Schöne ist mit einem nothwendigen Wohlgefallen verknüpft.»209 Gefallen könne dem Menschen nur, was drei Kriterien erfülle: seine Sinne anspreche, seine Vernunft nicht beleidige und seine Sittlichkeit nicht verletze.210
Zwar muss Zschokke einräumen, dass auch das Unvernünftige und Unsittliche gefalle, aber nur bei von ihren Affekten gesteuerten Menschen, welche die Vernunft oder die Moral ausser Kraft gesetzt hätten. Ihr Wohlbehagen gegenüber einem unsittlichen Gemälde oder Buch, das «dem Tugendhaften, dem Vernünftigen» nicht gefallen könne,211 sei von Leidenschaft getrübt.212 Auch Künstler, die so etwas schufen, ohne auf einen höheren Zweck abzuzielen, seien unfrei. «Freiheit bezieht sich auf Vernunftüberlegung, [...] auf Gehorsam gegen die Gesetze der Vernunft, in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauche.»213
Man kann aus diesen Ausführungen nicht schliessen, Zschokke habe seine «Ideen zur psychologischen Ästhetik» als Moralapostel und Sittenwächter verfasst. Ebenso verhängnisvoll, wie die sittliche oder erkennende Natur der Menschen zu missachten, sei es, die Sinnlichkeit zu vernachlässigen. «Die Sinnlichkeit leihet der theoretischen und praktischen Vernunft Empfindungen.»214 Und: «Das für den Verstand regelmäßigste, für die sittliche Vernunft beste Werk ist nicht schön, sobald es an sich den Forderungen der Sinnlichkeit widerstrebt.»215
Zschokke stellte Prinzipien dar, ohne den Blick für Realitäten zu verlieren. Die Welt war nicht vollkommen, nicht jeder Künstler edel, kein Mensch frei von Leidenschaft. So war das Leben, und Zschokke hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, er selber sei als Dichter nur an der sittlichen Bildung der Leser interessiert. An seinem Wunsch nach einem «thebanischen Gesetz», das darauf achte, dass in der Kunst nur «das Schöne und Anständige dargestellt werde»,216 ist abzulesen, wie ernst es ihm um diese Forderung für die Zukunft war. Über die Einhaltung dieses Gesetzes sollte aber nicht die Polizei, sondern «Kunstrichter und Kenner» wachen.
In der neusten Literatur zur Geschichte der Ästhetik wird Zschokkes Buch gewürdigt, und es wird bedauert, dass es so rasch in Vergessenheit geriet, da es durch «die Identifizierung des Ästhetischen mit der Subjektivität des Fühlens» einen «durchaus originellen Ansatz» biete und mit dem ausdrücklichen Anspruch der Gründung einer psychologischen Ästhetik verbinde.217
Entscheidender als die kunsttheoretische Originalität Zschokkes oder seine etwas eigenartige Terminologie218 sind für den Biografen seine Ausführungen über die menschliche Natur. Die Triebkräfte seien bei allen Menschen gleich gestaltet. Niemand, weder Fürst, Priester, Adliger noch Gelehrter oder Künstler könne sich von dem ausnehmen, was auch für den einfachsten Bauern und Taglöhner gelte: dass er in sich einen Drang nach Freiheit im Denken und Handeln, nach Ehre, Freundschaft, Liebe, Reichtum und Menschlichkeit besitze,219 den Wunsch nach Schönem und Vollkommenem, der sich genauso Geltung verschaffen wolle wie der ebenfalls ubiquitäre Geschlechts- oder Lebenserhaltungstrieb.220
Zschokke hatte ein allgemeines Prinzip zur Bildung des Menschen gefunden, das von seiner Natur ausging und insofern die schönen Künste berührte, weil der «edle Künstler» auf das Gemüt, «das Empfindungsvermögen vermittelst der Vorstellungen und Gefühle» einwirke, was für die Erziehung des Menschengeschlechts viel bedeutungsvoller sei, als was der Philosoph leisten könne, der «allein für Verstand und Vernunft, der Moralist für die praktische Vernunft, und der niedrige Künstler für die Sinnlichkeit allein arbeitet».221 Schiller habe beispielhaft gezeigt, wie der Künstler die Menschen durch das Theater rühren und verbessern könne:
«Durch die Gewalt des Kontrastes [...] in seinen Trauerspielen hebt er Vorstellungen und Empfindungen in uns zu einem hohen Grad der Lebhaftigkeit, wodurch der sympathetische Trieb rege wird. Nun zittern und schaudern wir mit seinen Helden vor der anrückenden Gefahr, wir weinen, oder fühlen uns kühn und stolz und athmen Rache, nach seinem Geheis.»222
Zschokke hätte sein Buch auch «Ideen zur ästhetischen Erziehung» nennen können, selbst wenn ihm noch nicht bewusst war, dass die pädagogische Seite ihn einmal stärker beschäftigen würde als die Theorie der Kunst oder die Lehre von den Empfindungen. Er schickte sein Werk Schiller, mit der Bitte um ein Urteil und die Erlaubnis, seine Ideen in der Zeitschrift «Thalia» näher erläutern zu dürfen.223 Den Brief verband er mit der Bezeugung seiner grossen Verehrung für den Dichter; er endete mit dem Satz: «Ihrer gütigen Antwort entgegenharrend, bleib ich bis an mein Grab mit ungeschminkter Hochachtung Ihr Verehrer M. Heinr. Zschokke.»224 Auch dieser Brief, wie der frühere an Wieland, blieb unbeantwortet. Stattdessen veröffentlichte Schiller in den «Horen» seine gleichzeitig mit Zschokkes entstandenen Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen».225 Beide beziehen sich auf Kant, und beide versuchen, der Gefahr der politischen Anarchie ein Bollwerk der moralischen und ästhetischen Veredelung des Volks entgegenzusetzen.226 Zschokke hoffte, dass sein Buch für akademische Vorlesungen Verwendung fände227 und wollte es seiner eigenen Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1794/95 zugrunde legen; es kam aber nicht mehr dazu.
DICHTER UND PUBLIZIST IN DER FRANKFURTER ZEIT
Zschokkes fünf Jahre in Frankfurt waren reich an literarischem und publizistischem Schaffen. Es entstanden fünf teils mehrbändige Romane (und ein Romanfragment), vier Dramen, drei Bände mit Aufsätzen und Erzählungen, zwei eigenständige Zeitschriften und verstreute Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften, die hier nur im Überblick dargestellt werden können.
Am 5. Januar 1793 erschien das erste Stück von Zschokkes Wochenzeitschrift «Frankfurter Ephemeriden für deutsche Weltbürger» bei Christian Ludwig Friedrich Apitz.228 Es war sein erstes selbständiges, nach eigenem Konzept entworfenes und realisiertes Periodikum, ein Einmannunternehmen mit dem Anspruch, zu unterhalten und gleichzeitig zu nützen, letzteres durch Aufklärung und Bekämpfung des Aberglaubens.229 Die eigentliche Ankündigung, die im Dezember 1792 in Frankfurt (Oder) und über Buchhändler und Postämter in weiteren Städten von Braunschweig bis Breslau und Schwerin bis Magdeburg verteilt wurde, ist nicht mehr greifbar. Eine Liste der Abonnenten wurde nach Abschluss des ersten Semesters der Zeitschrift beigelegt und gibt uns wertvolle Aufschlüsse über die soziale und geografische Streuung der Leser.230 Sie hatte 450 Subskribenten oder Pränumeranden gewonnen, eine stattliche Zahl für eine neue und noch unbekannte Publikation.
Anstelle einer Vorrede lässt Zschokke eine fiktive Kaffeegesellschaft in einem Provinzstädtchen über die neue Zeitschrift diskutieren:
«‹Wir haben seit vielen Jahren kein Wochenblatt gehabt;› sagte der dikke Herr Amtmann, und sezte seine Tasse hin: ‹ich wills doch mithalten; es pflegt unterweilen schnurriges Zeug darin zu stehen, darüber man sich krank lachen mögte. Zum Beispiel so recht trollige Anekdötchen; Sie wissen ia wohl, Frau Gevatterin, wie wir neulich lasen! he, he, he!›
Die Frau Gevatterin wurde roth, und warf ihm einen halb verschämt, halb drohend sein sollenden Blick zu.
‹Hm!› sagte eine lange hagre Dame und warf den Kopf etwas zurück: ‹Wochenblatt hin, Wochenblatt her! wir haben ia Lesegesellschaften und Lesebibliotheken, wozu noch ein Wochenblatt? – Man giebt ia doch Geld genug fürs leidige Lesen aus, und unter zehn Blättern taugt öfters kaum ein Blatt etwas; da wird entweder moralisirt, oder satyrisirt, oder poesirt, und dann bekömmt man endlich einmahl so eine kleine Liebesintrigue zur Entschädigung für die Langeweile.›
‹Da haben Sie nicht unrecht,› flüsterte ihr der dürre Postmeister zu: ‹für das Geld ein paar Spiel l’Hombrekarten.› ‹Oder einen neuen Floraufsaz!› lispelte des Postmeisters Tochter. ‹Und überdies,› hub der Pastor loci an und strich die buschichten Augenbraun seitwärts: ‹das Avertissement verspricht so viel, als gar nichts. – Für Weltbürger! ia, ia, die Weltbürger kenn’ ich schon; Indifferentisten, Religionsspötter sollts heißen; das muß ich wissen!›»231
Das anwesende Fräulein von M.* schlägt schliesslich vor zuzuwarten, was die Zeitschrift bringen möge, wohl «nichts mehr und nichts weniger, als von iedem Wochenblatt, das für Herz und Kopf geschrieben sein soll». Die Anwesenden «horchten und waren galant genug, die Zähne zusammen zu pressen, und mit einem schmeichlerischen Lächeln ein tiefes Kompliment zu machen».232
Mit dieser Jean-Paulschen Szenerie traf Zschokke das Milieu, von dem seine Ephemeriden wohl gelesen wurden und für das er sie schrieb: der gehobenere Mittelstand kleiner und mittlerer Städte, der sich auf der Jagd nach Gesprächsstoff für seine Zusammenkünfte befand. Zschokke bildete in der Vorrede, wenn auch satirisch verfremdet, die Salons ab, die er selbst frequentierte, und die «Frankfurter Ephemeriden» waren sein Beitrag zu ihrer Unterhaltung, mit ihrem Erscheinen am Samstag gerade rechtzeitig für die sonntäglichen Treffen. Von diesen Kreisen kannte Zschokke die Interessen und stimmte den Inhalt darauf ab.
Friedrich Wilhelm Genthe machte als erster nach Zschokkes Tod auf diese Zeitschrift aufmerksam, von der nur 24 Ausgaben im Umfang von einem Bogen oder 16 Seiten in Oktavo erschienen, schrieb den Titel aber falsch.233 Auf seine Angaben stützten sich nolens volens Alfred Rosenbaum in Goedekes «Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung in Quellen»234 und Carl Günther, der die Zeitschrift nie zu Gesicht bekam, da sie jahrzehntelang verschollen blieb.235 Um 1963 tauchte sie wieder auf, als Geschenk an das Stadtarchiv, und Klaus Barthel, dem langjährigen Leiter der Kleist-Forschungsstätte in Frankfurt (Oder), gebührt der Verdienst, in einer Publikation 1983 wieder darauf hingewiesen zu haben.236 Auch wenn von Mitarbeitern dieser sehr aktiven Kleist-Forschungsstätte seither gelegentlich mit den «Frankfurter Ephemeriden» gearbeitet wird,237 steht eine gründliche Auswertung dieser nicht nur für die Zschokke-Forschung, sondern auch kulturhistorisch interessanten Zeitschrift noch aus.
Der bemerkenswerteste Beitrag in den «Frankfurter Ephemeriden» sind die sich über mehrere Folgen erstreckenden «Wanderungen einer philosophischen Maus»,238 in denen es eine «Kirchenmaus» überdrüssig ist, in einer Kirche von kargen Brosamen zu leben, eine Reise durch die Stadt unternimmt und dabei in ein menschliches Narrenhaus gerät. Die schon im «Schriftstellerteufel» angelegte Satire über das Menschlich-Allzumenschliche wird hier um Eitelkeit, Heuchelei, Neid, Missgunst, üble Nachrede, Egoismen und andere Unzulänglichkeiten erweitert. Reumütig kehrt die Maus in ihr altes Heim zurück, nachdem sie festgestellt hat, «daß unter allen Thieren, die der Herr erschaffen hat unterm Monde ihr Futter zu suchen, kein Thier sich selber und unter einander mehr betrügt als der Mensch».239 Es ist eine moralische Erzählung, wie sie für die moralischen Wochenblätter des 18. Jahrhunderts bezeichnend war,240 geprägt von Zschokkes pessimistischem Menschenbild, das sich im Übrigen auch in seiner politischen Einstellung zeigte.
In einem der ersten Stücke der «Frankfurter Ephemeriden» gab er sein Debüt mit Ansichten zur Zeitgeschichte: «Über gewisse in der Revolutionsgeschichte von Frankreich merkwürdig gewordene Gegenstände».241 Mit einiger Verzögerung hatte Zschokke nun doch beschlossen, den Entwicklungen in Frankreich Rechnung zu tragen, gegen das sich Preussen seit dem Vorjahr im Krieg befand. Das Publikum interessierte sich für nichts stärker als für Neuigkeiten aus Frankreich, und Zschokke wollte diesem Umstand Rechnung tragen. Mit der Hinrichtung von Ludwig XVI. am 21. Januar 1793 hatte die Französische Revolution in den Augen der meisten Deutschen ihre brutale Kehrseite gezeigt und allen Glanz verloren. Die Guillotine, dieses klinisch saubere, unerbittliche und unpersönliche Tötungsinstrument, dem vom kleinen Verbrecher über den windigen Volkstribun bis zur Königin alle zum Opfer fielen, erregte in der Öffentlichkeit Gruseln und Schrecken und wurde in den «Frankfurter Ephemeriden» gleich zweimal vorgestellt.242
Ob er dringend Geld brauchte oder Ausgleich und Erholung von seinen gelehrten Studien: Zschokke schrieb den Roman «Die sieben Teufelsproben», der im Frühling 1794 anonym bei Kaffke in Stettin erschien.243 Er behandelt die Legende des heiligen Martin (316–400), wobei Zschokke sehr freizügig mit der überlieferten Vita umging. Er beschränkte sich auf die erotischen Versuchungen, zunächst durch seine Jugendgespielin, später, als Eremit auf einer Insel, durch die niedliche Arine, die er schlafend neben seiner Hütte findet, wo sie ihm in aller Unschuld die Reize ihres mädchenhaften Körpers preisgibt. Das Titelbild zeigt ihn in frivoler Stellung, wie er unter ihrem Busentuch nach ihrem Herzschlag tastet.244
«Die sieben Teufelsproben» sind eine erotische Erzählung, angereichert durch eine Geistergeschichte, und diesem Umstand ist es wohl geschuldet, dass Zschokkes Urheberschaft so lange geleugnet wurde, von Friedrich Wilhelm Genthe und Carl Günther ebenso wie von Alfred Rosenbaum.245 Hayn/Gotendorf jedoch haben den Roman Zschokke bereits 1914 zugeschrieben und als «wohl die seltenste der pikanten Jugendarbeiten des Verfassers» bezeichnet.246 Es ist ein Studentenulk, ein Ausloten des Büchermarkts, wie ihn sich auch der junge Ludwig Tieck erlaubte, der in Berlin unter Anleitung seines Lehrers Friedrich Eberhard Rambach mithalf, Schundromane zu fabrizieren. Die Stammbücher der Studenten und der Austausch der alten Herren geben hinreichend Proben solcher Scherze aus ihrer wilden Jugendzeit.247 Wenn man Zschokke unter streng moralischem Gesichtspunkt vorwerfen mag, ein Roman mit solchen Schlüpfrigkeiten und Grobheiten entspreche ganz und gar nicht den Forderungen, die er in seinen «Ideen zur psychologischen Ästhetik» an den «edlen Künstler» erhebe, nur das Schöne und Anständige darzustellen, dann hat das einige Berechtigung. Aber womöglich verspottete Zschokke sein ästhetisches Programm auf diese Weise selber.248 Er spielte zu jener Zeit mit Möglichkeiten und Zukunftsentwürfen und wusste selber nicht recht, auf welche Seite sich die Waage neigte: zum Laster oder zur Tugend, zur Askese oder Sinnlichkeit.249
Zschokke bewegte sich zu jener Zeit mit verschiedenen Masken. Im Familienzirkel der Apitz, Schulz und Hausen gab er sich als Schöngeist und witziger Conferencier, zwischendurch suchte er die Einsamkeit und pflegte seine Hypochondrie. An der Viadrina und in der Sozietät der Wissenschaften galt er als ernsthafter Gelehrter, der Vorlesungen hielt und zielstrebig auf eine Professur hinarbeitete, in der Freizeit schrieb er Romane und gründete Unterhaltungszeitschriften. Unter Studenten galt er bald als scharfsinniger Denker, feuriger Redner, bald als Verfasser von Gedichten, elegischer Schwärmer und Träumer; handkehrum nahm er an Studentenstreichen teil und zeigte sich verwegen, zu Pferd oder mit dem Rapier, mit scharfer Klinge.
Im Herbst oder Winter 1793 schrieb Zschokke die Erzählung «Abällino, der grosse Bandit», die im Venedig des beginnenden 16. Jahrhunderts spielt.250 Venezianische Nobili planen den Sturz des Dogen und heuern Meuchelmörder an, um seine Entourage auszuschalten. Zu den Mördern gehört ein Abällino, der sich durch Tollkühnheit, Intelligenz und aussergewöhnliche Kraft auszeichnet und mit Respektlosigkeit, heiserer Stimme und abstossendem Äussern allen Angst, ja sogar Grauen einflösst. Sein Gegenspieler ist der gut aussehende und liebenswürdige Flodoardo aus Florenz mit vollendeten Manieren, der sich an die Spitze der Sbirren setzt, ins Schlupfloch der Mörder eindringt und sie bis auf Abällino alle ausschaltet. Jetzt ist Abällino unangefochtener Chef der Banditen. Einen nach dem anderen führt er die Auftragsmorde der politischen Verschwörer durch und verhöhnt die Polizei auf Zetteln, die er an Hausfassaden klebt. Beide, Abällino und Flodoardo, lieben Rosamunde, die Nichte des Dogen. Der Doge will sie Flodoardo zur Frau geben, falls er Abällino, den grössten Schrecken Venedigs, zur Strecke bringt. Abällino seinerseits erhält von den Verschwörern den Auftrag, Flodoardo zu töten.
Im Saal des Dogenpalasts soll das Finale stattfinden, denn Flodoardo hat versprochen, Abällino zu einem bestimmten Zeitpunkt herbeizuschaffen, tot oder lebendig. Viele Schaulustige finden sich ein, die vereinbarte Zeit verstreicht, und es geht schon das Gerücht um, Flodoardo habe den Kampf mit seinem Erzrivalen verloren. In derangiertem Zustand taucht er plötzlich auf und behauptet, Abällino befinde sich im Palast. Der Doge will ihn sehen. Flodoardo geht zur Tür, wirft den Mantel ab, dreht sich um und ist in Abällino verwandelt, mit Augenbinde, einem entstellenden Pflaster und widerlichem Grinsen. In der Gestalt des Abällino überführt er die überrumpelten Verschwörer und verlangt vom Dogen grob die Hand von Rosamunde, da er sein Versprechen erfüllt habe. Für den Dogen, dessen beste Freunde Abällino umgebracht hat, kommt das nicht in Frage. Abällino geht noch einmal zur Tür, reisst sie auf und draussen stehen die vermeintlich toten Venezianer. Rosamunde wirft sich Abällino schluchzend an die Brust, mit dem Aufschrei: «Dieser – dieser ist kein Mörder.»
«Abällino, der grosse Bandit», der fünf Jahre vor «Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann» von Goethes Schwager Christian August Vulpius erschien,251 wird zuweilen als erster deutscher Räuberroman bezeichnet,252 als ein «Mantel- und Degenstück».253 Das sind zweifelhafte Zuschreibungen, zumal es sich, auch nach Zschokkes Begriffen, um eine Erzählung und nicht um einen Roman handelt, da ihr der Anfang und das Ende fehlt. «Abällino» steht mit der Thematisierung von Verschwörungen und Staatsintrigen eher in der Nachfolge von Schillers «Verschwörung des Fiesko zu Genua» und ist eine psychologische Studie um das Wesen des Menschen und die ihn beeinflussenden Lebensumstände.254 Den beiden Dramenfassungen von 1795 und 1796 setzte Zschokke das Motto «Verhältnisse bestimmen den Menschen» voran. Auf dem Theater gibt sich «Abällino, der grosse Bandit» als ein Spiel mit Masken und Maskeraden, des sich Verhüllens und Entlarvens, passend zur Vorstellung, die man mit Venedigs Karneval verbindet. All diese Aspekte zusammen trugen dazu bei, dem Werk seine Beliebtheit zu verleihen, im deutschen Kulturraum als Drama, im englischen als Erzählung, in einer fast wörtlichen Übersetzung von Matthew Gregory Lewis (1775–1818), dem sie unter dem Titel «The Bravo of Venice» lange Zeit zugeschrieben wurde.255 Es ist das Verdienst von Josef Morlo, die Erzählung in der Reihe «Kleines Archiv des 18. Jahrhunderts» wieder zugänglich gemacht,256 und das von Holger Dainat, sie literaturgeschichtlich eingeordnet zu haben.257
«Abällino» sei «das Produkt einer angenehmen, flüchtigen Laune» gewesen, schrieb Zschokke in der Vorrede zur ersten Dramenfassung. «Das Gemälde war ohne Sorgfalt hingeworfen, nur skizzirt, selten hie und da ausgearbeitet, und eigentlich wohl nur angelegt, als Stoff zu einem Drama.»258 In der «Selbstschau» schrieb er, er habe im Studentenkreis eine alte venezianische Anekdote vorgetragen, die er «mit poetischer Freiheit fantastisch genug ausschmückte».259 In dem Fall war ihm mit leichter Hand ein grosser Wurf geglückt, ein Werk, das seine Faszination aus dem schillernden Charakter einer Doppelpersönlichkeit bezog, in welcher Zschokke Eigenschaften ins Spiel brachte, die er in sich selber spürte: Ungestümheit, Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Gier.260
Für die Bühnenfassung straffte Zschokke die Dialoge und akzentuierte die Charaktere. Er vermied es, für Abällino Mitleid zu erwecken, liess ihn nicht erst bittere Erfahrungen als Bettler machen, sondern gleich als Mörder ins Geschäft steigen. Er brauchte jetzt nicht mehr in Hamlets Manier zu zaudern und mit seinem Schicksal zu hadern. Auf der Bühne ist Abällino ein Tatmensch, der das Geschehen vorantreibt und kontrolliert, unzimperlich, direkt, fordernd. Nichts und niemand kann sich ihm entziehen. Das Finale wird sorgsam vorbereitet: Er darf seinen Coup landen, die Verschwörer entlarven, sich von aller Schuld reinwaschen und Rosamunde aus der Hand des Dogen empfangen. Sein Brigantentum ist von Anfang an auf Verstellung angelegt, kühl kalkuliert, um den politischen Bösewichten ihr Handwerk zu legen und des Dogen schöne Nichte zu gewinnen. Rosamunde bezieht im Drama deutlicher Stellung als in der Erzählung: Sie verabscheut Abällino, während sie Flodoardo liebt.
Dies zerstört zwar die Komplexität der Erzählung, verstärkt aber den Theatereffekt in der Stunde der Enthüllung. Im Publikum hinterliessen die Aufführungen das wohlig-gruselige Gefühl, brutalen Banditen bei der Arbeit zuzusehen und am Schluss die Genugtuung zu haben, dass Venedig durch die mutige Tat des Helden vor der Anarchie gerettet wird. Der Bezug zur politischen Lage Deutschlands war mit den Händen zu greifen: Die allgegenwärtige, auch propagandistisch geschürte Angst vor Revolutionen und vor Versuchen, deutsche Fürsten zu stürzen, wird in Zschokkes Stück geschickt benutzt, dramaturgisch verstärkt und im befreienden Schluss aufgelöst.
Der Januar 1794 begann für Zschokke mit einer neuen Zeitschrift, die wiederum bei Apitz erschien. Sie war ganz auf Zschokkes Bedürfnisse zugeschnitten und trug den Namen «Litterarisches Pantheon», weil er sich inhaltlich nicht festlegen wollte: Wie der griechische Tempel sollte sie allen Göttern oder Musen dienen, mit denen er sich gerade herumschlug: Sie enthielt Essays, Gedichte, Dramen, Märchen, Versepen und anderes. Es war eine Fortsetzung der «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen», in monatlicher Stückelung zu 96 Seiten in Oktav (sechs Bogen), und die einzige Zeitschrift Zschokkes, in der er sich an kein klar definiertes Publikum mit einem fest umrissenen Programm wandte. Er liess es darauf ankommen, ob die Zeitschrift Anklang fand. Der Plan, sei «so gut als gar keiner», rügte die «Allgemeine Literatur-Zeitung».261 Gerade das gibt dem Zschokke-Biografen eine gute Ausgangslage, um Einblick in die schriftstellerische Werkstatt und gedanklichen Schwerpunkte Zschokkes zu erhalten. Leider fehlen in den Beständen im Stadtarchiv Frankfurt (Oder) die beiden mittleren Quartalsbände.262 Carl Günther hatte noch Zugriff auf alle vier Bände, als letzter und vielleicht einziger Benutzer, der sie auswertete.263
Das «Litterarische Pantheon» war die Publikation eines jungen Gelehrten und Dichters mit einem Hang zum Philosophischen, kam in wesentlichen Teilen monologisch daher und dürfte knapp die Aufmerksamkeitsschwelle einer gebildeten Öffentlichkeit überschritten haben. Zschokke verfasste den grössten Teil der Beiträge selbst, aber er schrieb seine Zeitschrift nicht ganz allein.264
Alle Aufsätzen im «Litterarischen Pantheon», wie auch das meiste, was Zschokke später schrieb, haben einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart oder zu einer aktuellen Auseinandersetzung, als Vorgeschichte, Materiallieferant, Spiegel, Vor- oder Gegenbild. Geschichte, auch Philosophiegeschichte, besass für Zschokke die Aufgabe, den Zeitgenossen lehrreich zu sein. Es gab für ihn keinen Elfenbeinturm des Gelehrtenwissens; stets versuchte er, ihn zu verlassen, um anschaulich zu werden, pädagogisch zu wirken, nützlich zu sein.
Wenn man die Aufsätze aneinanderreiht, so lesen sie sich wie ein Plädoyer und eine Kampfansage gegen den Woellnerschen Geist, der auf den Kathedern und in den Amtsstuben Einzug nehmen sollte. «Der Geist des Zeitalters beugt sich weder vor Gesetzen noch Armeen!» heisst einer von ihnen.265 Der Geist des Zeitalters – die Aufklärung – lasse sich nicht rückgängig machen. Es ist dies der Schlüsselaufsatz der Zeitschrift, die Quintessenz von Zschokkes naturrechtlichen und staatsphilosophischen Überlegungen aus der Frankfurter Zeit. In Anspielung auf Kants Definition der Aufklärung meinte Zschokke, der Mensch habe sich in Europa von seiner geistigen, politischen und theologischen Unmündigkeit emanzipiert, glaube sich «dem Gängelbande der Monarchen und Priester entwachsen, und groß genug zu seyn, ohne Vormund agiren zu können»,266 dulde keine Fesseln des Geistes mehr, keinen anderen Kanon als jenen, den seine eigene Vernunft ihm diktiere.267 In einem geschichtlichen Überblick zeigte er auf, wie der Mensch in einem langen Prozess seine Vernunft erlangt habe, wie die Reformation der Theologie der Reformation der Philosophie vorausgegangen sei und vorausgehen musste.268 Auf die Forderung nach Gedankenfreiheit folgte die Forderung nach Freiheit des Handelns,269 und dies habe zu den Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts geführt, aus der noch immer der Geist der Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts spreche.270
Die Freiheit, so Zschokke, habe positive und negative Auswirkungen, da die Menschen noch über keine «wirksame, geläuterte, praktische Vernunft» verfügten, «die nur auf ihre erhabnen Gesetze hinzeigt», sondern als sinnliche Wesen ihren Affekten und Leidenschaften nachgäben und verführbar seien.
«Es ist eine heilige Pflicht, die Menschen im Allgemeinen auszubilden und zu veredeln; die Fürsten selber müssen, als Freunde ihres Geschlechts, hierzu die Hand bieten, müssen stolz darauf seyn, Oberherren einer denkenden Nation zu heissen, statt Regierer einer trägen, dummen, gefühllosen Marionettenversammlung genannt zu werden.»271
Dagegen vermöge die «Polizierung», die äusserliche Zivilisierung, nichts, wie das Beispiel Frankreichs zeige; sie schütze nicht vor gewaltsamen Staatsrevolutionen. Es gebe auf die Frage, «welches ist das beste, unfehlbarste Mittel, gewaltsamen Revolutionen vorzubeugen?», eine Antwort: «Leget dem Volke keine Ketten an, so hat es keine zu zerbrechen; presset dem männlichen Geist der Nation nicht den eisernen Kinderschuh des Gesetzes auf! – Seht auf Friedrich den Einzigen und seinen weisen Nachfolger!»272
Dieser groteske Schlusssatz, der Kniefall vor dem neuen preussischen Herrscher, ist ein hässlicher Missklang in der sonst stolzen Rede, eine Geste der Huldigung, aber auch der Hoffnung, Friedrich Wilhelm II., der ja eines Sinns mit Woellner war, im gleichen Ausmass Werkzeug und Herr, werde sich von seinen Beratern lösen, seinen Platz an der Seite des Volks suchen und Adel und Kirche vom Hof verjagen. Diese Überzeugung, die noch ein Vierteljahrhundert später, während der Metternichschen Restauration, Zschokkes Haltung gegenüber Monarchen prägte, gibt seinen politischen Aufsätzen nicht selten einen Anflug des Bizarren.273
Zschokkes letzter Beitrag im «Litterarischen Pantheon» ist ein philosophischer tour d’horizon zur Frage nach der Rolle des Menschen im Universum, seiner Natur und seinem Erkenntnisvermögen.274 Die Quintessenz ist, dass es keine Gewissheit gebe von dem, was wir über die Welt und von uns selber zu wissen meinten: «es ist nicht mehr, als wir aus dem Kerker unsers Leibes durch die fünf Fenstern, welche wir Sinne heißen, zu erblicken im Stand sind».275
«Wir tappen also in jener sonderbaren Dunkelheit, und weiden uns an einer ewigen Täuschung. Dämmernd und unbekannt ist, was da draußen wohnt; aber wir nehmen die Kinder unsrer Sinnenorganisation auf, wie das Wirkliche, welches uns zu umringen scheint, oder umringen mag. – Wir philosophiren alsdann nicht über die Welt, sondern immer über unsre eigne Natur; wir kennen keine Welt, sondern nur die Erzeugnisse unsers Sensoriums. Diese sind unsre Welt.»276
Der Mensch glaube, von Gott ausgezeichnet, zum Herr der Welt bestimmt, kraft seines Geistes, der Künste und Wissenschaften über alle anderen Geschöpfe erhaben zu sein. Und doch sei er nur ein Bündel von Nervenfasern, hilflos und sterblich, Naturkatastrophen, Seuchen und Kriegen und seiner eigenen Sinnlichkeit preisgegeben.
«Das sichtbargewordne Strumpfband unterm Knie eines Mädchens, die unwillkührliche Verrückung eines Busentuches, ein Gläschen Weins über die alte Regel – bläst Aufruhr durch die Adern, treibt das rastlose Spiel der Nerven schneller, sezt die Einbildungskraft in helle Flammen, und das Produkt der ganzen Bagatelle ist – nach wen[i] gen Monden ein Mensch, an welchen Vater und Mutter beim Strumpfband, Busentuch und Weinglase am wenigsten gedacht hatten.»277
Mit diesem trostlosen Ausblick auf die menschlichen Schwächen, die so gar nicht dem Bild von der Krone der Schöpfung entsprachen, ging der Aufsatz und der einzige Jahrgang des «Litterarischen Pantheons» zu Ende.
Um ein Haar wäre es das Letzte gewesen, was wir von Zschokke gehört und gelesen hätten, und er hätte das gleiche Schicksal genommen wie der junge Student Johann Gustav Friedrich Toll, dessen Grabrede Zschokke gehalten hatte. Anfang Dezember 1794 wurde er Opfer einer Kohlenmonoxidvergiftung. Das Stubenmädchen hatte am Ofen manipuliert, in der Nacht waren Gase in sein Zimmer geströmt, und er verlor im Schlaf das Bewusstsein. Hätte man den Rauch nicht entdeckt und ihn herausgeholt, so wäre er nie mehr erwacht.
Im Frühling 1794 hatte er sein Revolutionsdrama, «Charlotte Corday oder die Rebellion von Calvados», beendet, das er als republikanisches Trauerspiel in vier Akten bezeichnete, mit dem Untertitel «Aus den Zeiten der französischen Revolution». Die ersten drei Akte erschienen von Februar bis April im «Litterarischen Pantheon»,278 das ganze Drama Anfang Mai im 2. Band von «Schwärmerey und Traum»279 und mit gleichem Drucksatz gleichzeitig oder etwas später bei Kaffke in Stettin.280
Am 11. Juli 1793 hatte Marie-Anne Charlotte de Corday d’Armant aus Caen den Revolutionär und Herausgeber der Zeitung «L’Ami du peuple» Jean-Paul Marat ermordet. Sie wurde noch am Tatort verhaftet, am 17. Juli vor das Revolutionstribunal gebracht und noch am gleichen Tag hingerichtet. Vor ihrem Tod wurde sie porträtiert; ihr Bildnis ging um die Welt. Sogleich setzte auch eine Literarisierung ihres Schicksals ein.281
Die Sensation war nicht der Mord, sondern die Täterin: eine 25-jährige Adlige aus der Provinz stieg in eine Postkutsche nach Paris, wurde ohne weiteres zu Marat vorgelassen und erdolchte ihn in der Badewanne, kaltblütig und ohne irgendeine sichtbare Unterstützung. Sie behauptete, sie habe ihren Entschluss gefasst, als sie gemerkt habe, dass sich kampfwillige Bürger rüsteten, um die Jakobiner militärisch zu bekämpfen. «Ich dachte, es sey unnöthig, daß so viele brave Leute nach Paris giengen, den Kopf eines einzigen Menschen zu suchen, den sie vielleicht verfehlen konnten, oder der viele gute Bürger mit sich zum Untergang gerissen hätte. Ich glaubte, die Hand eines Weibes sey dazu hinreichend.»282 Sie habe die Republik gegen die Anarchie verteidigt, sagte sie vor Gericht. Hocherhobenen Hauptes liess sie sich zum Schafott bringen, im Bewusstsein, für eine gerechte Sache zu sterben.283
Viel mehr wusste Zschokke von ihr nicht, als er mit seinem Drama begann. Er rekonstruierte aus Zeitungsmeldungen ihre Tat und bettete sie in die politische Situation ein. Das Stück beginnt im Juni 1793, als die Jakobiner die Girondisten entmachtet und ihre Anhänger im Nationalkonvent verhaftet hatten. In der girondistisch gesinnten Heimat der Familie Corday rüstet man sich zum aktiven Widerstand gegen die Jakobinerherrschaft und in Caen werden Truppen angeworben, um gegen Paris zu ziehen. Zschokke will glaubwürdig erklären, wieso Charlotte Corday zu ihrer Tat schreitet: Alle sind sich einig, dass Marat kaltgestellt werden soll, aber jeder Mann scheut den nächsten Schritt: sowohl der hypochondrische Vater als auch Corbigni, der sie liebt. Ihm wäre sie bereit, die Ausführung ihres Entschlusses zu überlassen und ihn dafür zu heiraten. Aber er zaudert und verliert so ihre Achtung.
In der Vorrede zur Prosafassung des «Abällino» schrieb Zschokke: «Ich nehme gewisse Karaktere und führe sie durch eine Reihe von Situazionen, und beobachte, wie sie sich in all diesen Verhältnissen ausnehmen.»284 Bei Charlotte Corday ist es genau umgekehrt: Die Situationen und Handlungen waren vorgegeben, und er versuchte, daraus die Charaktere zu erfassen. Zschokkes Corday ist eine psychopathologische Studie zur Erfahrungsseelenkunde.
Gerne wird in der Literatur hervorgehoben, Zschokke habe in seiner Charlotte Corday eine emanzipierte Frau dargestellt.285 Dabei wird übersehen, dass er ihr zwar die Freiheit zubilligt, nach eigenem Willen und Ermessen zu handeln, ihr die Fähigkeit zur sachlichen Abwägung ihrer Handlungen und deren Konsequenzen aber abspricht. Es geht nicht um eine «neue Weiblichkeitskonzeption als Erfüllung bürgerlicher Freiheitswünsche»,286 sondern um eine Wiederaufnahme der Kontroverse, die seit mindestens 1775 geführt wurde: die Kontroverse um politische, religiöse und künstlerische Schwärmerei.287
Zschokke bezeichnete Charlotte Corday als schöne philosophische Schwärmerin,288 weil sie utopische, nicht realisierbare Ziele vertrat: die Freiheit der Menschen in einer freien Nation. Der junge Zschokke sah sich selber als Schwärmer und war sich der Ambivalenz seines Tuns bewusst, wenn er sich einer ungezügelten Phantasie und Spekulation überliess, statt sich auf streng wissenschaftlichem oder philosophischem Boden zu bewegen. Schwärmerei, soweit sie sich nicht in einen Gegensatz zur Vernunft stellte, verband Zschokke in seiner Frankfurter Zeit mit Kreativität und Subjektivität, mit der Möglichkeit, sich ganz den Träumen und Gefühlen hinzugeben, Eigenschaften, die er bei seinem literarischen Schaffen und im nichtakademischen Philosophieren gern für sich in Anspruch nahm. Schwärmen und Schwärmerei war eine Domäne, die er auch und gerne Frauen zugestand.
Zschokke hatte nicht die Absicht, einen «embryonalen Feminismus einer republikanischen Schwärmerin» vorzuführen, die «der Männermacht trotzt», wie Arnd Beise meint,289 sondern die gefährlichen Folgen einer aus Schwärmerei begangenen politischen Handlung aufzuzeigen. Er bezeichnete sein Trauerspiel als «Miniatürgemählde», von dem er zweifle, dass es je auf die Bühne komme.290 Man wundert sich, dass er die Form des Dramas wählte, da die tatsächlichen Ereignisse seine künstlerischen Möglichkeiten stark einengten. Offenbar hatte er nach einem fast vierjährigen Unterbruch Lust, sich wieder einmal an einem Theaterstück zu versuchen, moralisierend auf ein breiteres Publikum einzuwirken. Man muss Zschokke zubilligen, dass er sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzte, der Aufbau des Stücks eine in sich schlüssige Handlung voranbringt, die Dialoge stimmig sind und viel Liebe in den Details steckt. Das Drama ist mit grosser Sorgfalt abgefasst und in Blankverse gesetzt,291 aber es wäre besser gewesen, Zschokke hätte es als Fragment belassen, so, wie es im «Litterarischen Pantheon» abgedruckt ist.
Anna Bütikofer, Mitorganisatorin des Zschokke-Symposiums vom Herbst 2005 in Aarau, hatte die gute Idee, zum Abschluss der Tagung in einer szenischen Lesung Auszüge aus der «Charlotte Corday» vortragen zu lassen. Der alte Saal des Geschworenengerichts im Ratshaus war gefüllt, und das Publikum genoss sichtlich den Charme dieses über zweihundert Jahre alten Werks, dessen sprachliche Kraft in der schauspielerischen Leistung von Marianne Burg und Hansrudolf Twerenbold ausgezeichnet zur Geltung kam – vermutlich handelte es sich um die Uraufführung des Stücks.
Noch in einem weiteren Drama befasste sich Zschokke mit der Französischen Revolution, im Bauernschwank «Der Freiheitsbaum»,292 der um 1793 in einem deutschen Dorf an der französischen Grenze spielt, an einem einzigen Morgen vor dem Haus des reichen Bauers Blum. Bedauerlicherweise wurde dieser unterhaltende Einakter voller Situationskomik und witziger Dialoge bisher kaum zur Kenntnis genommen. Gerhard Steiner nimmt ihn zwar in seine Sammlung «Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater» auf,293 schrieb ihn aber Nikolaus Müller zu.294 Obwohl er nach einer Korrektur durch Holger Böning295 den Irrtum in einer zweiten Auflage richtig stellte,296 beharrte er darauf, dass man das Stück «für eine Arbeit des Mainzer Jakobiners und Theaterdichters Müller» halten konnte»,297 und dass sich die revolutionäre Mainzer Bühne diesen Stoff sicher nicht habe entgehen lassen, sondern sie aus dem Manuskript spielte.298 Es ist zu wünschen, dass in einer dritten Auflage diese Vermutungen gestrichen und der Text des Stücks noch einmal sorgfältig mit dem Original in der Staatsbibliothek Berlin verglichen wird. Wie hätten die Mainzer ein Stück aufführen können, das erst ein Jahr nach dem Ende ihres politischen Experiments entstand?
Ganz sicher war es nicht als Revolutionsdrama gedacht. Politisch bezog Zschokke einmal mehr nicht Stellung. «Der Freiheitsbaum war eine Farce für eine Familiengesellschaft, die ich doch auch ausspielen wollte; ich verschenkte es an Apitz. Ob’s behagt, weis ich nicht», schrieb er im Februar 1796 an Behrendsen.299 Auf keinen Fall kann man Zschokke wegen dieses Dramas als Sympathisanten oder Anhänger der Französischen Revolution sehen. Hans-Wolf Jäger, der sich auf die Interpretation Steiners stützt, hält Zschokkes «Freiheitsbaum» aber für «das beste Erzeugnis jakobinischer Schauspieldichtung, [...] geradezu für diesen Zweck verfaßt».300 Das Gegenteil ist der Fall, und das lässt sich mit einer Fülle von Aussagen Zschokkes belegen: Er betrachtete die Revolution der Franzosen in jener Zeit als eine Revolte, hervorgerufen durch eine erhitzte Einbildungskraft.301 Die Zauberworte Freiheit! Gleichheit! hätten die Köpfe verwirrt; die Forderung entspringe nicht Idealen, sondern der Eigensucht; allgemeine Gleichheit komme in der menschlichen Gesellschaft nicht vor, sei eine Chimäre.302 Zschokkes politisches Engagement hatte zu jener Zeit ganz andere, persönliche Gründe.
POLITISCHE REBELLION
Im Dezember 1793 reichte Zschokke ein Gesuch an den preussischen König ein, dass man ihm entweder eine Bezahlung als Dozent gebe oder doch wenigstens zum ausserordentlichen Professor der Philosophie ernenne, mit der Option, «binnen Jahr und Tag» in Frankfurt oder an einer anderen preussischen Universität ein Gehalt zu beziehen.303 Er begründete seinen Antrag mit seinem geringen Vermögen, das er während seines akademischen Lebens teilweise aufgeopfert habe, zumal er sich bemühe, mittellosen Theologiestudenten behilflich zu sein.
Karl Franz von Irwing, der als Mitglied des preussischen Oberschulkollegiums Zschokkes Antrag bearbeitete, setzte den Entwurf zu einer Antwort auf, die, von ihm und Minister Woellner als Oberkurator der Universitäten unterzeichnet, am 7. Januar 1794 ausgefertigt und nach Frankfurt (Oder) geschickt wurde. Zschokke solle sich bis zur Verleihung des Titels eines ausserordentlichen Professors der Philosophie noch einige Zeit gedulden, zumal seine Bitte um Zusage eines Gehalts angesichts der fehlenden Mittel in der Universitätskasse nicht erfüllt werden könne. «Wenn aber derselbe in seinem bisherigen Fleiß fortfahren, und sich fernerhin wie bisher um das Beste der studirenden Jugend verdient machen wird, so könne er versichert seyn, daß bey vorkommender thunlicher Gelegenheit, auf ihn Bedacht werde genommen werden.»304
Man hat nicht den Eindruck, dass diese Zurückweisung aus politischen Gründen erfolgte, wie Zschokke später immer behauptete.305 Da sich sein hauptsächliches Begehren auf eine Geldentschädigung richtete, hatte er sich die abschlägige Antwort selber eingebrockt: Es gab dafür schlicht keine Mittel. Die ordentlichen Professoren erhielten an der Viadrina einen nur mageren Lohn, die ausserordentlichen Professoren oft gar keinen, waren also darauf angewiesen, eine zweite, bezahlte Stelle zu haben, als Schulrektor, Pfarrer oder Arzt. Die Schlange von Dozenten, die um ein Gehalt oder eine Gehaltsverbesserung anstanden, war lang, und Zschokke hätte sich weit hinten anstellen müssen, um an die Reihe zu kommen.
Im Sommer 1794 etwa, als die Witwe von Professor Darjes starb, bewarben sich mit Steinbart, Heynatz, Pirner, Madihn, Borowski, Meister und Huth sieben Professoren um die nun hinfällig gewordene Pension von 289 Taler jährlich, und selbst Berends bat im Namen der Frankfurter Sozietät der Wissenschaften um das Geld. Der König willigte zwar ein, die Rente umzulenken, aber nicht nur für die dort tätigen Lehrer, sondern auch für den alten Kanonikus Peine in Magdeburg.306 Ein weiterer Dürstender am tröpfelnden Geldhahn war ausgerechnet Woellners Liebling Friedrich From, ausserordentlicher Professor für Theologie, dessen Gesuch um eine ordentliche Philosophieprofessur – eine seit 1788 erledigte Stelle – im Mai 1795 nach fast siebenjähriger Wartezeit endlich genehmigt wurde, aber nur als Professor ordinarius supernumerarius ohne Emolumente (Nebeneinkünfte), um die anderen Professoren finanziell nicht zu schädigen.
Zschokke hatte diese Geduld nicht; er brauchte jetzt Geld. Also wandte er sich an Steinbart und bat ihn um eine Stelle als Lehrer in seinem Institut in Züllichau oder um «einige Aufmunterung und Unterstützung als akademischer Lehrer».307 Vermutlich bot er ihm auch an, ihn bei den Vorlesungen zu entlasten – Steinbart litt schon lange unter der Doppelprofessur an der theologischen und philosophischen Fakultät –, und Steinbart, der Zschokkes Fähigkeiten als Dozent ebenso schätzte wie Hausen, hätte ihm bestimmt gern geholfen, konnte ihn aber nicht aus der eigenen Tasche bezahlen. Die Theologieprofessur trug ihm ja selber nichts ein, und er hatte drei Söhne, die studierten oder noch studieren sollten.
Hätte Zschokke noch einige Jahre ausgeharrt, so wäre an der Viadrina doch noch eine Professur in Aussicht gestanden. Nach dem Tod des Königs (1797) schlug Steinbart Zschokke zu seinem Assistenten und Nachfolger vor, und Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), einflussreicher Mann im Oberkonsistorium, schrieb ihm (wie Steinbart Zschokke mitteilte), «dass jeder, für welchen ich garantierte, dass er die Erwartung des Staates erfüllen würde, unbedenklich zum Substituten und Nachfolger in meinen akademischen Ämtern angenommen werden sollte».308
Zschokke hätte sich nur regelmässig melden und um eine Stelle nachfragen müssen, so wäre er 1798 vermutlich Steinbarts Assistent geworden, 1801 statt Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) ausserordentlicher Professor der Philosophie und 1809, nach Steinbarts Ableben, in beide Professuren nachgerückt. Aber seit der ersten Absage im Januar 1794 und einer weiteren drei Jahre später309 hatte Zschokke seinen Wunsch nicht mehr erneuert, ja nicht mehr mit ihm Kontakt aufgenommen, und als Steinbart ihm im Sommer 1800 schrieb, dachte Zschokke nicht einmal im Traum mehr daran, die Schweiz zu verlassen und auf der universitären Karriereleiter an der Viadrina eine weitere Stufe zu erklimmen.
Die zu grosse Jugend, erinnerte sich Hausen später, sei der Grund dafür gewesen, wieso Woellner sein erstes Gesuch abgelehnt habe.310 Die Jugend, gewiss; Zschokke zählte noch keine 23 Jahre. Normalerweise standen Männer, die an der Viadrina eine Professur erhielten, in reiferem Alter und hatten Berufserfahrung, Zschokke dagegen hatte noch nicht einmal vier Jahre an der Universität verbracht, was normalerweise als Dauer bis zum Abschluss des Studiums betrachtet wurde und nicht schon zum Griff nach einer Professur. Dass es dazu viel zu früh war, war Konsens im Kollegium an der Viadrina wie im Oberkonsistorialrat in Berlin.
Steinbart glaubte ohnehin, «wie sehr wohltätig zur Reinigung unsrer theoretischen und speculativen Kenntnisse es ist, wenn man eine zeitlang ins Geschäftsleben hineingestossen wird», und daher meinte er auch, dass vorderhand jeder andere Aufenthalt Zschokke nützlicher sein würde als der auf Schulen.311 Gleichwohl behauptete Zschokke später, Oberkonsistorialrat Irwing selber habe ihm angeraten,312 ihn ermuntert,313 ja es schlechterdings gewollt,314 dass er sich um eine Professur bewerbe, und seine «väterlichen Freunde» Hausen und Steinbart hätten ihm beigepflichtet. Woellner dagegen habe es vereitelt, aus politischen Gründen und wegen einer Kränkung, die darin bestanden habe, dass der junge Privatdozent sich weigerte, ihm in Frankfurt (Oder) seine Aufwartung zu machen.
Schon Carl Günther zweifelte diese Behauptung an, die nur auf einer Spekulation gründete, seither aber fleissig in jeder Darstellung kolportiert wird. Günther argumentiert, erstens gebe es keinen Hinweis, dass Woellner in der fraglichen Zeit die Viadrina besuchte, zweitens wäre es ihm kaum aufgefallen, wenn sich ein Privatdozent dem Empfang des Gewaltigen entzogen hätte, und drittens sei Woellner die politische Gesinnung Zschokkes noch unbekannt gewesen, da vor 1793 noch keine politische Schrift von ihm erschienen sei.315
Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass Zschokke in «Eine Selbstschau» seine Verweigerung so realistisch schilderte, dass man fast nicht glauben kann, es sei alles nur eine nachträgliche Erfindung gewesen. Am Tag, da Woellner in Frankfurt (Oder) weilte, sei er, Zschokke, auf einem Spaziergang Steinbart begegnet, der eben von einem Besuch beim Minister zurückgekommen sei und ihm sagte, Woellner habe sich nach ihm erkundigt. Zschokke begründete sein Wegbleiben politisch, worauf Steinbart erwiderte, auch wenn er mit Woellners Grundsätzen nicht einverstanden sei, verlange es die normale Höflichkeit, an der Begrüssung teilzunehmen. Zschokke habe geantwortet, es gebe Zeiten, wo schon eine solche Höflichkeit zur Sünde gereiche. Die Mächtigen müssten spüren, dass man mit ihnen nicht einverstanden sei; nur dadurch würden sie zur Einsicht kommen. Darauf habe Steinbart ironisch versetzt: «Seine Exzellenz wird schwerlich von Ihrem Nichtbesuch dergleichen Nutzanwendung für sich machen; eher vielleicht eine unerfreuliche für Sie.»316
Günther hat sicher recht mit der Annahme, dass Woellner durch eine solche Respektlosigkeit, wenn er sie denn wahrgenommen hätte, höchstens momentan irritiert gewesen wäre. In den anderen beiden Punkten ist ihm nur teilweise beizupflichten. Woellner konnte sich durchaus nach Frankfurt (Oder) begeben haben, ohne dass dies aktenkundig geworden wäre. Womöglich fand das Geschilderte aber erst nach 1794 oder später statt, hatte also keinen Einfluss mehr auf die Ablehnung von Zschokkes Gesuch.
Es ist hingegen denkbar, dass der Minister sich bereits 1793 oder früher für Zschokke zu interessieren begann, da er als Dichter einen gewissen Ruf genoss, nicht wegen politischer oder theologischer Schriften, sondern durch seinen «Monaldeschi», den «Schriftstellerteufel» und die ersten beiden Bände der «Schwarzen Brüder». Vor allem die letztgenannten Werke, die, obwohl anonym erschienen, Zschokke ohne weiteres zugeordnet werden konnten, würden es begreiflich machen, wenn Woellner den Publikumsliebling, der an einer preussischen Universität dozierte, einmal persönlich hätte sehen wollen.
Auch folgende Anekdote ist kaum aus der Luft gegriffen: Irwing, mit dem Zschokke persönlich verkehrte, wenn er im Sommer sein Landgut in der Nähe von Frankfurt (Oder) bezog, habe ihm vertraulich mitgeteilt, Woellner habe sich unfreundlich über ihn geäussert und hinzugefügt, «man habe am wohlbekannten Dr. Bahrdt eine warnende Erfahrung gemacht, daß man keinem so jungen Menschen schon eine Professur anvertrauen solle. Ich müsse noch um ein Paar Jahre reifer werden.»317 Da Zschokke in Frankfurt einen untadeligen moralischen Ruf besass, keiner Studentenverbindung angehörte und sich politisch nicht hervortat, kann der Vergleich mit dem streitbaren Theologen und Pamphletisten Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792),318 falls er 1793 oder zuvor erfolgte, sich eigentlich nur auf Zschokkes belletristische Schriften oder auf seine Vorlesungen beziehen, deren Beurteilung Woellner von Professor From hinterbracht worden sein könnte. Aber selbst wenn das stimmt, wäre Zschokke die Professur nicht verweigert worden und schon gar nicht wegen angeblicher Heterodoxie,319 sondern man hätte die Entscheidung einfach hinausgeschoben. Die knapp drei Semester als Privatdozent und was Zschokke bisher geliefert hatte, waren nicht ausreichend, um seine Tauglichkeit als Professor zu erkennen.
Auch in ähnlich gelagerten Fällen baute Woellner seine Druckmittel behutsam auf. Die Basis von Professoren und Theologen, die seine orthodoxe Haltung teilten, war zu schmal, als dass er alle überzeugten Aufklärer ersetzen konnte. Bahrdt, der ins Gefängnis geworfen wurde, war eine Ausnahme und diente als warnendes Exempel. Woellner setzte auf Abschreckung und auf die Lernfähigkeit preussischer Beamter, die selber merkten, wie sie sich verhalten mussten, wenn ihr Brotkorb bedroht war. Zschokke war noch jung und unerfahren, ein viel versprechendes Talent, und man konnte abwarten, was aus ihm noch werden würde. Dafür war die Ochsentour als Privatdozent ja da.
Aber dazu liess Zschokke es nicht kommen. Er brachte das laufende Semester im Frühling 1794 zu Ende und reichte die Themen seiner Vorlesungen für das Sommersemester noch ein, führte sie aber nicht durch. Im Geheimen Staatsarchiv in Berlin befindet sich eine Tabelle der von Ostern 1794 bis Ostern 1795 gehaltenen Vorlesungen, die vom 2. April 1795 datiert ist, und hier taucht Zschokke nirgends auf.320
Auch andere Indizien zeigen, dass Zschokke im Sommersemester 1794 mit seinen Vorlesungen pausierte. Kurz nach Semesterbeginn zog er aufs Land und etablierte sich auf dem Rittergut Lichtenberg, «eine kleine Meile»321 von Frankfurt (Oder).322 Dort, schrieb er einer Bekannten, wolle er «meinen ganzen Sommer verschwärmen um die Natur recht ungefesselt, in ihren täglichen und nächtlichen Reizen geniessen zu können; um wieder aufzuleben und an Geist und Körper wieder zu genesen, da mich die Stadtluft schon um Farbe und Heiterkeit der Jugend betrog und mich drei und zwanzig iährigen Knaben zum Greise umwandeln wollte».323
ABSCHIED VON FRANKFURT
Von den letzten Monaten Zschokkes in Frankfurt (Oder) wissen wir wenig. Mitte Januar 1795 war er in Berlin, erhielt Zutritt zu Gelehrten- und Familienzirkeln, lernte Theatermänner wie Johann Friedrich Ferdinand Fleck kennen und hielt in einer gelehrten Gesellschaft einen Vortrag zur Verdeutschung fremdsprachiger Literatur, der von Ernst Adolph Eschke in der Zeitschrift «Olla Potrida» kommentiert wurde.324 Viel mehr erfahren wir darüber leider nicht. Er hatte engen Kontakt mit dem Verleger Friedrich Maurer und dem Kupferstecher Johann Friedrich Bolt (1769–1836), bei dem er wohnte. Zurück in Frankfurt (Oder) schrieb er Bolt: «Seit meiner Wiederkunft in Frft. behagts mir hier wenig. Berlin hat mich wirklich noch nie so intressirt, nie so wirklich gefallen, als das leztemahl. Fast alle meine Vorurtheile wider diese Residenz hab’ ich fallen lassen.»325
Sein Entschluss war gereift, Frankfurt (Oder) und die akademische Laufbahn zu verlassen, wenigstens solange die bleierne Zeit unter Woellner andauerte.326 Er beabsichtige, schrieb er Bolt, Italien und Dalmatien aufzusuchen, um «Ardinghellos Vaterland zu durchschwärmen».327 Da Bolt ihn nicht begleite, habe er sich einen früheren Freund zum Reisegefährten genommen. Er meinte Wilhelm Burgheim,328 der sich noch immer in Landsberg aufhielt, dort malte, gärtnerte und sich im Glanz seiner kryptoadeligen Abstammung sonnte. Aber trotz der romantischen Entführungsgeschichte, die er Zschokke damals in Schwerin erzählt hatte, war er zum Ardinghello nicht ganz geeignet.
Zschokke schrieb viel und plante seine Reise, die ihn durch Deutschland in die Schweiz und von dort nach Frankreich führen sollte, falls bis zu diesem Zeitpunkt mit Preussen Frieden geschlossen war,329 oder sonst, und wenn Burgheim einwilligte, nach Italien. Dies teilte er Oberkonsistorialrat Karl Franz von Irwing mit, den er um einen Reisepass bat. «Der Aufenthalt in der Schweiz soll eigentlich für mich allein sein, der Aufenthalt in Frankreich, oder wenn dies nicht sein darf, in den unbekannten, wüsten Gegenden des venet[ianischen,] österreichischen und türkischen Dalmatiens für die Welt sein, damit ich doch auch mit meiner Reise zur Vermehrung der Länder- und Völkerkunde Nuzzen einbringe.»330 Nach zwei Jahren wolle er zurück sein und sich in der Zwischenzeit «zu einem nüzlichen und glüklichen Mann» bilden.
Aus anderen Briefen geht hervor, dass die Schweiz nicht nur Durchgang nach dem Süden oder Westen für ihn war, sondern ein Hauptziel. Seiner Schwester Christiana schrieb er, dass er sich damit einen seiner ältesten Lieblingswünsche erfülle,331 und Gottlieb Lemme bekannte er: «Nichts in der Welt, die Liebe meiner Verwandten und meiner hiesigen Freunde ausgenommen, intressirt mich mehr, als der Gedanke die Schweiz zu sehn.»332 Darüber, woher dieser Wunsch kam und wie er sich äusserte, wird noch zu reden sein.
Zschokke arbeitete die Etappenziele seiner Reise aus und bemühte sich, von Bekannten Empfehlungen zu erlangen, die ihm in der Fremde nützlich sein konnten. Er erhielt bereits einige Einladungen von «Freunden meiner Muse»,333 darunter eine bedeutsame von Johann Christoph Gottlieb Lübeck (1766–1811), der seit 1793 in Bayreuth unter der Bezeichnung «Johann Lübecks Erben» den Verlag seines Vaters führte. Lübeck löste bald Apitz als Zschokkes Verleger ab.
Zum Semesterabschluss und Abschied veranstalteten die Studenten am 18. April einen Umzug für Zschokke, um ihn hochleben zu lassen; eine Ehrenbezeugung, die «noch nie hier einem Magister widerfahren, und nur selten den Professoren, geschieht. Lieblinge der Studierenden müssen es wenigstens sein.»334 Zschokke war also an der Viadrina noch sehr präsent, auch wenn er, wie wir annahmen, seit einem Jahr keine Vorlesungen mehr hielt. Seine Beliebtheit mag zum grössten Teil auf «Die schwarzen Brüder» und «Abällino» zurückzuführen sein, der in Frankfurt (Oder) erst neulich aufgeführt worden war. Zschokke wurde aber auch als Vertreter des Mittelbaus der Universität wahrgenommen und von Studenten und Professoren als Redner geschätzt. So verfasste er noch vor seiner Abreise im Namen der Studierenden ein Festgedicht für Prof. Berends, das er vermutlich auch vortrug.335
Schon fast in den Reisekleidern wurde er am 4. Mai zum Mitglied der Sozietät der Wissenschaften und schönen Künste ernannt, «wegen seines in den schönen Wissenschaften sich erworbenen Ruhms und Verdienstes». Gemeint waren damit sicherlich auch seine «Ideen zur psychologischen Ästhetik», die so eine indirekte Würdigung erfuhren. Unterzeichnet ist das Dokument von Prof. Hausen und Dr. Dettmars.336 Hausen, der selbstverständlich von Zschokkes Abreise wusste, wünschte, ihn durch diese Ernennung an die Viadrina zu binden, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, «daß Er für den Zweck und den Ruhm dieser Gesellschaft durch Seine gelehrten Beiträge thätigst sorgen werde». Er erteilte ihm den Auftrag, sich im Ausland nach Gelehrten umzusehen und sie der Gesellschaft als korrespondierende Mitglieder zuzuführen, was in einem Fall auch geschah,337 und sicherlich erwartete er auch, dass er ihm interessante Informationen aus den Gegenden, die er durchstreifte, mitteilte. Auch dies machte Zschokke wahr, wenngleich nur mittelbar, in seinem zweibändigen Reisebuch «(Meine) Wallfahrt nach Paris», das auch politische und kameralistische Betrachtungen enthält, wie Hausen sie wünschte.
Zschokke mit Künstlermähne und selbstbewusstem Blick im Zenith seines Ruhms als Dichter des viel gespielten «Abällino». Um seinen Freunden beim Abschied von Frankfurt (Oder) ein Geschenk zu machen, gab er im Frühling 1795 dem Berliner Freund, Kupferstecher Johann Friedrich Bolt, diese Kreidezeichnung in Auftrag, von der er eine grössere Anzahl Drucke bestellte. Bolt hatte ihn schon im Jahr vorher gezeichnet, und Zschokke verbot ihm, sein Porträt für eines seiner Bücher zu verwenden.
Am 2. Mai liess sich Zschokke als Lehrling in die Freimaurerloge «zum aufrichtigen Herzen» (au cœur sincère) in Frankfurt (Oder) aufnehmen,338 und am 8. Mai, einen Tag vor seiner Abreise, stieg er zum Gesellen und Meister auf. An diesen Daten kann kein Zweifel bestehen; sie stammen aus dem Logenarchiv und sind in einer Logengeschichte zu ihrem 150-jährigen Bestehen enthalten;339 selbst die Ernennungsurkunde ist noch vorhanden.340 Zschokke war die Frankfurter Loge schon längst vertraut; mehrere seiner Kommilitonen, darunter zwei seiner engsten Freunde, Samuel Peter Marot und Johann Gabriel Schäffer, gehörten ihr an, Marot seit 1790.341
Die Mitgliedschaft der Sozietät der Wissenschaften wurde an Zschokke herangetragen; um jene der Loge musste er sich selber bemühen. Wenn man bedenkt, wie kritisch er sich in jener Zeit gegenüber Orden und Geheimbünden äusserte, fragt man sich, was ihn zu diesem Schritt bewog. Weltanschaulich fühlte er sich der Freimaurerei verbunden; sie vertrat jene Vorstellungen, die er sich für die Menschheit der Zukunft wünschte: religiöse Toleranz, Beseitigung nationaler, konfessioneller und ständischer Schranken, Aufklärungsdenken, Einsatz für die sozial Schwachen und Armen. Alle Freimaurer waren Brüder, und als solche spielte es keine Rolle, ob einer Fürst war oder Bettler, wenn Leumund, Sittlichkeit und Gesinnung ihn zum wahren Menschen erhoben.
Breiten Raum gab Zschokke in seiner «Selbstschau» der Stellung der Freimaurerei als Mittlerin zwischen Staat und Kirche; als ihr eigentliches Ziel betrachtete er die «Verbrüderung der in Rechten, Pflichten und Hoffnungen, ursprünglich Gleichgebornen, ohne Rücksicht auf Menschenstämme, Vaterlande, Nationalreligionen u. s. w.; die Wiederanknüpfung der heiligen Bande, welche durch gesellschaftlichen und kirchlichen Zwang, durch Vorurtheile und Leidenschaften zerrissen worden sind».342 Diese Rolle konnten die Freimaurer aber keinesfalls unbehelligt spielen, da vorab die Kirche, aber auch der Staat, ihnen gegenüber Misstrauen hegte und nicht bereit war, ihnen einen politischen Einfluss oder die ihnen oft angedichtete Macht zuzugestehen. Zschokkes Idee war ein Wunsch, eine Vision, die zu den politischen Tatsachen in krassem Widerspruch stand und nur in der idealen Welt, wo er sich damals gern bewegte, realisierbar gewesen wäre.
Zudem entsprachen die Logen selber und ihre Arbeit nicht oder nur selten den Idealen Zschokkes. Es macht den Anschein, dass er der Frankfurter Loge hauptsächlich beitrat, um die Freimaurergemeinschaft von innen her zu reformieren, ihre Symbole und Rituale den höheren Zielen eines allgemeinen Menschenbundes anzupassen, auf dass demagogische und alchimistische Schwindeleien, theologische Geheimnisse und Scharlatanerien343 – die Eskapaden des Grafen von Cagliostro lagen noch nicht so lange zurück – darin keinen Platz fänden. Eine Woche nachdem er der Freimaurerloge «zum aufrichtigen Herzen» beigetreten war, einen Tag nach seiner Erhebung in den dritten Grad, verliess er Frankfurt (Oder) und nahm während der kommenden 15 Jahre an keiner Sitzung mehr teil, bis er im Herbst 1810 mit einigen Freunden in Aarau selber eine Loge gründete.
Johann Gabriel Schäffer erhielt von dem abgereisten Bruder Zschokke einen Aufsatz über den Ordenszweck zugeschickt, mit der Bitte, ihn in einer Meisterloge vorzulesen, was er aber nicht tat, da man erstens in diesen Sitzungen nicht viel über das Wesen der Freimaurerei spreche, sondern genug damit zu tun habe, die Aufnahme neuer Brüder durchzuführen, zweitens der Aufsatz manchem Meister unverdaulich sein könnte, «und endlich möchte ich nicht gern, daß Seidels Prophetie die er mir einmal in Rüksicht deiner gab: nehmlich daß nicht ein Jahr ins Land gehen würde, so würdest du reformiren wollen, jezt schon in Erfüllung gehen möchte».344 Er werde mit dem Vorschlag Zschokkes also noch zuwarten und den Aufsatz zuvor um eine Kleinigkeit ändern.
Schäffer, der Zschokkes Vorschlägen Sympathie entgegenbrachte, schätzte die Situation wohl richtig ein. Er hätte noch hinzufügen können, dass man sich in Frankfurt (Oder) (und anderswo) von einem jungen Bruder wohl nicht vorschreiben lassen wollte, wie und nach welchen Prinzipien eine Loge zu führen sei. Zschokke aber, unbekümmert um Traditionen und Realitäten, nahm seine Idee vom Wesen der Freimaurerei mit in die Schweiz und legte sie in verschiedenen Abhandlungen nieder.345
Traurig über Zschokkes Abschied waren vor allem die Frauen Apitz, Schulz und Hausen und ihre Freundinnen, die in ihren Salons verkehrten: die Ehepaare Görtz und Deutsch (beide Männer waren Apotheker), die Wilkes, Schades, Jachmanns (zwei Juristen, Brüder, die beide eine Tochter von Schulz heirateten), Kaufmann Harttung mit Familie, Madame Müller, Demoiselle Zimmerle, Minchen Badernoc. Das waren die Menschen, die Zschokke aus der Ferne grüssen liess oder die sich ihm in Antwortbriefen empfahlen, wobei er von Apitz, Schulz und den Frauen keinen einzigen Antwortbrief erhielt, was ihn sehr bedrückte. Die Freundschaften in Frankfurt (Oder) erwiesen sich, bis auf jene mit Professor Hausen und Johann Gabriel Schäffer, als brüchig. Bei dem Ehepaar Schulz lag das Verstummen vielleicht daran, dass Zschokke auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter Johanna drängte, die in ihrer Ehe unglücklicher war, als Zschokke ahnte, und von ihren Eltern nicht mit Erinnerungen an ihn belastet werden sollte.