Читать книгу Heinrich Zschokke 1771-1848 - Werner Ort - Страница 9
ОглавлениеNACHZÜGLER UND WAISENKIND
Am 22. März 1771 um zwei Uhr nachmittags kam an der Schrotdorfer Strasse 2 in Magdeburg ein Sohn zur Welt, Kind des ehrbaren Tuchmachers Johann Gottfried Schocke (1722–1779) und seiner Ehefrau Dorothee Elisabeth Schocke, geborene Jordan (1727–1772). Die «Magdeburgische Zeitung» verzeichnete in jenem März einen frostigen Frühjahrsbeginn.1 Am Gründonnerstag, dem 28. März, wurde er in der St. Katharinenkirche auf den Namen Johann Heinrich Daniel getauft: Johann nach dem Vater und wie drei seiner Brüder; Heinrich nach dem Paten Heinrich Ludowig Brand, einem Kontrolleur bei der königlichen Akzise (Steuerinspektor) und Daniel nach dem zweiten Paten, Tuchscherer Daniel Schächer.2 Aber nur der Name Heinrich, den schon ein kurz nach der Geburt gestorbener Bruder getragen hatte, blieb in Gebrauch.3
Wurde Heinrich, jüngstes von elf Kindern, geliebt, war er ein Wunschkind? Diese Frage stellte sich zu jener Zeit kaum. Eine Familienplanung gab es im Handwerkerstand nicht, und wenn Frauen früh heirateten und alle Geburten überlebten, waren Familien mit zehn, zwölf oder fünfzehn Kindern keine Seltenheit. Die Hälfte der Kinder starb früh, geschwächt durch Mangelernährung, dahingerafft von Epidemien, so dass es für die Eltern von Vorteil war, sich gefühlsmässig nicht stark an sie zu binden. Vier seiner Brüder und zwei seiner Schwestern lernte Heinrich nie kennen; einige hatten die ersten beiden Lebensjahre nicht überstanden. Ein Kind, das sich gesund entwickelte und das Erwachsenenalter erreichte, war im Nordwesten Magdeburgs, wo sich in einem Gewirr von Gassen, in schlecht gebauten, dumpfen, kleinen Häusern mit engen Stuben, die Strumpfwirk- und Webstühle aneinander reihten, fast schon ein Glücksfall. Ein Reisender, vermutlich Arzt aus Berlin, schilderte den elenden Zustand dieser Kinder:
«Es war mir ein äusserst rührender und schrecklicher Anblick, als ich die Schrotdorfer Baracken, wo alles von Kindern wimmelt, und einige Gassen in der Gegend der Hohenpforte, auch in der Neustadt und den anderen Vorstädten durchgieng, und da unter sechse kaum ein Kind von gesunder Gesichtsfarbe und körperlicher Gestalt bemerkte; mehrentheils sahe ich bleiche aufgedunsene Gesichter, dicke ungestaltete Leiber, krumme gebrechliche Füße, mitleidenswürdige Figuren vor mir. Ich nahm Gelegenheit, mit Eltern, denen solche Kinder angehörten, zu sprechen, und hörte da zu meinem grösseren Erstaunen, daß so ein elendes Kind von 6, 8, 10, die sie gehabt hatten, das einzige Ueberbleibsel sey, oder daß sie noch elendere krank liegen hatten.»4
Beide Elternteile starben früh, die Mutter, als Heinrich knapp ein Jahr, der Vater, als er acht Jahre alt war. An seine Mutter hatte Heinrich keinerlei persönliche Erinnerungen, besass auch keine Gegenstände, die mit ihr zu tun hatten. Sie sei eine schöne Frau gewesen, erzählte man ihm, habe ihn sterbend noch in den Arm genommen und geseufzt: «Armer Junge, warum bist du nicht ein Kirschkern, den ich hinabschlingen und mit mir ins Grab nehmen könnte!»5 Heinrich konnte sich nicht bewusst an sie erinnern; in «Eine Selbstschau» liess er sie noch im Kindbett sterben und nicht erst ein Jahr später.
Anders stand er zu seinem Vater; an ihm hingen seine Gefühle wie das Schiff an einem Anker; mit seinem Tod blieben Trostlosigkeit und eine grosse Leere zurück. Als Zschokke seine Lebensgeschichte niederschrieb, war die Erfahrung, früh eine Vollwaise geworden zu sein und niemanden gehabt zu haben, der ihn lieb hatte, immer noch lebhaft und schmerzlich. Heinrichs Welt verdüsterte sich. Neben einer Garnitur silberner Schnallen, einer silbernen Schnupftabaksdose, einem spanischen Rohr mit silbernem Knopf, Dokumenten und etwas Geld, das sein Vormund für ihn verwahrte,6 war ein Ausspruch des Vaters persönliches Vermächtnis – in der prägnanten Diktion Luthers: «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen.»7
Eigenartigerweise wusste Zschokke auch von seinem Vater fast nichts, nicht einmal die Lebensdaten. Er sei ein geachteter Tuchmacher gewesen, der es mit Tuchlieferungen für die Armee zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht habe, Oberältester seiner Innung oder dergleichen.8 Heinrich sei sein Schosskind gewesen, das er zärtlich geliebt und mit Nachsicht behandelt habe. Er habe ihn am Sonntag in die Kirche mitgenommen und dreimal am Tag laut beten lassen. Heinrich Zschokke hielt sich an diese spärlichen gemeinsamen Erlebnisse und malte sich das Übrige aus. Als der zwei Jahre ältere Neffe Gottlieb Lemme ihm viel später einiges vom Vater erzählte, antwortete er gerührt:
«Dein Gedächtniß ist treuer von jener Zeit, als das meinige. Du hast mir das Bild meines lieben Vaters, unter neuer Gestalt, wie ich sie mir nie zu denken pflegte wiedergegeben. Ich sehe ihn vor mir in deiner Malerei. O ich bitte Dich, sage mir doch alles deßen Du Dich von dem verewigten Guten erinnerst; Alles – ich weiß viel zu wenig von ihm! – Selbst das Dreiek auf den Silberknöpfen seines grünen Cashaquin’s9 ist mir wichtiger, & das Köstlichste was von Antiken in Herkulanum, Theben & Nubien ausgegraben wird.»10
Das Elternhaus wurde zwei Monate nach dem Tod des Vaters geräumt; Arbeitsgeräte und Mobiliar wurden in der «Magdeburgischen Zeitung» ausgeschrieben und versteigert.11 Das Haus ging für 520 Taler an die zweitälteste Tochter Friederica Elisabeth Nitze (1753–1816), eine Bäckersfrau.12 Im Familienrat wurde beschlossen, Heinrich dessen Bruder Johann Andreas Schocke (1747–1812) in Pflege zu geben, der bereits zwei eigene Kinder hatte.
STADT DER TUCHMACHER UND SOLDATEN
Viel wissen auch wir nicht über Zschokkes Vater. Er wurde als Johann Gottfried Tzschucke am 20. Oktober 1722 in Oschatz, einer sächsischen Kleinstadt östlich von Leipzig geboren, als ältester Sohn einer Tuchmacherfamilie.13 Schon der Oschatzer Stammvater Andreas Tzschucke (1627–1714), der aus dem sächsischen Rosswein eingewandert war und 1648 die Tochter und Enkelin eines angesehenen Oschatzer Berufskollegen heiratete, übte diesen Beruf aus. Der Berufszweig stand in Oschatz in Blüte: 1787 zählte man 62 Webstühle, auf denen jährlich 2000 Stück Tuch verarbeitet wurden,14 und noch 1815 bildeten die Tuchmacher die zahlenmässig stärkste Handwerkerzunft; sie war mit 126 Meistern fast doppelt so gross wie die nächst folgende der Schuhmacher.15
Die Schreibweise des Namens Zschokke erfuhr einen mehrfachen Wandel. In den Kirchenbüchern von Oschatz wurde er unterschiedlich geschrieben, da die Pfarrer sich hauptsächlich nach dem Gehör richteten: Tzucke, Tzschucke, Tzschocke, Zschocke, Zschucke, Zschuck oder Zschock.16 Die Herkunft des Namens war, wie in der Nähe der Elbe häufig, slawisch, genauer sorbisch, da das Volk der Sorben in jener Gegend weit verbreitet war.17 Nach einer Familienüberlieferung leitete sich Zschokke vom sorbischen Tschucka für Erbse ab.18 Andere damals existierende Deutungen zeigen, dass sich die Familie Zschokke später rege mit der Frage ihrer Herkunft befasste.19
Eine Zeitlang kursierte unter Zschokkes Söhnen das Gerücht, man sei adligen Ursprungs. Einen Hinweis darauf bot eine Anekdote Zschokkes, der sich im Übrigen kaum um dieses Thema kümmerte: Ein aus Norddeutschland stammender Herr von Tschock habe ihn in Frankfurt (Oder) einmal aufgefordert, seinen Adel registrieren zu lassen. Die Familie sei von alters her blaublütig, wenn auch der Zweig, dem Heinrich Zschokke entstammte, im Lauf der Zeit «hinabgekommen» sei. Der 17-jährige Sohn Achilles Zschokke, damals gerade Redaktor der handgeschriebenen Familienzeitung «Der Blumenhaldner», fügte hinzu, sein Vater habe den Rat des Herrn von Tschock verschmäht, da ihm das «von» vor dem Namen unnütz erschienen sei.20 Der Zschokke-Biograf Carl Günther meint aus der Kopf- und Gesichtsform Zschokkes, wie sie in vielen Porträts vermittelt wird, slawische Züge zu erkennen.21 Jedenfalls erleichterten es ihm das Slawische, Sächsische, Preussische und über die Mutter auch das Hugenottische seiner Abstammung, sich als Weltbürger zu fühlen.
In den Magdeburger Kirchenbüchern und Bürgermatrikeln finden sich nebeneinander Schocke und Schock. Da der Name mit der Witwe von Heinrichs Bruder Andreas Schocke 1819 in Magdeburg erlosch, stammen alle heute noch lebenden Verwandten der männlichen Linie, falls sie nicht Heinrich Zschokkes Nachkommen aus Aarau sind, von den Oschatzer Verwandten ab und heissen oft Zschucke, Tschucke oder Tschocke.22 Was Johann Gottfried Tzschucke aus Bequemlichkeit für sich und seine Nachkommen in Magdeburg beschloss: die Eindeutschung des Namens zu Schocke, machte sein Sohn Heinrich als Gymnasiast wieder rückgängig. Er fügte das Anfangs-Z wieder hinzu, veränderte «ck» in «kk» und schrieb sich fortan Zschokke. Daran hielt er unbeirrt bis an sein Lebensende fest. Nicht etwa Slawophilie oder ein Hang für die Familienvergangenheit waren das Motiv dafür, sondern sein Interesse für Geschichte. Wie er seinen Söhnen mitteilte, stiess er bei der Lektüre eines bekannten Geschichtswerks auf einen österreichischen General Zschock, fand den Namen attraktiv und nannte sich ihm nach.23
Um diese Namensänderung rankt sich ebenfalls eine Anekdote: Danach soll Bürgermeister Blankenbach, der als Scholarch und Vertreter des Magistrats von Magdeburg der Prüfung am Altstädtischen Gymnasium beiwohnte, Heinrich zur Rede gestellt haben: «Warum verändert Er seinen Namen? Sein Vater war ein ehrlicher Mann, der nannte sich Schocke; wenn die Erbschaft aus Lissabon ankommt, soll Er nichts davon abhaben.»24 Ob die Schockes wirklich Verwandte in Portugal besassen, ist unklar. Zschokke hatte die Genugtuung, dass sein um ein Jahr jüngerer Neffe Friedrich später seine neu-alte Schreibweise übernahm,25 ebenso auch die verheirateten Schwestern.
Wirtschaftliche Gründe bewogen wohl Johann Gottfried Tzschucke, schon in jungen Jahren von Oschatz wegzuziehen. Abenteuerlust kann es nicht gewesen sein, sonst wäre er sicherlich weiter weg gereist. Er wird einige Zeit nach dem ersten schlesischen Krieg (1740–1742) nach Magdeburg gekommen sein, in eine aufstrebende Stadt, grösser und attraktiver als Oschatz. 1738 war dort die Tuchmacherinnung gegründet worden, die den Zugang zum Gewerbe regelte und in die Schocke nach wenigen Jahren aufgenommen wurde. Am 13. August 1746 erhielt er durch ein königliches Reskript das Magdeburger Bürgerrecht und ehelichte zwei Monate später, am 23. Oktober, Jungfer Dorothea Elisabeth,26 jüngste Tochter des verstorbenen Tuchmacher-Altmeisters Joachim Peter Jordan.
Falls die Jordans hugenottischen Ursprungs waren, so kamen sie noch vor dem zweiten grossen Exodus nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Oktober 1685 nach Magdeburg und assimilierten sich schnell. Seit 1714 besassen sie das Bürgerrecht der Stadt und gehörten der evangelischen St. Katharinengemeinde an, wo auch Heinrich Zschokke und seine Geschwister getauft und konfirmiert wurden.27
In der Familie Schocke herrschte ein ausgeprägter Berufsstolz: Ein achtbarer Tuchmacher zu sein, wurde als persönliche Auszeichnung empfunden. Da Heinrichs Vater, sein Bruder Andreas, der Onkel in Oschatz, die beiden Grossväter und drei der vier Urgrossväter diesen Beruf ausgeübt hatten, war es ausgemacht, dass er ebenfalls Tuchmacher würde. Man musste sich also um seine Schulbildung und Zukunft nicht besonders kümmern.
Magdeburg war um 1771 eine Stadt mit gegen 25 000 Einwohnern, nicht gezählt die mehreren tausend Armeeangehörigen mit ihren Familien.28 Im 17. und 18. Jahrhundert hatten sich das Verlagssystem und Manufakturwesen stark entwickelt. Vorab Textil-, Tabak- und Töpferwaren wurden massenweise hergestellt, wobei dem Elbschiffverkehr bis Hamburg eine besondere Rolle zufiel.29 Die Ansiedlung von Hugenotten hatte der Seiden-, Woll-, Baumwoll- und Leinenweberei, der Strumpfwirkerei und Strumpfstrickerei zu einem beachtlichen Aufschwung verholfen.
Die Stadt war von dicken Wällen, Gräben, Bastionen und Zitadellen umgeben, die Bevölkerung fühlte sich aber auch eingeschlossen: «Bei Annäherung an die Stadt, beim Durchschreiten oder Durchfahren der Festungswerke verstärkten die verwinkelten, über Grabenbrücken und durch Walltunnel geführten Straßen sowie die Doppeltoranlagen, die ständig mit Torwachen besetzt waren, diesen Eindruck.»30 Die Festungsanlagen umfassten 200 Hektaren gegenüber 120 Hektaren Stadtareal, so dass die bewohnbare Stadt flächenmässig wie eine Beigabe zur Festung wirkte. Der Enge im Norden Magdeburgs, wo sich die Arbeiter drängten und auch die Schockes wohnten, konnte man sich nur entziehen, wenn man vor die Tore, in die Neustadt, nach Friedrichsstadt oder Sudenburg zog.
In vielerlei Hinsicht war die Garnison autark: Sie besass eine eigene Verwaltung und Justiz, eigene Schulen und medizinische Versorgung. Die Stadt zog manche Vorteile aus ihrer Lage als stärkste Festung Preussens: Die Könige schenkten ihr mehr Aufmerksamkeit als einer anderen Provinzstadt, zumal der Hof Friedrichs II. im Siebenjährigen Krieg hier zeitweilig Zuflucht fand. Es wurde viel gebaut und ausgebessert, aber auch die erhöhte Kaufkraft war spürbar. Die militärische Präsenz mit zwei Infanterieregimentern, zwei Grenadierbataillonen und einer Artilleriekompanie31 kam dem Handwerk, vor allem dem Wolltuchgewerbe, zugute: Uniformen aus diesem Material spielten in der preussischen Armee eine wichtige Rolle.
In der Magdeburger Altstadt war die Tuchmacherinnung gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit 837 Arbeitskräften vertreten: 70 Meistern oder Witwen von Meistern, 40 Gesellen, 11 Lehrburschen und 716 Gehilfen (39 Wollkämmer, die übrigen Wollspinner).32 Über zehn Prozent der 8154 «Professionisten» befassten sich mit der Herstellung von Wolltüchern. Ob Johann Gottfried Schocke tatsächlich durch bedeutende Tuchlieferungen für die preussische Armee reich wurde, wie Zschokke behauptete,33 darf bezweifelt werden. Dagegen sprechen die kleinräumlichen Verhältnisse, in denen er lebte, und die wenigen Arbeitsgeräte, die nach seinem Tod versteigert wurden. Wie viele Tuchweber er beschäftigte oder ob er auch Tücher von eigenständig arbeitenden Webern kaufte und verkaufte, wissen wir allerdings nicht.
Schocke war ein Tuchhersteller, ein Tuchhändler aber war er nicht; diese besassen ihre eigene Zunft: die Gewandschneiderinnung mit einem Haus am Alten Markt.34 Es gibt keinen Hinweis, dass Schocke dieser Zunft ebenfalls angehörte. Dagegen war er Altmeister der Tuchmacherinnung und leitete als Präses (Vorsitzender) ihre Sitzungen. Im Stadtarchiv Magdeburg ist ein Protokollheft, das mit dem 6. September 1777 einsetzt. An dieser Sitzung nahm auch Schocke junior teil, Heinrichs Bruder Andreas. Später lassen sich die Anwesenden nicht mehr feststellen; die Eingangsformel lautete: «Bey der heutigen Zusammenkunft der Alt- und Schaumeister [...]», ohne weitere Angaben. Bei solchen Anlässen wurde die Aufnahme neuer Meister in die Innung beschlossen; Bedingung war eine abgeschlossene Lehrzeit, das Bürgerrecht von Magdeburg und ein Meisterstück. Vater Schocke war für die jährliche Rechnungsablegung verantwortlich.
Magdeburg war geprägt durch die Elbe, ihre doppeltürmigen Kirchen und die Wallanlagen, welche die Stadt im 18. Jahrhundert zu einer unbezwingbaren Festung machten. In der Mitte des Flusses befand sich eine Zitadelle, welche die Stadt auch von dieser Seite schützen sollte. Ausschnitt aus einem Kupferstich des 18. Jahrhunderts.
Am 5. April 1779 liest man den Eintrag: «[...] Sollte eigentlich der Altmeister Nieschke sein Amt niederlegen; allein weil der Altmeister Schocke noch sehr krank ist, wurde festgelegt daß Meister Nieschke das Altmeister Amt bis zu Meister Schockens Wieder Gesundung versehen solle.» Da Schocke zwei Wochen später starb, rückte am 17. Mai der älteste Schaumeister zum Altmeister nach. Es galt dabei das Prinzip der Anciennität; man achtete ferner darauf, dass zwei Altmeister vorhanden waren, von denen der jüngere den «Oberältesten» in der Leitung der Innung ablösen konnte.35
ERSTE KINDHEITSERINNERUNG
Johann Gottfried Schocke hatte am 14. Mai 1757 in der Schrotdorfer Strasse 2 ein kleines zweistöckiges Haus erworben, das von einem einst doppelt so breiten Gebäude abgetrennt worden war und nach vorne eine Tür und zwei Fenster, im oberen Stock drei Fenster besass. Zur rechten Hand war eine schmale Gasse mit Hoftor, die später den Namen Fabriken Strasse erhielt. Eine Bleistiftzeichnung von 1828 und eine Tuschzeichnung, die um 1842 entstand, zeigen das Haus, in dem Heinrich und seine Geschwister geboren wurden.
Die Bezeichnung Schrotdorfer Strasse oder Grosse Schrotdorfer Strasse (um sie von der Kleinen Schrotdorfer Strasse zu unterscheiden) war eine gewaltige Übertreibung. Die einzige wirkliche Strasse in diesem Quartier war der Breite Weg, der die Stadt von Norden nach Süden durchquerte, durch den sich der Hauptverkehr wälzte und an der sich die Läden und Gasthäuser befanden. Die Einmündung vom Breiten Weg in die Schrotdorfer Strasse lag der Katharinenkirche gegenüber; es war eine Sackgasse mit Krümmungen und Verengungen, die auf die Casernen (oder Baraquen) Strasse mit Soldatenhäusern mündete, welche auf der Nordwestseite Magdeburgs der inneren Festungsmauer entlanglief. Ursprünglich hatte sich hier einmal ein Tor befunden, das zu einem Dorf mit dem Namen Schrotdorf geführt hatte.36
Wer sich heute in der Stadt bewegt, dem fällt es schwer, sich das Magdeburg von damals vor Augen zu führen. Durch die britische Bombardierung am 16. Januar 1945 – an der Peripherie der Stadt waren wichtige Kriegsbetriebe angesiedelt – wurde die nördliche und mittlere Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Beinahe alle Häuser der Innenstadt waren zerstört oder schwer beschädigt.37 Nach den Aufräumarbeiten war der Stadtkern eine leere Fläche, aus welcher Kirchenruinen und einzelne weniger beschädigte Häuser wie Zahnstummeln ragten. Das DDR-Regime verzichtete auf eine Restaurierung und versuchte, eine sozialistische Vision zu verwirklichen, wie sie teilweise schon Otto von Guericke nach der ersten Zerstörung Magdeburgs 1631 entwickelt hatte: mit breiten Strassen und zentralen Achsen.38 Vom Nordwesten der Stadt blieb nichts mehr übrig, als 1966 auf Geheiss des Staatsratsvorsitzenden Walther Ulbricht und gegen den Willen der Magdeburger die beiden Türme der Katharinenkirche eingeebnet wurden.39 Stattdessen entstand ein Plattenbau, Haus der Lehrer genannt. Seit 2000 befindet sich auf dem Gehsteig als Mahnmal der Zerstörung ein Bronzemodell.
An die Schrotdorfer Strasse erinnert nichts mehr; nicht einmal die Strassenführung ist noch erkennbar. Dort stehen heute einfallslose, hintereinander gestaffelte Hochhäuser und davor, am Breiten Weg, zweigeschossige Läden und Baracken, die noch verlotterter wirken als die omnipräsenten Plattenbauten, die seit 1989 «rückgebaut», das heisst abgerissen werden. Als Hans W. Schuster, der sich um die Rettung der alten Bausubstanz Magdeburgs verdient gemacht hatte, im Auftrag der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft eine Bronzetafel zum Gedenken an Heinrich Zschokke goss, war es nicht mehr möglich, sie dort anzubringen, wo einmal dessen Elternhaus stand. Der Standort wurde nach Westen versetzt, ins Gebiet der früheren Festungsanlagen, wo sich nun gegenüber der Universität ein Park befindet, und an die (neue) Zschokkestrasse, die 2001 durch den Einsatz der Literarischen Gesellschaft von Magdeburg und der Gesellschaft von 1990 umgetauft wurde.40
Zschokkes Geburtshaus an der Schrotdorfer Strasse 2, nach einer Federzeichnung von 1842 oder 1843. Im rechten Teil dieses Doppelhauses kamen auch Zschokkes acht Geschwister zur Welt. Das Gässlein rechts, die spätere Fabriken Strasse, hatte damals noch keinen Namen und war nur fussgängerbreit. Von hier ging ein Tor in den Hof.
Als im April 1827 Zschokkes zweitältester Sohn Emil nach Magdeburg kam, traf er noch vieles so an, wie sein Vater es erlebt hatte: den belebten Breiten Weg, wo die Kaufleute, Kornhändler, Brauer, Branntweinbrenner und Bäcker dicht an dicht ihre Geschäfte betrieben, die Katharinenkirche, die Strassen mit ihren niedrigen Riegelhäusern.41 Seine Eindrücke hielt er in der Artikelreihe «Erinnerungen aus Magdeburg» für seine Geschwister im «Blumenhaldner» fest.42 Mit seinem Vetter, Zschokkes Kindheitsfreund Gottlieb Lemme, besuchte er auch das Elternhaus. Die Seitenstrassen, stellte er fest, seien in dieser Gegend so schmal, dass man sie besser Gässchen nennen würde:
«Sie führen in die entlegenen Quartiere der Stadt, die sich an die innern Seiten der Festungswälle anlehnen, und bieten dem Fremden nicht die mindesten Sehenswürdigkeiten dar und werden darum auch selten von solchen besucht. Für den Blumenhaldner aber enthält zumal die leztgenannte [...] die größte, ihm heiligste Merkwürdigkeit Magdeburgs. Es steht da ein kleines graues Haus mit grünen Fensterläden, das, weil hier die Schrotdorfer-Gaße von einer andern durchkreuzt ist, zum Ekhause wird. Es ist nur zwei bis 3 Fensterlängen breit, und ein Stokwerk hoch. Auf seiner hintern Seite muß ein geräumiger Hofraum sich ausbreiten, der aber von einer hohen Mauer von dem obengenannten Quergäßchen geschieden ist. Die festgeschloßene Hofthür, welche in der Mauer angebracht ist, gewährt dem Neugierigen keinen Blik hinein. Nur einige überhängende grüne Zweige laßen ahnen, daß sich darin freundliche Schattengänge befinden. Zu diesem Hause führte uns Lemme einmal, und sprach, indem er ernst darauf wies: ‹Seht da ist Euer Vater geboren.›»43
Hier also verlebte Heinrich Zschokke die ersten acht Jahre seiner Kindheit, zusammen mit seinem Vater, der jüngsten Schwester Christiana Catharina und der nächst älteren Schwester Friederica Elisabeth, die 1775 heiratete und aus dem Elternhaus wegzog. Es ist anzunehmen, dass sich nach dem Tod der Mutter wenigstens eine weibliche Person um die beiden Kinder kümmerte. Vielleicht war dies in den ersten Jahren die ältere Schwester.
Das erste Kindheitserlebnis, das Zschokke anführt, war ein Komet, der 1774 über der Stadt erschien und die Bürger in Besorgnis versetzte. Man habe darin die Zornrute Gottes erblickt. Der Vater sei mit seinen drei Töchtern vor die Türe getreten und habe den kleinen Heinrich allein in der Stube gelassen.
«Ich bebte vor Entsetzen, zog grausend die kleinen Füße an mich auf den breiten, ledernen Lehnstuhl, und wagte kaum zu athmen. Denn ich stellte mir draußen die strahlende Zornruthe, hingestreckt durch die Nacht über eine schaudernde Welt, vor, und wie von der Welt dahin tausend leichenblasse Menschengesichter schweigend emporstarrten.»44
Heinrich war damals drei Jahre alt (in der «Selbstschau» gab er sich ein Jahr mehr), und es ist kaum anzunehmen, dass ihn in diesem Alter schon ein metaphysisches Gruseln packte. Ausserdem lebten ja nur noch zwei Schwestern im Haus.45 Fast jedes Jahr wurde ein Komet gesichtet; derjenige von 1774 war nicht einmal besonders spektakulär.46 Es ging Zschokke bei dieser Notiz um etwas ganz anderes als um ein tatsächliches Begebnis. Am Anfang des bewussten Lebens stand nach seiner Überzeugung eine namenlose Angst, in der ein Mensch sich allein gelassen fühlt. Da Zschokke die Angst vor der Strafe Gottes später oft in Zusammenhang mit Aberglauben und religiösem Wahn brachte, denen ein kindliches Gemüt hilflos ausgeliefert sei, schien es ihm bei bei der Abfassung seiner «Selbstschau» sinnvoll, die Kometengeschichte hier einzubringen.
In der «Selbstschau» wollte Zschokke die Geschichte seiner inneren Welt, «ihrer Verwandlungen, ihrer Religions- und Lebensansichten u.s.w.» schildern. «Ich entwikkle mir, wie ich zu meiner Religion stufenweis’ kam, zu meinem Leben in Gott, zu meinem Einswerden mit den Ansichten Christi von göttlichen Dingen, und schildre dann meine Religion.»47 Der erste Band sollte sein religiöses Bewusstwerden, sein geistiges Erwachen zeigen, ein zweiter Band seine philosophischen und religiösen Überzeugungen in einen logischen Zusammenhang bringen.48 Im Verlauf der Ausarbeitung kam Zschokke von dem Konzept für den ersten Band wieder ab. Er sah wohl ein, dass die Darstellung seines bewegten Lebens, all dessen, was er als Augenzeuge und Handelnder beobachtet und mitgestaltet hatte, für seine Mitmenschen mindestens ebenso interessant war wie die Auslegung seiner inneren Welt.
Die Beschreibung seiner ersten Lebensjahre ist noch ganz vom ursprünglichen Konzept geprägt. Die Summe seiner Erkenntnisse über das Wesen und die Entwicklung des Menschen führte er in einer doppelten Betrachtungsweise aus: die Quintessenz in einer systematischen und synoptischen Schau seines Weltbildes («Welt- und Gottanschauung»), die Entwicklung und Reifung, gleichsam das Erwachen des Menschen, in einer diachronen Sicht am eigenen Fall («Das Schicksal und der Mensch»). Dem diachronen Ansatz legte er ein Evolutionsmodell zugrunde, das die Entfaltung des Individuums in verschiedenen Stufen vom Säugling über den Jüngling bis zum Greis betrachtet. Dies kommt schon in der Einteilung des autobiografischen Teils zum Ausdruck, mit den Hauptkapiteln Kindheit, Wanderjahre, Revolutionsjahre, des Mannes Jahre und Lebens-Sabbath.
Zu Beginn jeglicher Menschwerdung, der individuellen wie der allgemeinen, steht nach Zschokkes Vorstellung ein Dahinfluten des Geistes zwischen Wachen, Schlafen und Träumen, bevor der Verstand sich zu regen beginnt. Also setzte er in der «Selbstschau» mit der Beschreibung seiner Kindheit so ein:
«Das erste Denken des Kindes ist ein leises Spinnen der Fantasie im Dämmerlicht des Bewußtseins; ein gedächtnißloses Träumen im Wachen. Die Welt gaukelt unklar an den Augen vorüber; und was sie zeigt, ist vergessen, sobald sie es wegnimmt. Der Mensch ist noch thierähnlich; der Geist hat sich noch nicht mit seinen irdischen Werkzeugen vertraut gemacht; das weiche Lebensgewebe des Leibes ist noch zu zart, als daß es ihm schon zum freiern Gebrauch dienen könnte. So gehn die ersten Jahre des Kindes vorüber. Der eben vorhandne Augenblick ist ihm ein Lebensganzes.»49
Die Stufenleiter, die jeder Mensch durchläuft, sah Zschokke vorgezeichnet und wiederholt in der Evolution der Natur vom Unbelebten über die Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen und ein weiteres Mal in der Kulturgeschichte. Den Schlüssel zu dieser Interpretation gibt Zschokke im zweiten Teil der «Selbstschau». Er führt die geistige Entwicklung des Individuums parallel zu jenen ganzer Völker, mit den Stufenfolgen Wildheit, Halbwildheit, Barbarei, Halbbarbarei und Zivilisation. Die oberste Stufe des «Hochmenschlichen» habe bisher kein einziges Volk erreicht, wohl aber «der einzelnen Sterblichen Viele, unter Barbaren und Civilisirten, [...] Andre zur Nachfolge ermuthigend».50 Diese oberste Stufe sei für jedes Individuum erstrebenswert und werde auch die Menschheit schliesslich erreichen. Als Zschokke die «Selbstschau» schrieb, glaubte er, diese letzte Stufe erreicht zu haben oder ihr mindestens nahe zu sein.
Zur Gesittungsstufe der Barbarei gehörte auch der Aberglaube, dass ein Meteor die Zornrute Gottes sei, was erst später, im Verlauf der Verstandesbildung und Aufklärung hinterfragt werden könne. In einem gerafften Zeitablauf hatten sich Zschokkes Vater und die einfachen Leute, Handwerker, Soldaten und Arbeiter im Nordwesten der Stadt Magdeburgs um 1775 demnach noch auf der Stufe des Barbarentums befunden. Zschokkes eigener Weg, wie ihn jedes Kind durchlaufen musste, erfolgte als Befreiung aus dem dumpfen Zustand des Aberglaubens und der Ängste zur Freiheit des Denkens, aus der Dunkelheit zum Licht.
Wie von selbst stellt sich in der «Selbstschau» eine Übereinstimmung zwischen dem eigenen Erleben und dem kulturellen Zustand der Stadt ein: Magdeburg zwischen 1771 und 1780 passt sich der Befindlichkeit des Knaben an, als eine abergläubische, halb archaische Welt, die von irrationalen Kräften bestimmt ist. Dies wird dem Leser vor Augen geführt, indem Magdeburg aus der Sicht des kleinen Heinrich geschildert wird. Dabei musste Zschokke seine Phantasie zu Hilfe nehmen, da er sich nicht hauptsächlich auf selber Erlebtes, geschweige denn auf seine Gefühle von damals bezog. Dennoch gelang es ihm, seiner «Selbstschau» einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen. Er war ein Meister solcher Suggestion, wobei seine Vorgehensweise neben ihrer Stringenz und Kohärenz noch den Vorteil hatte, die psychische Verfassung eines Kindes zu verdeutlichen. Mit dem realen Magdeburg jener Zeit und dem regen Kulturleben der Stadt hatte das nicht viel gemein.51
Dem Biografen obliegt es, Zschokkes philosophisch-imaginative Wahrheit durch die Wirklichkeit, soweit rekonstruierbar, zu ersetzen. Erst wenn er andere Quellen und Darstellungen beizieht und damit vergleicht, stösst er auf Lücken, die es zu füllen, und auf Widersprüchlichkeiten, die es zu bereinigen gilt. Eine dieser Lücken besteht darin, dass Zschokke im Alter kaum noch frühe Ereignisse und Eindrücke abrufen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Einiges schien ihm für den Zweck seiner «Selbstschau» unnützer Ballast.
Als 7-Jähriger, berichtete Emil Zschokke, sei Heinrich von seinem Vater aus dem Schlaf gerissen worden und habe über den Häusern im Süden die Röte eines nahen Brandes gesehen. Dies habe «einen [...] unverwischlichen Eindruck» auf ihn gemacht.52 Obschon Zschokke dieses Erlebnis seinen Söhnen selber erzählte, liess er es aus den eben genannten Gründen aus der Lebensgeschichte weg.
Ein nächtlicher Brand in der Altstadt war aber für die Bürger von Magdeburg gewiss bedrohlicher als die Sichtung eines Kometen. Ein solches Feuer konnte leicht um sich greifen und in dem Gassengewirr mit seinen Fachwerkhäusern die Bewohner eines ganzen Quartiers gefährden. Mehr als einmal wurde Magdeburg von schweren Feuersbrünsten heimgesucht; am verheerendsten waren jene vom 10. Mai 1631, die fast die ganze Innenstadt zerstörten. Im Namen der katholischen Liga hatte Graf von Tilly während des Dreissigjährigen Kriegs das lutherische Magdeburg erobert. Ob die Brände, die sich über die ganze Stadt ausbreiteten, damals absichtlich gelegt wurden, ist nicht restlos geklärt.53 Ihnen fielen neun Zehntel der Häuser zum Opfer; von den über 33 000 Bewohnern blieben nicht einmal 500 in der Stadt.
Seither achtete man darauf, Feuerspritzen bereit zu halten und teilte die Altstadt in neun Bürgerviertel ein. Die gesamte waffenfähige Bürgerschaft war verpflichtet, bei einem militärischen Angriff oder im Brandfall Dienst zu tun und die Stadt zu verteidigen. Da diese Bürgerwehr bei Feierlichkeiten und Umzügen mit ihren Fahnen und mit Musik in Erscheinung trat und man sich jedes Jahr im Mai die Katastrophe von 1631 ins Gedächtnis rief, liess Zschokke dieses Thema sicherlich nicht unberührt.
Wenn er es darauf angelegt hätte, ein farbiges Panorama seiner Zeit und der Stadt zu zeichnen, hätte Zschokke aus dem Alltag des sechsten Viertels viel zu berichten gewusst. In allernächster Nähe des Elternhauses, an der Braunen Hirsch Strasse, die damals noch Kleine Schrotdorfer Strasse hiess, befand sich die Steingut-, Porzellan-, Fayencefabrik von Guischard mit (um die Jahrhundertwende) über hundert Arbeitern.54 Es ist kaum vorstellbar, dass einen Knaben das Treiben in und um diese Fabrik nicht interessierte, wie überhaupt die Geräusche und Gerüche dieser Stadt, das Laden und Entladen der Kähne an der Elbe, das Rattern von Kutschen und Wagen, die kirchlichen und weltlichen Feste, das Militär mit seinem Drill, den Pferden, der Musik, den Paraden und dem Auspeitschen fehlbarer Soldaten bleibend auf ihn gewirkt haben müssen.
Militär marschierte durch die Strassen und exerzierte auf dem Domplatz; es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die häufigsten Nachrichten in der «Magdeburgischen Zeitung» zu städtischen Belangen handelten von Truppenverschiebungen, von Beförderung oder Abberufung von Offizieren und von den Besuchen hoher Persönlichkeiten. Selbstverständlich beeindruckten Zschokke die Soldaten in ihren Uniformen, das blankpolierte Metall, das glänzende Leder, ihre Waffen und Pferde. Er war von militärischen Formationen, vom Exerzieren und Defilieren ein Leben lang fasziniert.
Dabei ist eine sehr frühe Erinnerung erwähnenswert, die Zschokke seinen Söhnen mitteilte, ebenfalls ohne dass er sie in die «Selbstschau» hätte einfliessen lassen: «Papa sieht als kleiner Knabe in Magdeburg den König Friedrich den Großen bei einer Revue. Der Rok des Königs streifte an das Röklein Papas.»55 In seiner Erzählung «Der Feldweibel von der Potsdamer Garde» (1823) schilderte er den Einzug des Königs mit seinem Gefolge in Magdeburg durch das Krökentor, die zahlreichen Schaulustigen am Breiten Weg und die Schuljugend, die auf Brettergerüsten und Sandsteinplatten vor der in Renovation befindlichen Katharinenkirche turnten, um alles mitzubekommen.56 Diese Szenerie trägt autobiografische Züge; sie stand den Söhnen plastisch vor Augen, als sie 1826 nachsahen, ob die Steine und Bretter, auf denen ihr Vater als Kind herumkletterte, noch immer vor der Kirche lagerten.57
Vater Schocke kümmerte sich nicht darum, was sein Sohn den Tag hindurch trieb, und da sich Heinrich am liebsten im Freien aufhielt, wurde er zu einem der zahlreichen herumlungernden Jungen in seinem Viertel, die sich austobten und in ihrem Spiel nur beeinträchtigen liessen und davon stoben, wenn ein Gendarm auftauchte. Sein Vater wird ihm wohl befohlen haben, sich nicht zu weit von zu Hause wegzubewegen, denn oft hielt er sich im Innenhof auf, kletterte auf Bäume und über Dächer (die meisten Häuser waren nur zweistöckig) oder spielte in der Umgebung mit anderen Buben Krieg. Ausgerüstet mit hölzernen Säbeln lieferten sie sich Schlachten, bei denen auch Scheiben zu Bruch gingen.58
Das Militär war in Magdeburg allgegenwärtig, Preussen oft in Kriege verwickelt – es wäre seltsam gewesen, wenn die Knaben nicht Soldaten gespielt hätten; das Kriegsspiel diente dem Hineinwachsen in die Männerwelt. Er, Heinrich, sei zu ihrem Feldherrn ernannt worden, schrieb er in der «Selbstschau».59 Dies liess sich wohl nur zum Teil darauf zurückführen, dass er die Arbeiter- und Soldatenkinder in den umliegenden Häusern und aus den Baracken der nahe gelegenen Kasernenstrasse mit Holzwaffen versorgte. Er muss besonders wild und wagemutig gewesen sein und sich gegen andere durchgesetzt haben. Ausser mit ihren hölzernen Schwertern spielten die Knaben mit Spielzeugsoldaten. Beim alten Birnbaum hinter seinem Elternhaus sei diese kleine Armee «mit Trommel & Trompetenschall jedesmal unter den morschen Wurzeln vergraben worden, um am dritten Tag wieder aufzuerstehn».60
Auf diesem Plan der Stadt Magdeburg von G. Henner (um 1790) sind die Bürgerviertel der Altstadt und die wichtigsten Gebäude eingezeichnet. Die Hauptstrasse war der von Norden nach Süden verlaufende Breite Weg (hier von rechts nach links), von dem ein Gassengewirr abging. Die Schrotdorfer Strasse, wo Heinrich Zschokke die ersten sieben Jahre verbrachte, lag im Nordwesten. Das Schrotdorfertor im Westen der Altstadt, in das die Schrotdorfer Strasse mündete, wurde Teil des Festungswalls vor der Bastion Magdeburg, ganz oben auf dem Plan.
Man merkt es der Anekdote an, wie gern Zschokke sich diese Szene ins Gedächtnis rief. Noch als Erwachsener beschäftigte er sich oft mit der Welt des Militärs, spielte Schlachten auf der Landkarte nach und beschrieb Kriege ausführlich in Büchern und Zeitschriften. Besonders Napoleons Heldentaten hatten es ihm angetan.61 Soll man dies als ein Erbe seiner Magdeburger Kindheit betrachten? Als ihm die Aargauer Regierung 1818 einen Offiziersrang im kantonalen Generalstab anbot, lehnte er ab, als er erfuhr, dass er nur zum Major und nicht zum Oberstleutnant ernannt werden sollte.62 So blieb er Zivilist, der nie einen Tag Militärdienst tat und, zu seinem Glück, Schlachten und Kriege bis auf die Zeit zwischen 1798 und 1800 in der Schweiz nur von seinem Schreibtisch aus verfolgte. Aber einmal wenigstens, als Kind, war er ein General gewesen.
Bei allen Erinnerungslücken mass Zschokke zwei Dingen in «Eine Selbstschau» besondere Bedeutung bei: dem frühen Besuch der Schule und der Kirche. Im Alter von fünf Jahren habe ihn sein Vater in eine Schule gesteckt, ohne sich darum zu scheren, ob sie für ihn taugte oder nicht.63 Von diesen Trivialschulen gab es in Magdeburg eine grössere Zahl; eine davon war im Besitz der Stadt: die Altstadtschule an der Schulstrasse, nur zwei Strassen vom Elternhaus entfernt. Sie befand sich in einem ehemaligen Franziskanerkloster und war in einem erbärmlichen Zustand. Zwei der Schulzimmer lagen halb unter der Erde, waren feucht und dunkel, mit halbblinden Fenstern und kaum heizbar.64
Ob Zschokke diese Schule besuchte, wissen wir nicht; dass ihm aber auf einer von den Kirchgemeinden betriebenen Parochialschulen oder in einer der vielen Winkelschulen Besseres widerfahren wäre, ist nicht anzunehmen. Die Privatschulen im Magdeburg «waren meist in Hinterhäusern untergebracht, dunkel und, wenn der Betrieb gut ging, furchtbar überfüllt; von Schulhof, Lehrmitteln usw. war natürlich keine Rede».65 Die Lehrer wurden schlecht besoldet, ihre Qualifikation war ungenügend, der regelmässige Schulbesuch wurde nicht kontrolliert; Hauptsache, das Schulgeld ging ein. Jedermann konnte eine solche Schule eröffnen.66 In die Schulstuben wurden bis zu 100 Kinder im Alter von drei bis vierzehn Jahren gepfercht; was und wie unterrichtet wurde, blieb besser ungefragt. Der Magistrat erfüllte seine Aufsichtspflicht nur schlecht;67 die Übelstände waren längst bekannt, aber es vergingen noch über dreissig Jahre, bis man ernsthaft daran ging, das Primarschulwesen zu verbessern.68
Zschokke schrieb über die Schule nur, dass er sie als Plage- und Zwangsanstalt empfand.69 Ob er sich ihrem Zugriff entzog, indem er den Unterricht schwänzte, oder lust- und teilnahmslos die Stunden absass – seine erste Begegnung mit der Schule war auf jeden Fall unerfreulich. Sein Vater habe ihn fleissig zum Schulbesuch angehalten, schrieb Zschokke, ob mit Erfolg oder nicht liess er offen; er dürfte schon damals nicht besonders willfährig gewesen sein. Der zwei Jahre ältere Neffe Gottlieb Lemme half ihm beim Buchstabieren und Lesen.70 Der Vater habe ihn auch zur Predigt mitgenommen und von ihm verlangt, dass er Gebete hersage, deren Inhalt er nicht begriff.71 So also sahen Gottfried Schockes Mittel aus, seinen jüngsten Sohn zu einem braven Bürger und guten Christen zu erziehen.
Luthers Leitspruch, den er seinem Sohn auf den Lebensweg gab, «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen», deutet auf eine pietistische Haltung hin, wie sie, von Halle ausstrahlend, in Magdeburg vor 1800 weit verbreitet war. Pfarrer Georg Andreas Weise an der St. Katharinenkirche war ein Vertreter dieses bekenntnishaften persönlichen Glaubens. Er interpretierte die Bibel sehr lebhaft und regte die Phantasie des kleinen Heinrich an, in dessen Phantasie fortan geflügelte Engel und «der rauhhaarige Teufel, mit Lahmfuß, Pferdehuf und langem Schwanz» herumspukten.72
Es ist offensichtlich, dass Gottfried Schocke seinem Sohn keine grosse Aufmerksamkeit schenkte. Zschokke blieb dabei, dass er ihm ein liebevoller Vater gewesen sei, gerade dort, wo die Vernachlässigung am deutlichsten hervortritt: «Der zärtliche Vater strafte wirkliche Unarten seines Lieblings selten; überließ die Erziehung des Wildfangs vertrauensvoll dem Zufall, und so ward dieser ein lebenslustiger Springinsfeld, oder besser gesagt, ein Gassenjunge der Stadt, im strengsten Sinn des Worts.»73 Diese vorteilhafte Würdigung des Vaters ist bemerkenswert, da Zschokke als erwachsener Mann ganz andere Erziehungsprinzipien vertrat und es ihm nie eingefallen wäre, seinen Söhnen nur einen Bruchteil von dem durchgehen zu lassen, was er sich bei seinem Vater leisten konnte.
Sein Vater habe ihn für eine wissenschaftliche Laufbahn vorgesehen, behauptete Zschokke.74 Das wusste er höchstens vom Hörensagen, denn aus den Vorkehrungen, die Gottfried Schocke traf, kann dies nicht abgeleitet werden. Dass er seinen minderjährigen Kindern den Glockengiesser Christian Gotthold Ziegener (1731–1812) als Vormund bestimmte,75 seinen Freund und Altersgenossen, ein treues Mitglied der Kirchgemeinde und so bildungsfern wie nur möglich, weist in eine andere Richtung.
Der Vater kränkelte über längere Zeit; sein Tod «an Auszehrung» am 17. April 1779 kam für Heinrich dennoch überraschend; er war für ihn unbegreiflich, schrecklich, traumatisch. Der Vater sei der erste Leichnam gewesen, den er gesehen habe, erzählte er fünfzig Jahre später. Er sei die ganze Nacht wach geblieben und habe geglaubt, es werde nie mehr tagen. Die Angst und das Alleinsein erlebte er hier noch einmal und viel intensiver als beim Auftauchen des Kometen. Sein Vater trat nun nie mehr in sein Zimmer, um ihn zu wecken oder mit ihm zu beten; nie mehr nahm ihn jemand auf den Schoss, um ihn zu liebkosen.
Allerdings, fügte Zschokke hinzu, habe er nicht lange geweint: «Die Sonne kehrte wieder. Die Feierlichkeiten des Begräbnisses unter Chorgesängen und Geläute sämmtlicher Glocken der Katharinenkirche, daneben neue Trauerkleider und großes Leichengepränge, zerstreuten die Betrübniße des 8-jährigen Knaben bald.»76 Desto überwältigender wurde sein Schmerz, als er älter wurde und den Vater bewusst vermisste. Mit achtzehn Jahren schrieb Zschokke in der Fremde sein langes Gedicht «Wallfahrt zum Grabe des Vaters»77 und kehrte in Gedanken noch einmal nach Hause zurück; zehn Jahre habe er dem Vater nachgeseufzt und nachgeweint:
«O Menschenkinder, wer von euch
Solch einen Vater schon verlor,
Solch einen Vater zu verlieren hat:
Er weine mit.»
Zwei Vollwaisen waren zu versorgen: die 13-jährige Christiana und der 8-jährige Heinrich; die beiden Geschwister wurden getrennt. Wer das Mädchen aufnahm, ist nicht bekannt; vielleicht eine ihrer Schwestern, Dorothea Lemme oder Friederica Nitze, oder eine Schwester der Mutter. Mit 15 Jahren wurde sie mit dem 22 Jahre älteren Wundarzt und Chirurgen Johann Paul Faucher (1743–1794) verheiratet, einem Witwer und Mitglied der französisch-reformierten Gemeinde, der aus erster Ehe einen Sohn mitbrachte. Dieser Ehe entsprossen zwei Kinder; sie verlief glücklich, sieht man davon ab, dass Faucher früh starb. Heinrich empfand eine starke Zuneigung zu Christiana, seinem Schwager und den beiden Kindern Johanna (Hannchen) und Jean Pierre (Hänschen).78 Es ist bedauerlich, dass Zschokkes Briefe an Faucher nicht mehr vorhanden sind, da sie wertvolle Informationen aus seiner Studienzeit enthielten.79
Der Breite Weg (die Hauptstrasse Magdeburgs) mit dem Krökentor im Norden und den Türmen der Katharinenkirche rechts, wo das kirchliche Leben der Familie Schocke stattfand und Vater Schocke auf dem Friedhof begraben wurde. Gegenüber der Kirche zweigte die Schrotdorfer Strasse vom Breiten Weg ab. Lithografie von 1844.
Heinrich kam zu seinem Bruder Andreas Schocke, der an der Elbe unter dem Knochenhauerufer wohnte. Das hiess für ihn, die Umgebung zu wechseln, die Freunde zu verlieren und auf Militärspiele zu verzichten.
Am 8. Mai 1779 fand die Eröffnung des Testaments statt, das Vater Gottfried Schocke einen Monat vor seinem Tod vor vier amtlichen Zeugen (Mitglieder des Rats und des Gerichts) mündlich zu Protokoll gegeben hatte.80 Alle fünf überlebenden Kinder wurden gleichmässig bedacht; den beiden jüngsten standen zunächst jene 700 Taler zu, die den drei älteren bei ihrer Verheiratung, Wohnungsgründung und zu ihrer Ausstattung verabreicht worden waren. Wenn es stimmt, wie sein Schwager Andreas Gottfried Behrendsen einmal schrieb, dass Heinrich 1200 Taler erhielt,81 so lässt sich daraus das Vermögen des Vaters errechnen, das bei seinem Tod 3900 Taler betrug, wovon 2500 das eigentliche Erbe waren. Das war nicht viel für eine über 40-jährige Berufslaufbahn. Selbst wenn man den Erbvorbezug der drei älteren Geschwister dazuschlägt, kann von einem ansehnlichen Vermögen, das sich der Vater mit Heereslieferungen erworben haben soll, keine Rede sein.82 Heinrichs 1200 Taler wurden angelegt; von den Zinsen von 60 Talern sollte sein Lebensunterhalt bestritten werden, während das Kapital bis zu seiner Mündigkeit unantastbar blieb. Darüber wachten sein Vormund und der Magistrat von Magdeburg als Vormundschaftsbehörde. Leider sind diese Akten im Stadt- und Landeshauptarchiv nicht mehr greifbar.
Andreas Schocke hätte vom Alter her Heinrichs Vater sein können. Sein ältester Sohn Johann Gottfried Friedrich (29. 7. 1772 bis wahrscheinlich 1811), genannt Fritz, war nur ein Jahr jünger als Heinrich. Obwohl die beiden Knaben die nächsten Jahre gemeinsam verbrachten, sogar eine Zeitlang zusammen zur Schule gingen, erfährt man darüber nichts. Auch Andreas’ Frau, Marie Dorothea Elisabeth Schocke (1752–1819), eine geborene Trittel, und ihre Töchter Dorothea (1774 bis nach 1824) und Elisabetha (1781 bis nach 1850) werden in «Eine Selbstschau» mit keinem Wort erwähnt. Frau Schocke war schwanger mit ihrem zweiten Sohn Heinrich Wilhelm Gottlieb (1779–1782), als Heinrich ins Haus kam. Von den fünf Töchtern überlebten nur die beiden genannten Mädchen ihre Eltern. Wenn Zschokke sich später bei seinem Neffen Gottlieb Lemme gelegentlich nach den Schockes erkundigte, dann nur nach Andreas und Fritz. Es war, als habe er die weiblichen Familienmitglieder ausgeblendet, keinerlei Zuneigung für sie empfunden. Die einzige Verwandte in Magdeburg, der Heinrich zärtliche Gefühle entgegenbrachte, war seine jüngste Schwester Christiana.
Carl Günther weist darauf hin, dass in Zschokkes gegen hundert Erzählungen und Romanen «Matronenfiguren» fehlen,83 was stimmt, wenn man diesen Begriff mit mütterlichen, warmherzigen Frauen übersetzt. Aber auch liebevolle Väter, anhängliche Geschwister und glückliche Kindheiten kommen darin nicht vor, und ein harmonisches Familienleben findet sich eigentlich nur in den Landhauserzählungen «Der Eros» (1821) und «Bilder aus dem häuslichen Leben» (1845–1846), denen Szenen aus Zschokkes Leben in Aarau zugrunde liegen.
Von seinem Bruder Andreas erlebte Heinrich keine Zärtlichkeit, keine körperliche Nähe. Vielleicht war er es aber auch selber, der den älteren Bruder und dessen Frau zurückwies. Durch den Tod des Vaters hatte er eine tiefe Kränkung erlebt; jetzt wollte er sich nicht mehr auf eine emotionale Bindung einlassen. Folgt man Zschokkes Ausführungen, so nahm Andreas sich energisch seiner Erziehung an. Zunächst wandte er seine Aufmerksamkeit dem Äusseren zu, liess ihn elegant einkleiden und ihm einen Lockenkopf frisieren. «So sollt’ ich nun den alten Menschen ganz ausziehn und ein neuer werden, zierlich und manierlich.»84 Auch geistig und seelisch suchte er den Charakter des Gassenjungen zu verfeinern. Um Heinrichs Sinn für das Edle und Schöne zu begeistern, las er mit ihm das Gedicht «Frühling» des empfindsamen Dichters Ewald von Kleist, seinen Gang in der Natur, der ganz im Zeichen von Klopstocks Oden stand. Das schlug bei Heinrich ebenso wenig an wie die Bemühungen, ihm den Vater zu ersetzen und ihn in die Familie zu integrieren.
Andreas war «von nicht gemeinen Talenten», gebildet und belesen. Obschon er Tuchmacher wie sein Vater war, glaubte er, dass das Leben sich nicht im Ausüben eines Handwerks erschöpfen könne. Er spielte Flöte, liebte einen gepflegten Umgang, auch etwas Luxus, und leistete sich, was Heinrich beeindruckte, ein Ankleidezimmer mit gebohnertem Fussboden, Wandgetäfer und vergoldeten Leisten.85 Das stand in scharfem Kontrast zu der kargen Behausung an der Schrotdorfer Strasse, die Heinrich wohl nur deshalb noch ehrte, weil er sie mit seinem Vater in Verbindung brachte.
Er habe sich in seiner neuen Umgebung unbehaglich gefühlt, Kleists Gedicht zu vornehm und fad gefunden und sich geärgert, dass seine Kleidung so leicht schmutzig wurde und zerriss. Man habe es unziemend gefunden, wenn er sich draussen herumtrieb, also habe er sich meist im Haus aufgehalten, sei stundenlang träumend vor einem Buch gesessen, ohne darin zu lesen, und habe «aufmerksam das gesellige Leben der Enten und Hühner, die Schliche der Katzen, die Irrfahrten einer Stubenfliege»86 beobachtet.
Zschokke behauptete, dass ihm damals die feine Lebensart verhasst wurde und er begonnen habe, den Unterschied zwischen Seidenrock und Zwillichkittel, Bauernhaus und Palast, Stallknecht und Prinz in Frage zu stellen.87 Diese Erkenntnis kann ihm kaum bei der Familie seines Bruder ereilt haben, wohl aber im Gymnasium Unser Lieben Frauen, wo er mit Adligen, Fabrikanten- oder Beamtensöhnen zusammensass und man ihn spüren liess, wie arm und unbeholfen er war.
Der Vater hatte ihn bis auf die religiösen Exerzitien nicht weiter behelligt, der Bruder jedoch wollte ihn nicht mehr entschlüpfen lassen; er «striegelte und biegelte» ihn, um ihn «ein wenig liebenswürdiger zu machen».88 Diese Absicht konnte Heinrich ihm nicht vorwerfen, wohl aber, dass er sich anmasste, über ihn zu bestimmen. Nur weil der Vater tot war, wollte er es dem älteren Bruder nicht gestatten, über ihn zu verfügen. Also verweigerte er sich allen Erziehungsmassnahmen und Drillversuchen, selbst als Andreas Schocke ein Klavier besorgte und einen Lehrer, der ihn daran unterrichten sollte. Es entstand ein Kräftemessen zwischen dem Lehrer und seinem Schüler, bis der Lehrer kapitulierte. «All seine Anstrengung war umsonst, mir Notenwerth, Takt und Pause begreiflich zu machen.»89
Gleichwohl entflammte in Heinrich eine grosse Liebe und Sehnsucht zur Musik. Wenn sein Bruder die Flöte blies, lauschte er entzückt; wenn die Chorschüler singend durch die Strassen zogen, stand er wie festgewurzelt, und sobald eine neue Melodie ihn anrührte, weinte er ungehemmt. Auch der Wachablösung der Garnison lief er nach, um den Oboisten zuzuhören. «Die geheimnißvolle Gewalt der Töne berauschte mich jedesmal bis zur vollen Selbstvergessung.» Die Musik war eine Welt, in deren Erleben er aufging. Wie seine Phantasie und Träumereien gehörte sie nur ihm allein.
Es ist frappant, dass es Zschokke noch als altem Mann nicht gelang, sein Verhältnis zum Bruder neu zu bewerten. Selbstverständlich waren bei Andreas Liebe und Fürsorge im Spiel, wenn er sich so um ihn kümmerte, auch wenn er vielleicht zu unbeholfen war, ihm seine Zuneigungen direkt zu zeigen. In dem einzigen Brief, den wir aus der Hand von Andreas noch besitzen, tritt die väterliche Sorge und Verantwortung deutlich zum Vorschein, ebenso das Bedürfnis, keine Entfremdung zwischen dem Bruder und der Familie eintreten zu lassen, mochten sie noch so entfernt voneinander wohnen.90 Zschokke hatte die Erlebnisse seiner Kindheit nicht verarbeitet, sondern verdrängt, als er «Eine Selbstschau» schrieb. Positives wusste er kaum zu berichten.
SCHULSORGEN
Andreas Schocke hielt für seinen Bruder nur das Beste für gut genug. Er wollte ihm eine gelehrte Laufbahn, den sozialen Aufstieg ermöglichen, alles, was ihm selber vom Vater oder durch die Umstände versagt worden war. Also meldete er ihn im Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen an, einem erstklassigen Gymnasium an der Regierungsstrasse.
In Magdeburg gab es fünf ehrwürdige Gymnasien, von denen Heinrich im Verlauf seiner nicht eben erfolgreichen Schulkarriere mit der Mehrzahl in Berührung kam. Drei waren in Klöstern untergebracht. Das älteste, das Altstadtgymnasium, war 1524 im Beisein von Luthers Mitstreiter Melanchthon in einem aufgegebenen Franziskanerkloster eingeweiht worden. Zwei andere waren Internate, die aber auch externe Schüler aus der Stadt aufnahmen. Das Pädagogium am Kloster Berge, das teuerste, wird vom Schulhistoriker Walther Vorbrodt so charakterisiert: «[...] ein vornehmes Landerziehungsheim für Söhne der begüterten und adligen Geschlechter des Herzogtums und der Altmark».91 Der Dichter Christoph Martin Wieland hatte dort drei Jahre verbracht.
Das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen war nicht ganz so exklusiv, nicht ganz so teuer; es nahm «die Söhne der Magdeburger wohlhabenden Familien und höheren Beamten auf».92 Die beiden Schulen standen in Konkurrenz zueinander, wobei das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen an Boden gewann, seit 1771 die Lehrer Gotthilf Sebastian Rötger (1749–1831) und Johann Gottlieb Schummel (1748–1813) dessen Geschick mitbestimmten. Die beiden Lehrer vertraten die damals modernste Pädagogik, die von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) in Dessau entwickelt worden war. Der herkömmliche Unterricht war geprägt von Drill und Auswendiglernen, am Dessauer Philanthropin dagegen setzte man auf Anschaulichkeit und Spiel, auf lustvolles Lernen statt Zwang. Als mächtigen Helfer des Lehrers hatte man den Forschungsgeist des Kindes, seine Neugier, den Drang nach Wissen entdeckt, und hier, bei der Motivierung der Schüler, setzte auch die Pädagogik im Kloster Unser Lieben Frauen an.
Schummel besass eine Leidenschaft fürs Theater, hatte mit 15 Jahren den Versuch gewagt, sich einer wandernden Schauspieltruppe anzuschliessen (sein Vater holte ihn wieder zurück), verfasste pädagogische Schriften, satirische Romane und Reisebeschreibungen und tat sich mit Ideen zu einem spielerischen Lernen hervor. Uwe Förster, derzeit wohl bester Kenner der Geschichte der höheren Schulen Magdeburgs, stellt seinen Aufsatz über Schummel unter den Titel «Lernen wie im Spiel».93 Um den Französischunterricht attraktiv zu gestalten, gab er eine auf Kinder zugeschnittene Fassung der Geschichten von 1001 Nacht heraus.94 Er löste sich von dem bei Schülern wenig beliebten Zugang zur fremden Sprache über grammatikalische Regeln und gab ihnen ein Lesebuch in die Hand, «das sie mit recht heißhungriger Begierde verschlängen, und wobey ihnen Mund, Augen und Ohren offenständen». Dies sei wichtig, «wenn Kinder zu einer ihnen noch fremden Sprache Lust bekommen sollen», wurde Schummel in Wielands Zeitschrift «Der teutsche Merkur» zitiert, und der Altmeister in Weimar bedachte das Vorhaben mit Beifall.95
Schummel wertete auch den Deutschunterricht auf und legte Wert auf kreatives und produktives Lernen. Die Schüler wurden angehalten, jede Woche einen Text auszuarbeiten und gemeinsam eine Erzählung zu schreiben: «Auf diese Weise haben wir schon eine ganze Menge Geschichten ausgearbeitet, wahre und erdichtete, lustige und traurige, von Kindern und Erwachsenen; allerhand durcheinander: Und sind dabey so vergnügt gewesen, daß nichts drüber geht.»96 Auch wenn wir nicht wissen, ob Schummels Ideen, die er in seinem dreibändigen Werk «Kinderspiele und Gespräche» niederlegte, am Pädagogium in vollem Umfang verwirklicht wurden, so ist seine Dichterwerkstatt für Gymnasiasten sehr bemerkenswert.
Das Kloster Unser Lieben Frauen mit Marienkirche und Gebäuden entlang der Regierungsstrasse. Hier drückte Zschokke von 1779 bis 1781 die Schulbank. Fotografie von Rudolf Hatzold, um 1929.
Der Schriftsteller Joachim Christoph Friedrich Schulz (1762–1798), der von 1773 bis 1779 diese Schule besuchte, notierte in einem Reisebericht im «Teutschen Merkur» zu Schummels Unterricht: Er «sah soviel als möglich darauf, daß die Schüler nicht unter den alten Autoren und was dahin einschlägt versauerten. Er gab ihnen auch von dem Honigseim der schönen Litteratur zu kosten, suchte ihren Geschmack zu bilden, lehrte sie teutsch schrieben und ihre Gedanken in dieser Sprache nach den besten Mustern vortragen.»97
Rötger und Schummel gingen also daran, den Unterricht kindergerecht zu gestalten und die Schüler zum Denken und Erleben zu befähigen. Die Lehrer sollten, statt vor ihnen zu dozieren, mit ihnen in einen Dialog treten und abstraktes Bücherwissen in eine allgemeinverständliche Sprache übertragen.98 Eines liess sich allerdings nicht reformieren: die Vorherrschaft des Latein. Dies betraf alle höheren Schulen in Magdeburg. Es mutet für eine dem Kommerz gewidmete Stadt eigenartig an, dass nur zaghaft Bürgerschulen entstanden, die ohne die alten Sprachen auskamen. Am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen war das Latein besonders ausgeprägt: In der untersten Klasse waren dafür zehn Stunden bestimmt.99
Immerhin kamen attraktivere Fächer wie Geschichte, Geografie und Französisch (drei Stunden für die Anfänger) nicht zu kurz. Einige Jahre nach Zschokkes Weggang führte Rötger in der untersten Klasse sogar eine Zeitungslesestunde ein. Im Dezember 1779 wurde er Probst des Klosters und damit Direktor des Pädagogiums, was bedeutete, dass er, vom Schulunterricht entlastet, seine Reformen vorantreiben und sich ganz den pädagogischen Aufgaben widmen konnte.
Prinzipiell entschied die Leistung in Latein über die Versetzung eines Schülers, aber in jedem Fach wurde er besonders eingestuft.100 Es konnte vorkommen, dass ein Schüler, der die Schule verliess, als Lateiner ein Jahr in der Prima verbracht hatte, aber in Mathematik nur den Stand der Tertia besass. Entsprechend gab es keine festen Klassen, sondern ein Fachlehrersystem, wobei es Rötger wichtig war, dass die Lehrer in ihren Fächern zugleich in höheren und unteren Stufen unterrichteten.
Die Rahmenbedingungen waren für Heinrich somit ausgezeichnet, als er am 26. April 1779 in diese Schule eintrat. Es wurde ein Fiasko daraus, das an Pfingsten 1781 zu seinem Ausschluss führte. Es lässt sich kaum eine Schulkarriere vorstellen, die bei so guten Voraussetzungen – pädagogischen und fachlichen der Schule und intellektuellen des Schülers – einen schlechteren Verlauf hätte nehmen können. Sie scheint ein einziges grosses Missverständnis gewesen zu sein; alles lief schief. Für Heinrich war die Schule ein Martyrium, für die Lehrer war Heinrich ein Ärgernis und der Schule drohte ein Reputationsverlust. In seiner «Selbstschau» erinnerte sich Zschokke mit Bitterkeit an die beiden verlorenen Jahre.
«Ich ward in die unterste der Klassen gesetzt. Allein mir Unglücklichen, dem noch die dürftigsten Vorkenntnisse fehlten, blieb aller Unterricht dunkel. Ich saß da, von langer Weile geplagt. Mich ihrer zu entschlagen, überließ ich mich dem sanften Zuge angenehmer Träumereien; zeichnete ungeschlachte Riesen und Ungeheuer aufs Papier; sah in den geometrischen Figuren, welche uns der Lehrer auf die schwarze Wandtafel abbildete, Irrgärten, Thürme und fantastische Brücken. Für kleine Gegengefälligkeiten ließ ich mir von einem Mitschüler die Schulaufgaben lösen, um Strafen und Vorwürfen zu entgehn.»101
Heinrich scheint beim Schuleintritt von Latein und Französisch nichts verstanden zu haben und ein Jahr später nicht viel mehr. Wie es mit den andern Fächern stand, wissen wir nicht.
Direktor Rötger gab 1783 den Lehrern, Eltern und Schülern mit seiner «Ausführlichen Nachricht von dem Pädagogium am Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg», eine Anleitung, wie seine Schule funktionieren sollte. Darin schrieb er in seiner etwas skurrilen Orthografie:
«In den Unterricht bei uns kan jeder aufgenommen werden, der mit Fertigkeit teutsch und lateinisch lesen, etwas ihm Vorgesagtes ohne mühsame Zusammensuchung zu Papier bringen kan, und die lateinischen Paradigmen der Deklinazionen und regulairen Konjugazionen wenigstens mechanisch und mit nothdürftiger Fertigkeit ins Gedächtniß gefaßt hat; und von dem es mir nicht wahrscheinlich sein muß, daß er in Absicht der Sitlichkeit ein Verderber unserer andern Schüler sein mögte.»102
Vom Eintrittsalter hänge das nicht ab, schrieb Rötger weiter; man habe schon 8-Jährige aufgenommen, «die uns gar nicht lästig wurden».103 Er empfehle aber, Schüler nicht unter zehn oder zwölf Jahren anzumelden, da sie schon einigermassen erzogen sein müssten. Beidem, den erforderlichen Lateinkenntnissen und einer Erziehung, war Heinrich bisher nur ungenügend teilhaftig geworden. Er wurde mit seinen acht Jahren der Schule durchaus lästig.
Nach Zschokkes «Selbstschau» müsste man annehmen, dass er sich keiner Eignungsprüfung unterziehen musste. Im Lehrkörper war man sich nicht einig, ob an die Anfänger überhaupt schulische Bedingungen gestellt werden sollten. Auf die Frage Rötgers an einer Schulkonferenz, «was für Fähigkeiten und Käntniße der mitbringen müße, welcher in unsrer Quarta aufgenommen zu seyn wünschte», antwortete ein Lehrer: «Aber warum will mann nicht ieden, der lesen kann aufnehmen? Es war, wo ich nicht irre, der Zweck der Einrichtung dieser Klaße, auch die ersten Anfänger aufzunehmen.»104 Selbst wenn Heinrich also eine Prüfung ablegte, die für jeden Neuen Pflicht war, hiess das nur, dass er überall in die unterste Stufe kam, und nicht, dass man ihn zurückstellte.
Dabei war der Schulleitung durchaus bewusst, dass die angemeldeten Schüler sehr unterschiedliche Vorkenntnisse mit sich brachten. Deshalb wurde 1778 noch eine Vorbereitungsklasse (Quinta) eingeschaltet, welche die bisherigen vier Hauptklassen (Quarta bis Prima) ergänzte. Man stellte dafür einen neuen Lehrer ein, den Kandidaten der Theologie Johann Ferdinand Laue.105 Möglicherweise wurde Heinrich dieser Vorbereitungsklasse zugeteilt. Eine Erwähnung Zschokkes finden wir aber erst ein Jahr später als Schüler der Quarta. Er selber entsann sich, an der Klosterschule hauptsächlich Unterricht von Laue empfangen zu haben.106 Da Laue die Fächer Geografie und Geschichte auch in der Quarta unterrichtete, könnte er zwar auch in die Quarta eingetreten sein; der Besuch der Quinta ist bei seinen mangelhaften Kenntnissen aber wahrscheinlicher.
Wollte Heinrich von der Quinta aufsteigen, so musste er bestimmte Leistungen in Latein erbringen, die Rötgers so umschrieb: «[...] ein Schüler kan aus derselben nicht eher versezt werden, bis er sich einen ziemlichen Vorrath von Wörtern der lateinischen Sprache, die am häufigsten vorkommen, gesamlet, die regulairen Flexionen der Verben sich bis zur Fertigkeit geläufig gemacht, und leichte Sprachsätze auseinander wikkeln und konstruiren kan.»107
Zschokke behauptete, er sei mangelnder Leistungen wegen aus der Schule geworfen worden. Nachdem er sich lange durchgemogelt habe, sei er bei einer öffentlichen Prüfung vor der gesamten Lehrerschaft aufgeflogen. «Ich hatte in Jahr und Tag nichts gelernt; und ward, wie billig, um der berühmten Schulanstalt kein Vorwurf zu werden, wegen Mangel an Geistesfähigkeit, aus ihr verwiesen.»108
Es gelang Heinrich offenbar, den Lehrer, also Laue, hinters Licht zu führen: «Ich, der noch nicht französisch lesen konnte, lernte, mit kräftigem Gedächtniß, ganze Seiten französisch auswendig, die ich mir deutsch geschrieben hatte, und die Übersetzung dazu.»109 Nach dieser Selbsteinschätzung ist es merkwürdig, dass er binnen eines Jahrs von der Quinta in die Quarta versetzt wurde, es sei denn, er hätte es fertiggebracht, Laue auch in Latein so zu täuschen, dass seine Unwissenheit verborgen blieb.
Im Dezember 1780 wurde erstmals nach vielen Jahren wieder eine öffentliche Prüfung abgehalten und von da an jedes Vierteljahr.110 Hier wurde «dem Schüler Gelegenheit gegeben zu zeigen, ob und wieviel er von dem, was er lernen konte, wirklich gefaßt und behalten, oder nicht».111 Heinrichs Mogelei kam an den Tag. Seine Blamage erinnert an jene von Tom Sawyer in Mark Twains Roman, der, statt Bibelstellen auswendig zu lernen, von seinen Mitschülern Gutscheine eintauscht und an der Preisübergabe vor der ganzen Kirchgemeinde bei der einfachsten Frage versagt.
Zwar erfolgte der Schulausschluss Heinrichs nicht «wegen natürlicher Stupidität»112 oder, wie an anderer Stelle zu lesen ist, weil er «unfähig zur Erlernung höherer Wissenschaft erklärt» wurde,113 in Zschokkes Erinnerung aber wird die Verbindung zwischen schwacher Schulleistung und seiner Relegation in dieser Weise bestanden haben. Wie wäre er sonst dazu gekommen, die Schande einzugestehen, wegen Dummheit von der Schule gewiesen worden zu sein?
Carl Günther äusserte als erster Zweifel an diesem Konnex, weil die Schulordnung keine Wegweisung wegen Unfähigkeit kannte, und er beruft sich auf Behrendsens Notizen, wonach eine eigenmächtige Reise nach Böhmen die wahre Ursache dafür gewesen sei.114 Wenn ein Schüler in einem Fach nicht genügte, blieb er einfach sitzen; hinausgeworfen wurde er nicht. Uwe Förster führt Schüler an, die bis zu siebzehn Semester im Pädagogium verbrachten.115 Wenn einem Schüler die Zeit zu lang wurde, ging er noch vor der Prima ab, ohne dass dies seinen Universitätseintritt behinderte. Erst 1789 wurde dafür in Preussen zwingend eine Reifeprüfung verlangt.
Heinrich, der eingestandenermassen während des Unterrichts mehr träumte als lernte, wurde von drei Fächern besonders gefesselt: von Geografie und Geschichte, die gemeinsam unterrichtet wurden, und von Französisch. Bei letzterem reizten ihn nicht die Sprache, sondern die Erzählungen von 1001 Nacht. In Geografie und Geschichte konnte er seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen. Auf Landkarten reisten die Schüler der Quinta rund um die Welt und quer durch Europa und Deutschland; «zur Ermunterung der Aufmerksamkeit und zur Belohnung des Fleißes» wurden ihnen von Zeit zu Zeit «einzelne sehr merkwürdige und zugleich sehr interessante, vorzüglich Moralbefördernde Begebenheiten aus der Geschichte, oder auch besondere geographische Merkwürdigkeiten, Volkssitten und dergleichen» erzählt.116 Was konnte es für Heinrich und seine Mitschüler Schöneres geben, als sich solche Geschichten erzählen zu lassen? Wenn nur Latein nicht gewesen wäre!
Der Lateinlehrer war zugleich Hauptlehrer der Klasse und für die Einschätzung der Schüler zuständig, da er dank den meisten Stundenzahlen am ehesten mit ihnen vertraut war. Sein Urteil bestimmte, ob ein Schüler am Ende des Semesters vorrückte oder sitzen blieb. Jede Stufe wurde in zwei Ordnungen unterteilt, so dass ein Schüler zuerst von der Unter- in die Oberquinta aufrücken musste, bevor er in die Unterquarta kam. Zwar konnte ein Schüler in jedem Fach aufsteigen, wenn er die Leistungen erbrachte, aber nur Latein bestimmte den Rang. Als Rötger Probst wurde, wollte er dies abschaffen und eine Versetzung nach der Gesamtleistung einführen. Er habe aber einsehen müssen, «daß die Sache zuviel Schwürigkeiten, und zu wenig Nutzen» bringe, und alles beim Alten gelassen.117
Seit 1780 wurden in der Quinta und Quarta monatliche Zensuren vergeben und in Tabellen eingetragen.118 Ebenfalls 1780 wurden vierteljährliche «Konduitenlisten» eingeführt, in denen der Hauptlehrer Betragen und Fleiss jedes Schülers und seine Entwicklung gegenüber dem Vorquartal festhielt. Diese Beurteilungen wurden in der Schulkonferenz besprochen und hernach den Schülern unter vier Augen mitgeteilt.119 Rötger wollte dadurch den Charakter eines Schülers kennen lernen und mit ihm mit «Vater- und Freundes-Ernst» reden.120 «Einflössung guter, den Fleiß und das Verhalten des Schülers lenkender, und sein Herz für Tugend und Religion erwärmender Grundsätze ist und bleibt bei aller Erziehung durchaus Hauptsache.»121
Schüler, die sich auszeichneten, wurden an einem schwarzen Brett belobigt. Auch andere Anreize sollten den Ehrgeiz anspornen oder von Fehlverhalten abschrecken. Dazu stellte Rötger in 118 Schulgesetzen Richtlinien zusammen, die, genauso wie die abgestuften Strafen und Belohnungen, den Lehrern, Schülern und Eltern bekannt gegeben wurden, so dass alle wussten, wie man sich zu verhalten hatte und welche Konsequenzen zu erwarten waren, falls man gegen die Regeln verstiess.122
Ob Rötgers Regeln umgesetzt wurden, wäre näher zu untersuchen. Er formulierte pädagogische Ziele, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass man sie auch erreichte, denn «Ideale sind für diese Welt nicht».123 Der Erfolg seiner Pädagogik, die auf Charakterbildung abzielte, sei aber deutlich sichtbar, denn der Schulfleiss gehöre seither zum herrschenden Schulton, und man müsse einzelne Schüler sogar bremsen, damit sie nicht übertrieben.124 Was Körperstrafen betrifft, so hat Uwe Förster gezeigt, dass sie auch unter Rötger noch ausgeübt wurden.125
Während die Zensurtabellen vor 1817 fehlen, sind die Konduitenlisten noch da. Die Quarta wurde seit Februar 1780 von Johann Friedrich Wilhelm Koch (1759–1831) geführt, der zuvor an der Domschule, einem anderen Magdeburger Gymnasium, unterrichtet hatte. Er war ein enorm vielseitiger Lehrer, gab Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik, Physik, Religion und Singübungen und betreute die Schulbibliothek. Für Rötger, der seine fachlichen und pädagogischen Qualitäten schätzte, wurde er bald unentbehrlich; Koch wurde 1785 in den Klosterkonvent aufgenommen, zum Rektor des Pädagogiums ernannt und 1792 dritter Prediger an der St. Johannis-Kirche.126
Kochs Urteil in der Konduitenlisten vom Sommer 1780 über Heinrich war vernichtend: «Schokke kann ich kein erträglich Prognostikon stellen, denn hier konkurriren schlechter Kopf und Faulheit. Seine Sitten sind Sitten eines Bauers.»127 Heinrich musste erkennen, dass es mit der Schonung und Nachsicht vorbei war, die er bei Lehrer Laue genossen hatte. Koch war nicht geneigt, ungenügende Leistung oder Unaufmerksamkeit im Unterricht zu übersehen. Auch über einen zweiten Schüler urteilte er hart: «Walstorffs ganzes Seyn ist ein Komplexus von unerträglicher Dummheit und stinkender Faulheit, strafbarer Bosheit und Tükke.» Andere Schüler erhielten erfreulichere Qualifikationen, etwa: «Lemme und Lehmann verdienen wegen ihres Fleißes und Betragens Aufmunterung, nur ist dieser noch zu sehr Kind.»128
Lemme war niemand anderes als Heinrichs Neffe Gottlieb, Sohn seiner Schwester Dorothea. Er war nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn bestimmt, sondern wurde Tuchmacher wie sein Vater, stellte sich aber besser auf die Schule ein als Heinrich. Während Koch über Heinrich Schocke im Herbst 1780 feststellte, es habe sich nichts zum Positiven verändert, schrieb er in der Beurteilungen zu Gottlieb Lemme: «Lemmen hat mir durch seinen Fleiß und Geseztheit viel Freude gemacht.»129 Auf Kochs Vorschlag hin wurde Gottlieb Lemme in die Tertia versetzt, nach Weihnachten folgten ihm Lehmann und Friedrich Schultze nach, während Heinrich und die vier anderen sitzen blieben und sich die Klasse um zwei neue Schüler vermehrte, die aus der Tertia abstiegen.130
An Ostern 1781 trat ein zweiter Neffe Heinrichs in seine Klasse ein, Fritz Schocke, Sohn seines Bruders Andreas. Fritz war, wie es scheint, noch weniger für die Quarta vorbereitet als Heinrich. Zu ihm notierte der neue Hauptlehrer nach dem ersten Quartal 1781: «Schocke II. Lernt gut. ist aber noch nicht weit. Kann fast gar nicht lesen.» Zu Heinrich lautete sein Kommentar: «Schocke. Ein Spott seiner Mitschüler. Es fehlt ihm immer an allem, hilft auch kein Erinnern, ist sonst aufmerksam. antwortet auch.» Der neue Lehrer, dessen Namen wir nicht kennen, empfand, anders als der strenge Koch, Mitleid für Heinrich, der sich nicht nur das Wohlwollen seiner Lehrer verscherzt hatte, sondern auch noch von seinen Kameraden ausgelacht wurde.
Der nächste Eintrag zu den beiden Schockes findet sich nicht mehr in der Konduitenliste, sondern im Protokoll der Schulkonferenz vom 21. Juni 1781: «Der Stadt Schüler Bekmann wird seiner bisher verübten Diebstäle wegen relegirt, und die beiden Stadt Schüler Schokke erhalten ihrer Liederlichkeit wegen das consilium abeundi. Bekman bekommt noch vorher vor der ganzen Schule den Stock, auch werden die beiden Stadt Schüler Richard und Berghauer mit dieser Strafe, iedoch ohne Relegation belegt.»131
Selbst wenn wir nichts Genaueres wüssten, müssten wir uns fragen, ob hier nur die Schüler versagt hatten oder nicht auch die Lehrer. Man rekrutierte sie aus Absolventen der Theologie frisch von der Universität; sie betrachteten den Lehrerberuf oft nur als Sprungbrett auf dem Weg zu einer einträglichen Pfarrstelle. Dies war eine in Deutschland übliche Praxis, wie Jean Paul sehr schön an seinem Egidius Zebedäus Fixlein, Konrektor des Gymnasiums von Flachsenfinger, erzählt.132 Der Lehrerstand war schlecht angesehen und kärglich bezahlt. Wie wollte man unter diesen Umständen erwarten, dass sich die angehenden Pfarrherren an der Schule voll engagierten? Pädagogisches Interesse oder Können wurden nicht einmal vorausgesetzt.
Das Kloster Unser Lieben Frauen hatte Patronatsstellen an verschiedenen Kirchen zu vergeben,133 und die meisten Lehrer hofften, möglichst rasch dorthin zu kommen. Zuvor mussten sie sich einige Jahre als Lehrer bewähren und dann in den noch schlechter bezahlten Status eines Konventualen aufsteigen.134 Dort mussten sie abwarten, bis eine Pfarrei frei wurde, die dann nach dem Anciennitätsprinzip besetzt wurde. Wohlweislich war es den Konventualen – ein Überbleibsel der alten Klosterzeit – untersagt zu heiraten, da sie ja doch keine Familien hätten ernähren können. So musste Schummel die Schule verlassen, als er Vater wurde, nicht aus sittlichen Gründen, sondern wegen des Eheverbots. Probst Rötger war der einzige verheiratete Konventuale am Pädagogium.
Durch einen Zufall sind wir genau informiert, weshalb die beiden Schocke von der Schule mussten. Das Kloster Unser Lieben Frauen legte eine Akte mit der Überschrift «Wider den Tuchmacher Schock zu Magdeburg» an,135 wo der Fall aufgerollt wurde. Nachdem Heinrich und Fritz weggewiesen wurden, weigerte sich Andreas Schocke nämlich, das aufgelaufene Schulgeld zu bezahlen, mit der Begründung, die Schule habe nicht genügend auf die beiden Knaben aufgepasst. Eigentlich müsse sie ihn, Andreas Schocke, für seine Umtriebe entschädigen. Der Rektor reagierte empört auf das «impertinente und injuriöse Billet» und übergab die Angelegenheit dem Gericht, das einen Termin einberief und mit Schocke und dem Rektor einen Vergleich schloss.
Aus dieser Akte geht hervor, dass Heinrich «in Betracht daß er eine Waise und arm ist» statt der üblichen zwölf Taler Schulgeld pro Jahr nur acht gezahlt hatte und dass ihm auch am Eintritts- oder Federgeld zwei Taler erlassen worden waren. Andreas Schocke konnte nachträglich auch das Schulgeld für seinen Sohn Fritz herunterhandeln. Mit dem Vergleich wurden die Affäre und das Intermezzo mit den beiden Schockes für das Pädagogium aus der Welt geschafft.
Aus den Akten ersehen wir auch den Tatbestand: Heinrich und Fritz waren eine Woche vor Pfingsten 1781 unentschuldigt der Schule fernblieben. Mitschüler hatten den Lehrern erzählt, die beiden Schocke würden die jährliche Revue besuchen, eine Truppeninspektion durch Friedrich den Grossen mit Manövern, Schiessübungen und Parade, die vom 25. bis 28. Mai in der Nähe von Magdeburg stattfand.136 Es war ein Riesenspektakel, der viele Schaulustige anzog. Schon zuvor war die Stadt in Aufregung: Es gab umfangreiche militärische Verschiebungen, damit Magdeburg während der Manöver von Truppen nicht entblösst war.
Da die Schocke-Kinder öfters zu Hause blieben und erst nachträglich eine schriftliche Entschuldigung brachten, nahm man an, es würde wieder so sein. Wenige Tage nach Ende der Truppenübungen begannen die Pfingstferien, die eine gute Woche dauerten. Als die beiden Schüler nach Wiederbeginn der Schule immer noch fehlten, erfuhren die Lehrer, die beiden seien verschwunden und würden von den Eltern gesucht. Sie wurden schliesslich in Dessau aufgegriffen.
Darauf «wurden sie nach gefaßtem Conferenz-Schluße, da sie ohnedem ungezogene junge Leute waren, von unsrer Schule excludiret», wie der Rektor sich ausdrückte.137 Behrendsen fügt das Motiv für ihr Davonlaufen hinzu: Im Geografieunterricht hätten sie vernommen, in Böhmen lägen an den Flussufern Diamanten herum, und sich rasch entschlossen auf den Weg dorthin gemacht.138 Da sie aus der Landkarte wussten, dass Böhmen irgendwo in südöstlicher Richtung lag, wanderten sie einfach der Elbe entlang aufwärts.
Vermutlich war ihr Entschluss nicht ganz so spontan gefallen. Immerhin hatten sie für ihr Verschwinden eine Zeit gewählt, zu der ihre Abwesenheit in der Schule nicht gleich auffallen würde; es hatte ja fast drei Wochen gedauert, bis die Lehrer sich nach ihnen erkundigten. Daraus kann man auch schliessen, dass sie ihr Wegbleiben nur als einen Ausflug betrachteten und im Triumph und mit Taschen voll von Diamanten zurückkehren wollten, bevor man ihr Fernbleiben entdeckte. Dass sie von den Verwandten vermisst und gesucht würden, mussten sie hinnehmen. Aber dass sie deswegen gleich aus dem Pädagogium geworfen würden, hatten sie wohl nicht erwartet, denn unentschuldigtes Fernbleiben wurde normalerweise nur mit Karzer bestraft.
Im Februar davor hatte sich ein ähnlicher Fall zugetragen, der wochenlang Schulgespräch war und Heinrich und Fritz vielleicht zu ihrem Vorhaben inspiriert hatte. Ein Schüler namens Gossler war davongelaufen und von Bauern aus Fähliz halberfroren und -verhungert zurückgebracht worden. Der Rektor heizte den Karzer schon ein, aber von Mitleid übermannt sah er davon ab, ihn einzusperren, bevor er wieder bei Kräften war.139
Drei Schüler mit Namen Gossler, vermutlich Söhne des Kriegs- und Domänenrats Christoph Friedrich Gossler, Grosshändler und Woll- und Seidenhalbzeugmanufaktur-Unternehmer, besuchten damals gleichzeitig das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen. Zwei waren Musterschüler in den oberen Klassen, und die Lehrer waren des Lobes voll über sie. Einzig der jüngste, der geflohen war, in die Tertia ging und nur Gossler der Dritte genannt wurde, galt als flatterhaft und unbeständig.140 Er war zerknirscht und machte glaubhaft, nicht die Schule, sondern das abweisende Verhalten seines Vaters habe ihn zu seinem Weglaufen veranlasst.
Gosslers Fall war also völlig anders gelagert als derjenige der beiden Schockes, die aus purer Abenteuerlust davonzogen, zu einer angenehmen Jahreszeit und vermutlich mit genügend Proviant ausgestattet. Ob sie nur bis Dessau gekommen waren – in Luftlinie etwas über 50 Kilometer – oder umgekehrten, als sie entdeckten, dass der Weg weiter war als gedacht, wissen wir nicht; einziger Zeuge für das Ziel ihrer Reise und den Abholort war Behrendsen, der das Ganze anekdotisch erzählte. Zschokke selber erwähnt den Vorfall nicht. Vom Rektor erfahren wir im Entwurf eines empörten Briefs an Schocke noch, dass Fritz, schon bevor er in die Schule eingetreten war, Heinrich «zu dem nämlichen Exzeß zu verführen suchte, zu dem sich derselbe endlich von ihm verleiten ließ».
Andreas Schocke hatte mit seinem Vorwurf, die Schule beaufsichtige ihre Schüler nur ungenügend, einen empfindlichen Punkt berührt. Zwar hatte sie in der Tat keine Aufsicht über die Freizeit ihrer Stadtschüler, wie der Rektor sich verteidigte, andererseits dauerte der Unterricht von 7 bis 10 Uhr (im Winter von 8 bis 11 Uhr), am Nachmittag von 2 bis 5 Uhr, und der Rest war schulfrei; die Externen mussten in dieser Zeit die Schulräume verlassen.141 Was konnte man anderes erwarten, als dass einige von ihnen herumstrolchten und Schabernack trieben?
Gottlieb Lemme, der etwas gesitteter war als die beiden anderen, erinnerte sich mit Vergnügen an Streiche mit seinem Cousin Fritz und Onkel Heinrich: etwa wie sie über den Fürstenwall spazierten und durch die Kamine der unterhalb gelegenen Häuser den Leuten Steine in den Kochtopf schmissen. Auch das Klettern auf den Sandsteinblöcken vor der St. Katharinenkirche kommt hier vor.142 Die drei Buben hingen eng aneinander; Heinrich schrieb an Lemme, als er im Mai 1795 Fritz in Leipzig aufsuchte, vom «alten Trifolium» (Kleeblatt), das er gerne wieder einmal beisammen sehen möchte.143
Fritz blieb unternehmungs- und reiselustig und kam später doch noch nach Böhmen; er wurde Kaufmann und gründete 1801 mit einem Freund in Reichenberg (dem heutigen Liberec) eine Schönfärberei, die er bis 1807 betrieb; zuvor machte er einen Ausflug nach Konstantinopel.144 Heinrich schenkte ihm für die Reise durch den wilden Balkan einen Sarras (Säbel) mit Koppel, Vater Andreas ein Paar Pistolen.145
Ausser Fritz, Heinrich und dem Dichter Joachim Christoph Friedrich Schulz schlug ein weiterer ehemaliger Mitschüler eine abenteuerliche Laufbahn ein: Carl Friedrich August Grosse (1768–1847) besuchte von 1779 bis 1786 das Pädagogium und wurde im Schulkonferenz-Protokoll vom 19. Juli 1780 zu den hoffnungsvollsten Scholaren gezählt. Er studierte wie sein Vater Medizin, gab das Studium aber auf, bereiste eine Zeitlang Spanien und Italien, legte sich die Titel Marquis von Grosse, Graf von Vargas, stolbergischer Hof- und Forstrat und Ritter des Malteserordens zu und gelangte dann nach Dänemark, wo er sich mit den norwegischen Berg- und Hüttenwerken befasste, Kammerherr wurde und sich mit dem späteren König Christian VIII. befreundete.146 Daneben schrieb er Erzählungen und Romane. Sein bekanntestes und noch heute hie und da zitiertes Werk ist der Schauer- und Geheimbundroman «Der Genius» (1791–1795), der Zschokkes Romane «Die schwarzen Brüder» und «Männer der Finsterniß» beeinflusste. Grosse wird als «Romantiker der Trivialliteratur» bezeichnet.147 Wie Schulz und Zschokke war auch er ein «Opfer» von Lehrer Schummels Leidenschaft für Theater und Belletristik.
Wie ein Stossseufzer tönt es, wenn Rötger 1783 über das Pädagogium unter Schummels Einfluss nachdachte:
«Noch vor wenigen Jahren hatt eine Sündfluth von Lektüre fast allen wahren Fleiß, fast alles eigentliche Studiren weggeschwemt. Beschäftigt waren unsre Schüler auch damahls, aber sie pränumerirten in unsern Leihebibliotheken, nahmen da Bücher entweder ganz ohne, oder doch wenigstens bloß nach eigner Wahl, die denn oft schlecht genug ausfallen mußte, und ist irgendetwas verderbliche Schulpest, so ist es dies. Jezt ist ja diese Epidemie Gotlob fast ganz nun ausgerottet, wenigstens gar nicht mehr Epidemie. Zwar lesen unsre Schüler noch auch teutsche Bücher, und werden dazu gar sehr aufgemuntert, aber es ist das nicht Sucht mehr, der Aufseher regulirt selbst die Auswahl der Bücher und nicht die zum eigentlichen Studiren bestimten Stunden, sondern nur Stunden, die den Nebenbeschäftigungen gewidmet sind [...].»148
Selbst Joachim Christoph Friedrich Schulz schloss in seinen «Kleinen Wanderungen durch Teutschland in Briefen an den Doctor K.*» sein Lob auf Schummel mit einer Kritik (oder war es ironisch gemeint?) auf die «Epidemie» des Romanelesens, das in den Schulen grassiert habe:
«Indessen hatte dies den Schaden, daß einige Schüler die eigentliche Gelehrsamkeit versäumten und leidige Belletristen wurden. Ein Paar davon sind auch als Schriftsteller zur Genüge bekannt geworden. Es ist lobenswürdig, daß der jetzige Director einen großen Theil dieses bellettristischen Unwesens abgestellt hat.»149
Johann Friedrich Wilhelm Koch, der gestrenge Lehrer Heinrichs, in dieser Sache ganz Rötgers Meinung und kein Freund der Schummelschen Pädagogik, schrieb in das Zeugnis eines Schülers: «Klen mag noch izt lieber einen deutschen Roman oder ein Schauspiel leßen, als sich viel zu Nachdenken erfordernden Geschäften versteigen. Sonst ist seine Bescheidenheit, Stille und Artigkeit rühmlich, er qualifiziert sich bis izt nur zu einem empfindelnden Romanschreiber.»150 Dass das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen zu einer Brutstätte für Romanschreiber wurde, mag etwas übertrieben sein, aber die Häufung von Dichtern aus der Ära Schummel ist auffällig.
Und Zschokke? Mehrmals kam er auf seine Faszination der Märchen aus 1001 Nacht zu sprechen; «Aladins magische Lampe und seine ebentheuerliche Bewerbung um die schöne Prinzessin Badrulbudur entzückten mich, als Knaben, und, ich läugne es nicht, behagen mir in mancher Stunde noch izt.»151
IM REICH DER PHANTASIE
Heinrich befand sich in einer magischen Phase, die ihm ein Schutzschild gegen die Unbill der Welt bot, auch nachdem sein Verbleib am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen beendet war. Er wurde der Obhut seines Bruders Andreas, der als Erzieher versagt hatte, entzogen und der ältesten Schwester Dorothea Lemme übergegeben. Mit diesem Schritt war ein neuer Umzug verbunden: an die Dreiengelgasse, die neben der Schrotdorfer Strasse verlief. Dort genoss er wieder mehr Freiheiten, und auch in der neuen Schule gefiel es ihm besser. Man hatte den Plan aufgegeben, ihn zum Gelehrten zu bilden. «Ich sollte da allenfalls soviel lernen, als nöthig, um Krämer oder Handwerker zu werden.»152
Die Friedrichsschule an der Brandstrasse,153 die aus einer Lateinschule der Pfälzer-Kolonie hervorgegangen war, gehörte den reformierten Gemeinden Magdeburgs: der Deutsch-reformierten, der Wallonischen und der Pfälzer Gemeinde, die auch politisch eine eigene Administration besassen. Ihre Bürger waren Nachkommen jener protestantischen Flüchtlinge, die Kurfürst Friedrich Wilhelm gegen Ende des 17. Jahrhunderts aktiv in sein Herrschaftsgebiet holte. Nach den französischen Hugenotten, die 1686 in Magdeburg einwandert waren und die Französisch-reformierte Kirche gründeten, folgten 1689 Glaubensflüchtlinge aus Wallonien, die sogenannten Wallonisch-Reformierten. Sie waren vom französischen König aus ihrer Zwischenstation Mannheim vertrieben worden. Im gleichen Jahr erreichten auch Flüchtlinge aus der Pfalz die Stadt, welche den Stamm der Deutsch-reformierten Gemeinde bildeten.154 Im Jahr 1703 zählte die hugenottische Kolonie in Magdeburg 1375 Personen; sie war nach der Berliner Kolonie die grösste in Brandenburg-Preußen.155
Die Friedrichsschule hatte vier Klassen, zwei obere für den Gymnasial-, zwei untere für den normalen Unterricht, und wurde von vier ordentlichen Lehrern geführt, einem Rektor, einem Konrektor, einem Subkonrektor und dem Kantor.156 Rektor Hüffer passte die Schule 1780 an die veränderten Bedürfnisse der Glaubensgenossen an. Sie diente fortan für «künftige Gelehrte, Kaufleute, Künstler, Handwerker und nützliche Bürger» und erhielt den Charakter einer Gesamtschule.157
Heinrich Schocke, der ja lutherischen Glaubens war, wurde der untersten Klasse zugeteilt. Sein Lehrer war Friedrich Saladin Capsius, ein älterer Herr in geblümtem Schlafrock und gepuderter Perücke, ein erfahrener Schulmann, seit 1753 auch Kantor der Deutsch-reformierten Gemeinde.158 Er pflegte den traditionellen Unterrichtsstil und hatte einfache, zweckmässige Strafmittel, die für alle sichtbar auf dem Tisch lagen: drei Stöcke unterschiedlicher Länge und Dicke. Daneben lag ein Lasso, das er von seinem Platz aus zielsicher über den Kopf eines fehlbaren Schülers warf und ihn in gerader Linie über alle Bankreihen hinweg zu sich zog, um ihn seiner Strafe zuzuführen.159 Capsius muss sich zeitweise mehr als Dompteur denn als Lehrer vorgekommen sein, wenn in seinem Schulzimmer 50 bis 60 Knaben sassen. Da die Friedrichsschule gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur 80 bis 100 Schüler hatte,160 müssen er und sein Mitlehrer Mors, der zugleich Organist an der deutsch-reformierten Kirche war,161 manchmal zwei Klassen gleichzeitig unterrichtet haben. Bei den Schülern sei Capsius beliebt gewesen, behauptete Zschokke, da er ein Gespür für sie hatte, und sie hätten ihm freudig gehorcht. Er wollte die Knaben bändigen, aber nicht demütigen oder brechen. Offenbar gelang es ihm besser als dem intellektuellen Rötger, ihnen klar zu machen, was er wollte und was nicht. Er machte nicht lang Federlesen und brauchte kein Reglement, um nachzuschlagen, welche Strafe für einen Verstoss gegen ein bestimmtes Schulgesetz vorgesehen war.
Heinrich verstand sich gut mit Capsius – den zweiten Lehrer erwähnte er nicht –, das heisst, er merkte rasch, worauf es bei ihm ankam. Es erwies sich von Vorteil, dass er an dieser Schule noch einmal frisch einsetzen konnte, niemand seine Vergangenheit, seine Lügen und Mogeleien kannte und der Schulstoff noch einmal von vorne begann. Niemand lachte ihn wegen seiner Manieren aus, keiner fühlte sich besser als er. Die Friedrichsschule hatte eine gemischte Zusammensetzung; es gab unter ihnen Söhne einfacher Handwerker, Strumpfwirker und Tuchmacher, deren Umgang Heinrich ja vertraut war. Als Ex-Gymnasiast umgab ihn sicherlich ein gewisser Nimbus, und in manchen Fächern mochte er einen Vorsprung besessen und sich gewählter ausgedrückt haben.
Latein wurde in der Quarta offenbar nicht gelehrt, jedoch in der Tertia, aber auch dort nur fakultativ. Französisch, Deutsch und Religion waren die Hauptfächer, während das Fach Mathematik marginal blieb und Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften ein einziges Fach bildeten. Dafür wurden kaufmännische Kenntnisse vermittelt.162 Ein Schüler fiel besonders auf, weil er sich in wohlgeformten lateinischen Sätzen auszudrücken vermochte. Auf diese Weise hatte er die Gunst von Capsius erworben und erhielt die Erlaubnis, wenn er in Latein darum bat, während des Unterrichts hinauszugehen, wenn «Seiltänzer, Soldaten, die durch die Spießruthen liefen, Bären und Affen» in der Stadt waren.163
Dieses Privileg reizte Heinrich mehr als alle Meritentafeln und öffentlichen Belobigungen der Basedowschen Pädagogik. Sein Ehrgeiz wurde geweckt, es dem Kameraden gleich zu tun, und obschon er vom Latein dispensiert war, liess er sich von dem Vorzugsschüler in die Geheimnisse dieser Sprache einweihen und büffelte beharrlich Grammatik und Vokabeln, bis er sich sattelfest genug fühlte, um dem Lehrer damit zu imponieren.
«Vater Capsius, ob meiner plötzlichen Gelahrtheit erstaunt, prüfte mich anfangs zweifelnd; lobte mich dann; verkündete, aus mir werde etwas werden; und proklamirte mich feierlich, als seinen zweiten Lateiner mit allen und jeden einem solchen gebührenden Privilegien.»164
So war nun auch die Schmach behoben, der ewige Sitzenbleiber und zum Lernen zu dumm zu sein. Es erstaunt nicht, dass Capsius von allen Lehrern, die Heinrich unterrichteten, trotz seiner gelinde gesagt primitiven Erziehungsmethode von ihm am meisten gelobt wurde.
Ausser diesen Anekdoten erfahren wir nichts über Heinrichs Verweilen an der Friedrichsschule, nur dass er fleissig lernte. Auch hierin besass er ein Motiv, das mit der Schule wenig zu tun hatte. In Lemmes Haus arbeitete ein alter Invalider namens Krapp oder Krappe, der den Knaben – Heinrich Schocke, Gottlieb Lemme und Antoine Henri Faucher (Stiefsohn von Heinrichs jüngster Schwester) – die Abenteuer von Robinson Crusoe, von Albert Julius (aus Johann Gottfried Schnabels Roman «Die Felsenburg»)165 und von Robert Pierot166 so erzählte, als habe er selber sie erlebt.167 Als Krapp der Stoff ausging, war Heinrichs Durst nach Abenteuer-, Reise- und Seefahrergeschichten geweckt. Er fasste den Entschluss, selber Reisender zu werden, und um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wenn es ihn in fremde Länder verschlug, sich möglichst viel Wissen und Kenntnisse über die Welt, die Sprachen und Sitten der Völker anzueignen.168 Er tat genau das, woran Rötger seine Zöglinge hindern wollte: Er frequentierte Leihbibliotheken und las Reisebücher und Romane, die ihn immer stärker in ihren Bann zogen. Es war eskapistische Literatur, und zeitlebens erholte sich Zschokke beim Schreiben und Lesen von Abenteuergeschichten; als gestandener Mann las er mit Vorliebe die Romane von Walter Scott und James Fenimore Cooper, während ihn die «hohe Literatur» der Klassik und Romantik kalt liess und Goethe und Jean Paul ihn zum Gähnen brachten.169
Er war mit seiner Vorliebe für diese Art von Lektüre durchaus kein Einzelfall; die Trivialliteratur hatte den Büchermarkt erobert; Abenteuer- und Reisebücher lösten die theologischen und moralischen Schriften an Beliebtheit ab, gerade bei jungen Menschen, die in kein starres System von Familie und Kirche mehr eingebunden waren und sich selbst überlassen blieben. Rüdiger Safranski schreibt dazu:
«‹Sich selbst überlassen› bedeutet für einen Bürgersohn des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Regel: den Büchern überlassen. In dem lesehungrigen und schreibwütigen Zeitalter beginnen die herkömmlichen Erziehungsmächte Elternhaus und Schule an Autorität einzubüßen. Die junge Generation geht auf Entdeckungsfahrt in die sich grenzenlos öffnende Welt der Literatur. Die Familien [...] können der Anziehungskraft dieser neuen Welt nichts entgegensetzen; ebensowenig wie die Schulen, in denen ein Bildungskanon gepflegt wird, den die junge Generation als hoffnungslos verstaubt empfindet.»170
Mit zwölf legte Heinrich ein Tagebuch an, «welches nach wenigen Jahren, wie ich hoffte, an unglaublichen Begebenheiten überreich werden sollte».171 Es war nur eine Frage der Zeit, bis er selber beginnen würde, Geschichten zu schreiben. Eigentlich war die Weiche schon gestellt: Statt selber zu reisen wie Fritz, statt noch einmal zur Diamantensuche an den Oberlauf der Elbe aufzubrechen, fanden die spannendsten Reisen in seinem Kopf statt. Das Tagebuch verfehlte den Zweck, Abenteuer aufzuzeichnen – dazu passierte Heinrich in Magdeburg zu wenig Aufregendes –, führte aber «zu genauer Selbstbeobachtung», einer Aufnahme des Innenlebens.172 Hier wird neben Schummels Romanbegeisterung der zweite bedeutsame Einfluss seiner Kindheit sichtbar: der Pietismus des Vaters. Heinrich wurde in jener Zeit Katechismusschüler und musste den sonntäglichen Gottesdienst besuchen.
Seiner religiösen Entwicklung räumte Zschokke in «Eine Selbstschau» viel Platz ein, und nirgends so stark wie hier entsteht der Eindruck des nachträglich Konstruierten. Heinrich suchte in dieser Phase seines Lebens einen persönlichen Gott, einen Gott der Zwiesprache, von dem er sich Geborgenheit und Liebe erhoffte, die er im Leben entbehrte, einen Gott, der ihm den Vater ersetzte oder ihn über seinen Verlust hinwegtröstete. «Ich hielt Unterredungen mit Gott, und auf meine Bitten antwortete ich, in seinem Namen, selber.»173 Er dachte, mit einem himmlischen Wesen müsse man in Versen verkehren, und so entstanden seine ersten poetischen Versuche, die sich an Kirchenliedern und an den Dichtungen des Pietisten Barthold Heinrich Brockes174 orientierten. Dies war seine private Welt, von der die Lemmes keine Ahnung hatten und wofür sie wohl auch kein Verständnis gehegt hätten.
Der Zwang, in die Kirche gehen zu müssen, ohne innerlich dafür bereit zu sein, führte zu Zschokkes Forderung: «Der erste Tempelbesuch eines jungen Menschen sollte ihm nur bei hinlänglicher Verstandesreife gestattet und sein erster religiöser Festtag seyn.»175 Bei seinen Kindern setzte er dieses Prinzip konsequent durch: Ihre religiöse Erziehung geschah zu Hause durch die Eltern, und ihr erster Kirchgang war verbunden mit dem ersten Empfang des Abendmahls, also mit der Konfirmation.
Im Religionsunterricht, der ihn auf die Konfirmation vorbereiten sollte, lernte Heinrich «Katechismus, Bibelstellen und Gebete in Prosa und Versen in Fülle» auswendig, konnte aber nichts damit anfangen. «Sie lagen, wie todter Wörterkram, im Gedächtniß aufgespeichert.»176 Umgekehrt erhielt er keine Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten und denen er 1796 seine philosophische Reise «Salomonische Nächte» widmete: Wer bin ich? Warum und für wen und für welchen Zweck lebe ich?177 Dabei verstieg er sich eine Zeitlang zu gefährlichen Ansichten:
«Zuweilen glaubt’ ich, die Welt sey ungefähr, wie ein Uhrwerk, dergleichen ich schon gesehn hatte, worin sich die Figuren bewegen müssen, ohne es zu wissen und zu wollen. Fragt’ ich darüber bejahrtere Personen, bekam ich entweder ungnädige, oder unbefriedigende Antworten. ‹Der liebe Gott hat das von Ewigkeit einmal so eingerichtet, du Dummkopf!› war der gewöhnliche Bescheid. Da dacht’ ich eine geraume Zeit, die ganze Welt sey ein weites Marionettentheater, auf welchem sich Gott, zu seiner Unterhaltung, der Thiere und Menschen, statt der Puppen, bediene. Diese Vorstellung bildete sich zuletzt in die seltsame Grille aus: ich sey mit Gott allein in der Welt, und sein Kind; er wolle mich aber noch erziehn, eh’ ich zu ihm in seinen Himmel komme. Darum habe er das wunderbare Theater für mich gebaut, auf welchem sich Menschen- und Thiergestalten nur bewegen, wann ich zu ihnen komme, und reglos sind, wenn ich sie nicht sehe. Indessen stelle Gott die Figuren in der Geschwindigkeit wieder anders, um mich damit zu überraschen.»178
Die Vorstellung, dass nur Gott und er selber existierten, während die restliche Welt aus lauter Marionetten bestehe, habe einige Wochen angehalten, schrieb Zschokke. Es war der Höhepunkt des Versuchs, sich gegen das schmerzliche Gefühl des Ausgestossenseins zu wehren. Die Schilderung in «Eine Selbstschau» und vor allem in den «Salomonischen Nächten», die seine innere Einsamkeit rückhaltlos preisgibt, erinnert an Anton Reiser und dessen seelische Nöte als Kind.
In der Tat wurde Zschokke stark von Karl Philipp Moritz’ Seelenerfahrungskunde und vor allem von der Seelenkrankheitskunde geprägt.179 Die Selbstbeobachtung und Selbstüberprüfung, die von seinem pietistischen Hintergrund angeregt wurde, erhielt durch Moritz einen wissenschaftlichen Aspekt. Indem die Herausgeber des «Magazins zur Erfahrungsseelenkunde», das den Nebentitel «Gnothi Sauton», Erkenne dich selbst, trug,180 die Leser ermunterten, ihre eigenen oder von Dritten erfahrene Beispiele seelischer Erschütterung und Zerrüttung mitzuteilen, lösten sie ein breites Interesse an psychischen und psychopathologischen Vorgängen aus. Dass sich Zschokke an dieser Zeitschrift nicht beteiligte, ist wohl hauptsächlich dem Umstand zuzuschreiben, dass nur bis 1792 Leserbeiträge aufgenommen wurden.181
Das zitierte Erlebnis ist zeitlich schwer einzuordnen. Einige Indizien lassen vermuten, es sei im letzten Jahr am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen passiert, als sich Heinrich der Verachtung der Lehrer und dem Spott der Mitschüler ausgesetzt sah, im Alter von neun bis zehn Jahren also. Eingeordnet ist die Schilderung in «Eine Selbstschau» aber nach den beiden Anekdoten um Lehrer Capsius, als er bei seiner Schwester Lemme wohnte. In den «Salomonischen Nächten», wo er den gleichen Seelenzustand, den er als Paroxysmus (Anfall) bezeichnete, ein erstes Mal beschrieb, setzte er die Zeit noch später an, mit ungefähr 14 Jahren.182 Da befand er sich aber bereits nicht mehr bei seiner Schwester und ging nicht mehr auf die Friedrichsschule.
Als Kontrapunkt zum Paroxysmus setzte Zschokke in «Eine Selbstschau» die Begegnung mit der Tochter seines Vormunds, Friederike Ziegener (1774 bis nach 1840).183 Ziegeners wohnten ebenfalls in der Dreiengelgasse, und Zschokke beschrieb Friederike oder Rikchen, wie er sie meist nannte, als «kleines, fröhliches Mädchen», «ein sehr schönes Kind», das in der warmen Jahreszeit im Freien mit ihm spielte, aber im Winter zu Hause und unsichtbar blieb.184 Womöglich hatte Heinrich sie schon kennen gelernt, als er noch in seinem Elternhaus wohnte; schliesslich waren die beiden Väter ja befreundet. Es bleibt bei dieser einzigen Erwähnung Friederikes im Zusammenhang mit ihrer Spielkameradschaft, die etwa zwei Jahre gedauert haben dürfte und auch mit Enttäuschungen verbunden war. Wenn er sie im Frühling nach langer Abwesenheit wieder zu Gesicht bekam, wurde aus dem Engel in überirdischer Schönheit, den er sich den Winter durch imaginiert hatte, ein «kleines, artiges Mädchen in seiner ganzen Gewöhnlichkeit».185
Heinrichs erwachtes Interesse an der Schule und seine Fortschritte in Latein führten dazu, dass für ihn wieder ein richtiges Gymnasium ins Auge gefasst wurde. Ausschlaggebend für die Wahl sei ein «Beschluß der über ihn wachenden Behörden» gewesen.186 Der Schulwechsel fiel damit zusammen, dass Heinrich es bei seiner Schwester nicht mehr aushielt. Er sei mehr als «Kostgänger und Dienstbursche, denn als Bruder» behandelt worden, klagte er.187 Die Lemmes hatten ihm in einem Hintergebäude eine Kammer ohne Heizung und Licht zugewiesen. Dort verbrachte Heinrich die meiste Zeit mit Lesen, Malen und Dichten. Er hätte sich vermutlich auch im Wohnzimmer bei den anderen aufhalten können, aber das wollte er offenbar nicht.
Man habe seinen schulischen und privaten Beschäftigungen kein Verständnis entgegengebracht, klagte er weiter. So habe man ihm Manuskripte seiner schriftlichen Arbeiten und Übersetzungen weggenommen, um Geld darin einzupacken. Zum Glück habe man seinen poetischen Briefwechsel mit dem Geist seines Vaters nicht entdeckt. «Insgesammt wackere Kaufleute und Handwerker, ohne größere Bildung, als zu ihrem Gewerbe genügte, waren sie eben nicht geeignet, den unruhigen Geist des kleinen Schwärmers auf richtigern Weg zu leiten.»188 Zwei Welten standen sich gegenüber: die kaufmännische und die gelehrte und poetische. Ob Zschokke den Lemmes gerecht wird, lässt sich im Nachhinein kaum mehr feststellen, da wir wie bei ihrer Beurteilung nur seine eigene Aussage besitzen. Immerhin schickten die Lemmes ihren Sohn Gottlieb ja ebenfalls aufs Gymnasium. Vielleicht stehen sie an dieser Stelle für den Kaufmannssinn und Krämergeist der Magdeburger schlechthin.
Heinrich war ein zorniger, rebellischer Jugendlicher geworden, voller Groll auf die Welt und mit einem empfindlichen Gerechtigkeitssinn. Als man ihn dabei ertappte, wie er eine ausgehöhlte Rübe mit einer Kerze als Lampe benutzte, um in der Dämmerung lesen zu können, wurde sie konfisziert. Vermutlich spielte eine nicht unwesentliche Rolle, dass er durch eine unvorsichtige Hantierung das Haus hätte in Brand stecken können. Der Streit eskalierte zu gegenseitigen Beschuldigungen und Drohungen. Anderntags habe er sich bei seinem Vormund beschwert und verlangt, dass man ihn seinem Kostgeld entsprechend besser behandle. Ziegener habe ihn abblitzen lassen, worauf er sich an die oberste Instanz, das städtische Vormundschaftsamt, wandte, an dessen Präsidenten, Bürgermeister Stieghan.189 Der habe ihn angehört, ihm dann freundlich auf die Schulter geklopft und versprochen: «Geh, es soll besser werden.» Daraus schöpfte er neue Hoffnung. «Es wird wieder besser werden!», war ein Satz, den er später für sich gern wiederholte, wenn Unglück und Verzweiflung über ihn hereinbrechen wollten.190
Die alte Tante Lemme – gemeint war die Ehefrau von Gottlieb Lemme, Anna Maria Lemme-Eulenberg (gest. nach 1841) –, so schrieb Zschokkes jüngster Sohn Olivier, habe nach der Lektüre dieses Teils von «Eine Selbstschau» heisse Tränen vergossen und gemeint, «es habe sich Papa darin zu hart gegen ihre verstorbene Schwiegermutter ausgesprochen».191 Heinrich trug mit seiner Haltung sicherlich zur angespannten Stimmung im Haus bei. Wie wenig kindliche Wertschätzung und Verständnis er der immerhin fast 22 Jahre älteren Schwester entgegenbrachte, zeigt eine Anekdote, die seine Söhne unter dem Titel «Blumenhaldner Naivitäten» veröffentlichten:
«Zur Zeit, als Papa noch bey seiner Schwester Lemme in Magdeburg an die Kost gieng, kam zu derselben eine arme Frau, welche sie bittend und mit Thränen angieng, ihr doch den Zins eines gewißen Kapitals zu erlaßen. Da aber Tante Lemme wie natürlich nicht darein willigen konnte, wurde Papa durch die Thränen und inständigen Bitten der armen Frau einentheils gerührt, und anderntheils durch die Hartnäkigkeit der Schwester empört, und voller Ärger sagte er zu ihr: ‹warum willst du diese Schuld der armen Frau nicht erlaßen, betest du nicht alle Tage, vergieb uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern?›»192
Wenige Tage nach seinem Gespräch mit Stieghan sei er von Lemmes weggekommen, «einem betagten Lehrer der Altstädter Schule» in Pension gegeben worden und dann ins Altstadtgymnasium übergetreten. Er war zwölf Jahre alt. Falls diese Zeitangabe Zschokkes stimmt,193 fand der Wechsel in die neue Schule im Winter 1783/84 statt; er hätte demnach anderthalb Jahre bei seiner Schwester gewohnt und die Friedrichsschule besucht. Nach den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» handelte es sich bei dem «betagten Lehrer» um Johann Georg Christoph Neide (1756–1836), seit 1778 Lehrer und Subkonrektor am Altstadtgymnasium, 1784 Prorektor und 1792 Rektor. Aber selbst einem Knaben konnte Neide mit seinen 27 Jahren nicht als betagt erscheinen. Carl Günther glaubte diesen Widerspruch lösen zu können, indem er nach einem älteren Lehrer suchte und auf August Wilhelm Ferber (1741–1784) stiess, der seit 1772 am Altstadtgymnasium unterrichtete. Das einzige Indiz aber ist Ferbers Alter und Todesjahr, denn Zschokke schrieb, er sei nach «bald erfolgtem Tode» seines Pensionsgebers zum emeritierten Rektor der Schule, Elias Caspar Reichard (1714–1791), gekommen.194
Eine weitere Version erzählte Zschokke seinen Söhnen, die sie im «Blumenhaldner» veröffentlichten. Danach kam Heinrich zu einem Herrn Schulze, der zwar nicht unterrichtete, aber durch seine Pedanterie und andere Gewohnheiten gleichwohl wie ein Lehrer wirkte. Als Witwer lebte er mit seinen beiden Kindern Lotte und Fritz und einer Haushälterin in grösster Sparsamkeit. Schulze habe Heinrich wegen seines Schulfleisses bei sich aufgenommen, da er sich einen Ansporn für seinen faulen Sohn Fritz erhoffte. «Er ergriff darum auch gerne jeden günstigen Anlaß, diesem Vorwürfe wegen seines Leichtsinnes und geringen Fleißes zu machen, um ihm dann den kleinen und viel jüngeren Zschokke zum Vorbild aufzustellen.»195
Zschokke berichtete seinen Söhnen von seinem Aufenthalt bei Schulze als Auftakt zu einer Episode, in der sich die kleinbürgerliche Idylle, die sich in dem einzigen Wohn- und Esszimmer abspielte, jäh in eine häusliche Katastrophe verwandelte. Alle waren um den alten Ofen versammelt, wo die Haushälterin ihren Brei kochte. Nach seiner Gewohnheit sass Schulze in der Dunkelheit im Lehnstuhl und schmauchte eine lange, tönerne Pfeife. Heinrich rückte näher an den Ofen, um beim Schein der verglimmenden Kohlen Schillers «Fiesco von Genua» zu lesen. Weil der unbeschäftigte Fritz ihn plagte und zwickte, stiess Heinrich aus Versehen mit dem Fuss gegen das Ofenbein; das wacklige Gebilde kippte, der Topf mit dem Brei ging in Stücke und Vater Schulze zerbrach beim Aufspringen seine Pfeife. Man bezichtigte sich gegenseitig, bis die Schuld an der Haushälterin hängen blieb, «wiewohl sie mit Thränen ihre Unschuld, und die Vortrefflichkeit des verschütteten Brei’s betheuerte».
Im «Blumenhaldner» wird diese Anekdote als amüsante Geschichte behandelt, was sie im Nachhinein gewiss war. Wenn sie aber stimmte, dann erlebte Heinrich bei Schulze noch einmal, dass man ihn bei seinen Studien und beim Lesen störte und ihm das erforderliche Licht missgönnte. Aus diesem Grund dürfte sein Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer gewesen sein. Ob er von da noch zu Prorektor Neide kam, wie er in den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» behauptete und wie es im «Blumenhaldner» steht,196 oder bereits von Rektor Reichard aufgenommen wurde, muss unentschieden bleiben. Weil Zschokke von ihm als einem emeritierten Rektor schrieb, fand sein Einzug in Reichards Haus, falls wenigstens diese Aussage richtig ist, frühestens im Oktober 1784 statt.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Schuldirektoren und sogar Universitätsprofessoren Schüler oder Studenten in Pension nahmen, um ihr Gehalt aufzubessern. Reichard hätte es eigentlich nicht nötig gehabt. 1765 gab er ein Einkommen von 477 Talern an und verdiente damit mehr als die fünf Konventualen des Pädagogiums des Klosters Unser Lieben Frauen zusammen – aber was wissen wir schon über seine Auslagen? 1769 erhielt er wegen seiner Schwerhörigkeit einen Gehilfen mit dem Titel eines Subrektors und einem Gehalt von 200 Talern, 1774 wurde sein Pensum auf neun Stunden reduziert. Er gab fortan den Primanern Universalgeschichte, unterrichtete Latein nach Vergils «Aeneis» und den Briefen des jüngeren Plinius, korrigierte die lateinischen Übungen und führte im Übrigen das Leben eines Privatgelehrten. Am 1. Oktober 1784 wurde er unter Überlassung seiner Emolumente (Gebühren) von 311 Talern nebst freier Wohnung pensioniert; er starb am 18. September 1791.197
Wiederum erfahren wir von Zschokkes Aufenthalt im Altstädter Gymnasium nur einige Anekdoten und dass er «in eine der obern Klaßen» eintrat198 und bis zur Prima aufstieg. Wir erhalten keine Informationen über die Lehrer und den Unterricht, und diesmal helfen uns auch Akten nicht weiter. Das Schularchiv scheint nicht mehr zu bestehen, und wir sind vorab auf ältere Darstellungen der Schulgeschichte angewiesen.
Wie schon zu Melanchthons Zeiten standen das Trivium und der altsprachliche Unterricht auch hier an vorderster Stelle. 1759 wurden als fakultative Fächer Französisch und Mathematik in den Lehrplan aufgenommen.199 Der Schule fehlte ein Reformator wie Hüffer (an der Friedrichsschule) oder Rötger und Schummel (am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen). Wäre ein solcher aufgetreten, dann hätte er «einen harten Strauß zu bestehen» gehabt gegen das «Ungeheuer, Autorität des Alterthums», und sich, wie Joachim Christoph Friedrich Schulz spottete, mit dem Einwand der Reformgegner herumschlagen müssen:
«‹Wir sind doch auch auf dieser Schule gewesen, und keine Dummköpfe geblieben!› Diese Antwort würde sich jedem Verbesserer in Riesengröße entgegenstellen, und um so gewaltiger widersetzen, da er nicht sagen darf: ‹Es könnte doch wohl seyn, Wohlweise Herren, daß Sie ein wenig klüger geworden wären, wenn Sie auf einer bessern Schule studiert hätten.›»200
Reichard kümmerte sich in den letzten Jahren kaum mehr um das Schicksal seiner Schule, und da auch die Stadt Magdeburg mit ihrem Aufsichtsorgan, dem Scholarchat, die Reorganisation verschlief oder behinderte, musste Johann Georg Christoph Neide, Reichards Nachfolger, 1798 einen harten Schnitt vornehmen und das Gymnasium in eine höhere Bürgerschule umwandeln.201
SCHRIFTSTELLERISCHE AMBITIONEN
Dank Capsius hatte Heinrich seine Scheu vor dem Latein überwunden und konnte, wie es scheint, im Unterricht fortan gut mithalten. Er lernte mit Eifer, zeichnete sich bei den Prüfungen aus und wurde zu einem Musterschüler, wenn nicht gar zum Liebling seiner Lehrer. Die Kenntnisse, die ihm am Altstädter Gymnasium nicht oder unzureichend vermittelt wurden, vor allem in den Naturwissenschaften, in Geschichte und Geografie, musste er sich autodidaktisch erarbeiten. Dazu standen ihm die Bibliothek Reichards und Aufzeichnungen des 1782 gestorbenen Lehrers Johann Andreas Lütger202 zur Verfügung. Elias Caspar Reichard gewährte ihm Zutritt «in sein gelehrtes Sanctuarium». Der Anblick habe ihn überwältigt: «Dies war ein weites, halbdunkles, mit wohlgefüllten Büchergestellen umzogenes Zimmer. Hier saß inmitten desselben der harthörige Greis, vom Morgen bis zum Abend am langen, mit Folianten und Oktavbänden belasteten Tische, und ersetzte, durch Beschäftigung mit Gedanken verstorbener Männer, den Verlust des Verkehrs mit Lebenden.»203
Reichard arbeitete am zweiten Band seiner «Vermischten Beiträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich», die «zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens» beitragen sollten. Der erste Band war 1781 erschienen,204 der zweite, der die Bekämpfung des Unglaubens nicht mehr im Titel trug, kam 1788 heraus,205 und Heinrich durfte sich rühmen, daran mitgewirkt zu haben.
Reichard benutzte Nachrichten und Erzählungen von «Zaubereyen, Hexereyen, Geistererscheinungen, Geisterbeschwörungen, Ahndungen, Träumen, teuflischen Besitzungen, Wunderkuren, Prophezeyungen» und «theologische, juristische, medicinische und philosophische Abhandlungen über dergleichen Materien», die er exzerpierte und vollständig oder in Auszügen abdruckte und mit kritischen Kommentaren versah, um der Menschheit «Wahrheit in Begriffen, Licht im Verstande, Tugend im Herzen, Ruhe und Zuversicht in der Seele und ein vernünftigeres, Gott gefälligeres Christenthum» zu geben.206 Zschokke argwöhnte, dass Reichard vor dem Aberglauben, den er bekämpfte, selber nicht gefeit gewesen sei. «Man stäubet nicht leicht etwas aus, ohne dabei selbst etwas staubig zu werden.»207 In Zschokkes Erstlingsroman «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten», dessen Hauptperson stark autobiografische Züge trägt, kommt Reichard ebenfalls vor.208
Die Zeit der Konfirmation nahte. Seine religiöse Unterweisung erhielt Heinrich von Georg Andreas Weise (1737–1792), den er schon beim Kirchgang mit dem Vater kennen gelernt hatte, dem zweitem Pfarrer an der St. Katharinenkirche, einem lieben, frommen, zum Pietismus neigenden Mann.209 Jetzt war Heinrich empfänglicher für die «rednerische Inbrunst im Vortrage» und die «Glut seiner Andacht im Gebet».210 Im Leben Jesu, von der Welt verkannt und verstossen, erkannte Heinrich sein eigenes Schicksal; in den Sündern, die Weise zur Umkehr aufforderte, sich selbst.
«Selten verließ ich das Pfarrhaus ohne wundgeweinte Augen; ohne Schmerzen der Reue über meine Vergehen. Jede kindliche Eulenspiegelei und Übereilung trug jetzt die Gestalt einer unverzeihbaren Sünde. In meinem Stübchen jammert’ ich in wiederholten Gebeten auf den Knieen um Barmherzigkeit und Gnade, und legte unter heißen Thränen die Gelübde der Besserung ab. Christus ward fortan mein Gedanke, mein Vorbild, meine Liebe, mein Leben.»211
Die Konfirmation, von der er ein Wunder erwartete, einen Fingerzeig Gottes, enttäuschte ihn masslos; das Zeremoniell, das respektlose Benehmen der Konfirmanden, der Ablauf hatten nichts mit dem religiösen Feuer zu tun, das in ihm brannte und durch mystisch-religiöse Schriften genährt wurde.212 Er hatte den Heiland zu seinem alleinigen Herzensfreund gewählt, aber das Leben behinderte die so sehnsüchtig erwartete Innigkeit im einfachen Glauben. Beim Abendmahl erwartete er während der Kommunion eine unmittelbare Berührung durch Gott, die ausblieb. Stattdessen lenkten die Schule, die Bücher und das Studium Heinrichs Schritte in eine andere Richtung. Sein Bildungshunger gewann immer mehr an Gewicht.
In Zschokkes Nachlass befinden sich zwei Bände in einem Schuber mit der Goldschrift: «Joh. Heinr. Dan. Zschokke’s Schularbeiten aus den Jahren 1784–1787. in Magdeburg. 1. 2. Theil.»213 Sie sind nicht im Unterricht, sondern in seiner Freizeit entstanden und zeigen, wofür der 13- bis 16-Jährige sich interessierte: historische, theologische, naturwissenschaftliche, philosophische Bücher, Biografien und Reisebeschreibungen.
Der erste Band wurde im November 1784 abgeschlossen, entstand in Heinrichs erstem Jahr am Altstädter Gymnasium, man sucht aber vergeblich nach einem inneren Zusammenhang. Vielleicht las Zschokke einfach, was in Reichards reichhaltiger Bibliothek herumlag. Wie kommt es denn aber, dass die Handschrift in diesen Aufzeichnungen nicht von Zschokke stammt, obwohl an zwei Stellen auf ihn als Verfasser hingewiesen wird, so schon auf dem Titelblatt: «Von meinen verschiedenen Auszügen. Erster Theil. Joh. Heinr. Dan. Schocke Magdeburg d 11. Nov. 1784.»? Man wäre geneigt, eine falsche Zuschreibung anzunehmen, hätte Zschokke nicht persönlich 1846 einem Besucher die beiden Bände als sein Werk präsentiert.214
Der zweite Band, laut Datum im November 1787 fertig gestellt, ist in der hinteren Hälfte in der Mehrheit in Zschokkes eckiger Handschrift beschrieben und hat ausser den Seereisen von James Cook vorwiegend geschichtliche und literaturgeschichtliche Themen zum Inhalt. Hier wenigstens lässt sich ein Schwerpunkt feststellen: Charakteristika von Schriftstellern wie Molière, Shakespeare, John Dryden und Ludwig Christoph Heinrich Hölty, dem Mitbegründer des Göttinger Hainbunds.
Heinrich las während seiner Zeit am Altstädter Gymnasium nach eigenen Angaben «ohne Wahl und Ordnung, was Zufall, oder Neugier, mir in die Hand führte; Dichter, Astronomen, Chroniken, Philosophen, Reisebeschreibungen, Kirchenhistorien u. s. w.»215 Er habe damals den Entschluss gefasst, Gelehrter oder Polyhistor zu werden, und sich Reichard zum Vorbild genommen.216 Die Unterhaltungsromane aus der Leihbücherei wurden also durch wissenschaftliche Werke abgelöst oder mindestens ergänzt, aber da diese Lektüre unsystematisch blieb, war auch das Wissen nur oberflächlich. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» gab er selbstkritisch zu:
«Diese ungeregelte Vielthätigkeit des Geistes, vereint mit wahlloser Liebe alles dessen, was ihm wissenswürdig schien, ging aus jener Zeit in die spätern Jahre über; und es ist schwer zu entscheiden, ob er dadurch mehr verloren, als gewonnen habe. Wenn er einerseits der Gefahr oberflächlicher Vielwisserei nicht entrann, gewann anderseits eine Mannigfaltigkeit und Unbefangenheit der Ansicht und des Urtheils, deren sich einseitigere Ausbildung selten freut.»217
Wäre Zschokke Wissenschafter geworden, so hätte er keine grossen Stricke zerrissen; seine Phantasie, die Lebhaftigkeit seines Geistes, das Bestreben, Theorien zu veranschaulichen und anderen zu erklären, machten ihn zum Schriftsteller und Pädagogen und nicht zum Gelehrten. Dies zeigte sich auch auf einem zweiten Feld. Elias Caspar Reichard setzte ihn für Kärrnerdienste an seinem Buch «Wider den Aberglauben» ein. Er habe, schrieb Zschokke später, Übersetzungen und Auszüge aus alten Schmäuchern angefertigt. Manches sei wörtlich in Reichards Kompendium eingeflossen.218
Ein einziger Beitrag lässt sich mit ziemlicher Sicherheit Zschokke zuordnen, zumal er mit «Z.» gekennzeichnet ist. Es ist die Erzählung «Meps»,219 die sich auf einen vorangegangenen Aufsatz «Etwas von Gespenstern und von der Furcht vor Gespenstern» bezieht und den Vermerk trägt: «Ein Pendant zur vorherstehenden Abhandlung». Offenkundig war es kein Bericht über einen wirklichen Vorfall, sondern eine eigens für die «Beiträge» erfundene Erzählung und fiel als solche aus dem Rahmen. Vom Aufbau, Inhalt und Stil, auch von den Dialogen und den Redewendungen her, ist es ein typisches Produkt Zschokkes; etwas grell, noch nicht sehr raffiniert, die Schreibe eines 15- oder 16-Jährigen, die vorab durch Witz überzeugt, durch das schauerliche Element und eine Spannung, die auf den Höhepunkt zutreibt, bevor sie, genau wie der Spuk, den sie beschreibt, in sich zusammenfällt. «Meps» ist die erste bekannte Prosaschrift Zschokkes. Reichard übernahm sie augenscheinlich ohne Änderung in sein Buch. Er pflegte ohnehin nicht viel abzuändern, doch hier spürte er wohl in der kleinen Arbeit seines Schülers das Frische, die Lust am Spielerischen und den aufklärerischen Effekt.
«Meps» war bestimmt nicht seine erste Dichtung. Erstaunlicherweise lässt Zschokke uns in seiner Autobiografie aber kaum an seinen schriftstellerischen Anfängen teilhaben, die schon früh ein burleskes Talent erkennen lassen. Mit keinem Wort erwähnte er, dass er sich unter Magdeburger Kameraden und Lehrern bereits einen Ruf als Belletrist und Gedichteschreiber erworben und sogar ein Theaterstück verfasst hatte.
Näheres zu Zschokkes Frühwerken ist bei Behrendsen zu erfahren. Er schrieb in seinen «Notizen», Heinrich habe mit 15 Jahren der Direktrice einer in Magdeburg gastierenden Theatergruppe ein kleines Schauspiel überreicht, das sich mit der Ortsgeschichte, der Eroberung Magdeburgs durch Tilly, befasste. Die Direktorin, eine Madame Wäser, habe es ihm nach einigen Tagen zurückgegeben mit der Bemerkung, man könne davon nicht Gebrauch machen, da man gerade ein ähnliches Stück einstudiere. Behrendsen, der Zschokke zeitlebens siezte, habe ihn daraufhin belehrt: «Betrachten Sie dies als eine höfliche Verwerfung. Sie sind ja noch nicht stark genug etwas zu schreiben, was denkende Männer befriedigen könnte. Lassen Sie es bleiben, Sie versäumen dadurch Ihre Schularbeiten, was Ihnen schaden wird!» Worauf Heinrich patzig erwidert habe: «Shakespeares erstes Stück ist auch verworfen, doch ist er nachher ein großer Schauspieldichter geworden.»220
Zwei Bände mit Aufzeichnungen Zschokkes von seiner privaten Lektüre als Gymnasiast von 1784 und 1787. Vor seiner Abreise aus Frankfurt (Oder) übergab er sie seinem Studienfreund Johann Gabriel Schäffer, aus dessen Hinterlassenschaft sie 1843, in einen Schuber versorgt, zu Zschokke nach Aarau gelangten. Es ist das erste Zeugnis seiner Handschrift und seiner geistigen Regsamkeit.
Vermutlich sah Zschokke mit seinem Stück eine Gelegenheit, sein dichterisches Können und vaterländisches Herz unter Beweis zu stellen und berühmt zu werden; die schnöde Abweisung war eine doppelte Brüskierung: seines literarischen Talents und seines Patriotismus’; zweifellos hielt er die Direktrice für eine Ignorantin. In jedem Fall hätte Zschokke Probleme gehabt, mit seinem Stück bei Madame Wäser Gehör zu finden. Selbstverständlich war ihre Behauptung, man studiere gerade ein ähnliches Stück ein, nur ein Vorwand. Sie hätte ihm keinen Grund für ihre Ablehnung nennen müssen, wusste aber vielleicht nicht recht, ob ein einflussreicher Vater oder Gönner hinter dem Bittsteller stand. Andererseits existierte tatsächlich schon ein Schauspiel mit dem Titel «Die Eroberung von Magdeburg» von einem preussischen Offizier namens Rohwedel. Von Lehrer Johann Gottlieb Schummel bühnenmässig eingerichtet,221 war es im Frühling 1774 durch Carl Döbbelin «unter großem Zulauf» zur Darstellung gebracht worden.222
Alljährlich wurde der Eroberung und Vernichtung Magdeburgs vom 10. Mai 1631 gedacht, und wenn eine wandernde Gesellschaft sich gerade zu dieser Zeit in der Stadt aufhielt, unterliess sie es kaum, das Stück aufzuführen.223 Friedrich Ludwig Schmidt, Schauspieler und seit 1798 Direktor des Magdeburger Aktientheaters, brachte am 10. Mai 1799 sein neues Stück «Der Sturm von Magdeburg. Ein vaterländisches Schauspiel in fünf Aufzügen» zur Uraufführung.224 Innerhalb einer Woche wurde es fünfmal wiederholt und bis 1876 jedes Jahr am 10. Mai aufgeführt.225 Der Magdeburger Philosoph Karl Rosenkranz (1805–1879), der wie Zschokke das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen besuchte und mit ihm über seine Schwester, die Zschokkes Neffen Friedrich Wilhelm Genthe heiratete, verwandt wurde, schrieb in seinen Erinnerungen: «Es war damals die ganz sinnreiche Sitte, daß Kinder gewöhnlich zum ersten Mal am 10. Mai in das Theater mitgenommen wurden, weil dann die Zerstörung Magdeburgs durch Tilly von Schmidt gegeben zu werden pflegte.»226
Frau Wäser jedenfalls zeigte im Winter 1786, als sie mit ihrer 25-köpfigen Schauspielertruppe in der Stadt weilte, die Eroberung Magdeburgs trotz ihrer Behauptung weder in Zschokkes noch in einer anderen Fassung. Es war ja auch gar nicht Frühling, und sie war nur wenige Monate in Magdeburg. Selbst wenn die Truppe das Stück einstudiert hätte, hatte es nur einen lokalen Bezug und wäre in Stettin und Breslau, wohin sie sich nachher wandte, nicht spielbar gewesen.
Frau Wäsers Ablehnung hatte Heinrich keineswegs entmutigt, eher angespornt. Er war mittlerweile so sehr von seinem Talent überzeugt, dass er jede Zurückweisung als ein Zeichen dafür nahm, missverstanden und verkannt zu werden, wie einst, als man ihn aus dem Pädagogium warf oder die Familie Lemme ihm die Beleuchtung seines Zimmers verweigerte und seine Manuskripte als Papier für Münzrollen missbrauchte. Sein Selbstbewusstsein nährte sich daraus, dass er sich in der Schule und durch Eigenstudium ausgedehnte Kenntnisse erworben hatte, überzeugend argumentieren konnte und als Dichter, wenn auch oft nur in Nachahmung anderer, Leistungen erbrachte, wofür er hin und wieder Anerkennung erhielt. Zschokke verfügte über eine rasche Auffassungsgabe, einen wachen Verstand, ein gutes Gedächtnis und inzwischen auch über viel Sprachgefühl und zunehmende rhetorische Kraft. Der Stolz darauf und auf seine wachsenden geistigen Fähigkeiten, die ihn vor den Mitschülern und, wie er meinte, auch unter den Erwachsenen auszeichneten, wird in «Eine Selbstschau» kaum sichtbar. Man muss ihn aber zwingend aus anderen Zeugnissen und Zusammenhängen schliessen.
Sein erster schriftstellerischer Erfolg war das Gedicht «Wechselgesang der Barden Ortho und Sghuna», das im letzten Stück des «Magdeburgischen Magazins» Ende Dezember 1796 erschien.227 Am 17. August 1786 war der preussische König Friedrich der Grosse gestorben. Als sein Neffe Friedrich Wilhelm II. inthronisiert wurde, beeilten sich Würdenträger, Beamte und Dichter, ihm in Prosa und Versen zu huldigen. Zschokke, der sich hinter dem Kürzel «J. Z. D......kke.» verbarg,228 hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: In einem sängerischen Wettstreit preisen zwei altgermanische Barden abwechselnd Friedrich den Grossen und Friedrich Wilhelm II.: Der alte König sei ein grosser Krieger und Beschützer der Unschuld gewesen, lobt der eine; der neue werde sich als Freund deutscher Musen unsterblichen Ruhm erwerben, meint der zweite. Dies war ein Wink an den neuen König, die deutschen Dichter und Künstler zu fördern. Friedrich der Grosse hatte bekanntlich die französische Sprache und Kultur bevorzugt und der deutschsprachigen Literatur Verachtung entgegengebracht. Nach Carl Günther weisen verschiedene Indizien auf Zschokke als Urheber dieses Stücks hin: jugendlicher Überschwang und unbeholfene Verse, der für den frühen Zschokke typischen Hang zu Originalität und die Tatsache, dass er sich damals intensiv mit der «Mythologie der alten Teutschen» befasste.229 Die Harfe, die Ortho und Sghuna anrufen, um den Tod des grossen Friedrichs zu beklagen und den deutschen Gesang wieder zu beleben, verweist auf Ossians Gesänge (erstmals auf Deutsch 1764), die als urtümlich keltische Lieder eines blinden schottischen Barden die Suche nach germanischen Sagen und Volksliedern anregten. Zschokke war ebenfalls von der Ossian-Begeisterung erfasst.230 Zschokkes Verse im «Wechselgesang der Barden Ortho und Sghuna» waren bewusst unbeholfen, um die archaische Sprache und Welt der germanischen Helden und Sänger heraufzubeschwören und mit dem aktuellen Königtum zu verknüpfen. Wie Johann Gottfried Herder – oder vielleicht dank ihm? – war er fasziniert von einer sagenumwobenen, im mystischen Dunkel liegenden, grossartigen Vergangenheit der Völker.
TÖDLICHE KRÄNKUNGEN
Abgesehen von der «Selbstschau» sind Andreas Gottfried Behrendsens Aufzeichnungen die ergiebigste Quelle für Zschokkes Magdeburger Zeit und, soweit überprüfbar, zuverlässiger als jene.231 1785 lernte Zschokke Behrendsen bei der Familie Eltzner kennen, in einem Haus auf dem Werder, einer Insel in der Elbe. Dort lag auch die Bachmannsche Villa, ein Anziehungspunkt für Geistesgrössen und Dichter damaliger Zeit und Versammlungsort der Mittwochsgesellschaft.232 Davon bekam Heinrich nichts mit. Er hatte bei der Schwester seiner Mutter, einer geborenen Jordan, einen sonntäglichen Freitisch, das heisst, er durfte bei ihr zu Mittag essen, und traf dabei den zehn Jahre älteren Andreas Gottfried Behrendsen (1761–1841), einen Stuhlmacher mit philosophischen Neigungen, der um die jüngste Eltznertochter Juliana Charlotte warb. Bevor er sie im Juni 1787 heiratete, sah Heinrich ihn jede Woche einmal. Er schloss sich Behrendsen an und half dem aufgeweckten jungen Handwerker in der deutschen Orthografie, während dieser ihm seine Freundschaft anbot und ein Leben lang mit ihm verbunden blieb.233 Gerne erinnerte sich Zschokke, wie sie beide «mit einander an den Ufern der Elbe umherwandelten und über Gott und Welt gemeinsam philosophirten».234
Mit Bitterkeit registrierte Heinrich dagegen, dass er nicht bei allen Verwandten erwünscht war, dass die Freitische als Almosen verstanden und von seiner Schwester Lemme und von Tante Eltzner manchmal sogar gestrichen wurden.235 Für seine Auslagen standen ihm nur 60 Taler zur Verfügung, die sein väterliches Vermögen jährlich an Zinsen abwarf. Davon wurden die Kosten für Unterkunft und Schule abgezogen, und die restlichen acht Groschen in der Woche mussten für alle anderen Ausgaben reichen, «Licht, Papier, Trinken, Abendessen, Frühstük u. s. w.» Oft sei er hungrig ins Bett und morgens mit leerem Magen zur Schule gegangen, schrieb er in der Rückschau auf die für ihn schwierige Zeit. Um sein Taschengeld aufzubessern, zog er einen kleinen Buchhandel auf. Auch Behrendsen, auf den wir uns hier einzig abstützen, deckte sich bei ihm ein: «Rabeners Satyren und Just von Effens natürlicher Philosoph, wohl conditioniert in ganzem Franzband».236
Zu seinem Unglück war Zschokke nicht besonders geschäftstüchtig. Er nahm Kredite auf, um den Buchhandel zu finanzieren, ging Schulden ein, die er nicht zurückzahlen konnte und musste zu kleinen Betrügereien greifen. Vielleicht verspekulierte er sich mit Buchtiteln, die nicht den Absatz brachten, den er sich erhoffte. In einem einzigen Brief an Behrendsen äusserte er sich über diesen dunklen Fleck in seiner Kindheit:
«[...] in kleine Schulden verfallen, die ich nicht zu befriedigen im Stande war, ohne einen Freund der mir helfen konnte und wollte – Von Schwerin her Vorspieglungen eines bessern Lebens – sehn Sie, alles dies würkte dahin, daß ich, ehe ich fortfuhr, Lügner, kleiner Betrüger, Speichellekker und Stein des Anstosses zu sein, mich lieber durch einen gewagten Schritt in eine ruhigere, reellere von allen Schurkereien abgeschiedne Lebensart zu versezzen suchte, ob ich gleich einen übeln Nachruf zu hoffen hatte.»237
Ausser Behrendsen, Lemme und Henri Faucher hatte Heinrich in Georg Ernst Gottlieb Kallenbach (1765?–1832) einen weiteren Freund. Er war Schüler des Musikdirektors Johann Friedrich Zachariä an der Chorklasse am Altstädter Gymnasium,238 wohnte mit Heinrich in Reichards Haus und brachte ihm das Klavierspiel bei,239 mehr noch: den Sinn für Musik und musikalischen Geschmack.240 Jetzt, wo der Zwang fehlte, lernte Heinrich leicht, was ihm unter dem Klavierlehrer seines Bruders Andreas Mühe bereitet hatte. Er gewann einen neuen Zugang zur Musik und entdeckte die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe auszudrücken und einfache Melodien zu komponieren. Kallenbach vertonte später einige von Zschokkes Gedichten.241 Zu Zschokkes Enttäuschung blieb der Musiker – «ein vorzügliches, musikalisches Talent»,242 von dem er gehofft hatte, dass er «als ein glänzender Stern am musicalischen Horizont» aufgehen würde243 – in seiner Heimatstadt, wurde Organist an der reformierten Heilig-Geist-Kirche, Präfekt des Altstädter Schulchors, Gesangslehrer244 und Komponist von vielen «gefälligen und leicht singbaren Liedern».245
In Zschokkes Erinnerung an die drei oder vier letzten Jahre in Magdeburg, die er am Altstädter Gymnasium verbrachte, dominieren die negativen Erlebnisse, die in der grössten Kränkung seines bisherigen Lebens kumulierten, an welcher Schuldirektor Neide und Christoph Friedrich Wehrhahn (1761–1808), sein Lateinlehrer, die Hauptschuld trugen. Der Anlass war ein Schülerstreich, an dem Heinrich nicht einmal beteiligt war. Wir werden darüber von Zschokke unterrichtet,246 erhalten aber auch aus einem Brief Wehrhans einen entscheidenden Hinweis und ziehen daraus andere Schlussfolgerungen.
In Zschokkes Erinnerung brachte ein Mitschüler der Prima eine im Winterschlaf befindliche Fledermaus in die Schule, die er auf den warmen Ofen warf, gerade als der Lateinlehrer eintrat. Mitten in der Behandlung horazischer Oden wachte das Tier auf und flog im Zickzack durch das Schulzimmer. Der Lehrer duckte sich so ängstlich hinter sein Katheder, dass Heinrich unwillkürlich laut lachen musste. Der Lehrer habe ihn vor die Türe gestellt, und am Nachmittag sei die Klasse im Beisein aller Lehrer im grossen Auditorium versammelt worden. Rektor Neide habe die Schüler aufgefordert, den Schuldigen des Streichs zu nennen. Da keiner sich meldete, habe Wehrhahn gerufen: «Zschokke, Sie haben gelacht! Sie kennen ihn!» Weil Heinrich schwieg, habe Wehrhan demjenigen, der den Täter nenne, Geld angeboten. Das habe ihn, Heinrich so erzürnt, dass er gesagt habe: «Ich kenne ihn; nun aber nenn’ ich ihn nicht. Wir Schüler haben mehr Ehrgefühl als der, welcher daran so wenig glaubt, daß er uns, mit einem Thaler, zur Verrätherei kaufen will.»
Neide habe darauf die Versammlung abgebrochen und Heinrich unter vier Augen auf das Ungebührliche seines Betragens hingewiesen und erneut verlangt, den Schuldigen anzuzeigen. «Als ich noch immer verlegen schwieg, drohte er mir mit schimpflicher Verweisung vom Gymnasium.»247 Es wäre seine zweite Relegation gewesen. Heinrich wartete «mit Ungeduld», wie er schrieb, auf Vollstreckung des Strafurteils, und als sie nicht eintraf, entschloss er sich, freiwillig zu gehen.
Im «Blumenhaldner» wurde der Vorfall vom 14-jährigen Alfred Zschokke, der im Frühjahr 1840 die Redaktion besorgte, weiter ausgeschmückt. Erst hier wird der 36-jährige Wehrhan mit Namen genannt und als ehrwürdiger Greis bezeichnet, nicht zuletzt wohl, um mit der Schilderung seiner Ängstlichkeit und dem jähen Würdeverlust Zschokkes Lachreiz glaubhaft zu machen.248 In Alfred Zschokkes Version, die sicher in den wesentlichen Zügen auf die Erzählung des Vaters zurückging, lachte nicht nur Heinrich, sondern die ganze Klasse, und Wehrhahn sagte vorwurfsvoll: «Von Ihnen Zschokke, hätte ich das am wenigsten erwartet!»249
Diese Bemerkung könnte bedeuten, dass Heinrich zu den Vorzeigeschülern gehörte, man deshalb sehr darauf achtete, was er sagte und in ihn besonderes Vertrauen setzte. Man könnte daraus schliessen, dass Wehrhahn auch deshalb von ihm enttäuscht war, weil sein Lieblingsschüler sich nicht von dem Vorfall distanzierte. So harmlos war der Streich nämlich gar nicht, wie man einem Brief Wehrhahns an Zschokke vom 5. März 1805 entnimmt, wo nicht von einer Fledermaus, sondern, im Plural, von «eingeschwärzten Fledermäusen» die Rede ist.250 Falls der Schüler mehrere Fledermäuse mitbrachte und mit Russ oder Tinte färbte, so warf er sie sicher nicht aus Gedankenlosigkeit auf den Ofen, wie Zschokke behauptete, sondern in der Hoffnung, dass sie im Schulzimmer ein Chaos veranstalten würden.
Es stimmt ebenfalls nicht, dass Zschokkes Aussageverweigerung kein Verständnis gefunden oder nicht wenigstens nachträglich akzeptiert worden wäre. Wehrhan berichtete Zschokke in seinem Brief, dass er diesen Vorfall Freunden als Beweis des «Römermuts» seines Schülers erzählt habe, an den er sich gern und mit Stolz erinnere. Wehrhan bot ihm seine Freundschaft an und wollte mit Zschokke in einen regelmässigen Briefwechsel treten, als er 1804, als Pfarrer in Liegnitz in Schlesien, erfuhr, wo sich sein ehemaliger Schüler aufhielt. Aufs Geratewohl schickte er einen Brief in die Schweiz und erhielt eine Antwort, über die er sich sehr freute. Der frühere Ärger und allfällige Missverständnisse waren da schon längst ausgeräumt: «Denken Sie noch des Mannes, dem Ihre Ausarbeitungen immer so viel rühmliche Arbeit und so viel Freude machten?»251 Was kann mit diesen «Ausarbeitungen» anderes gemeint sein als freiwillige schriftstellerische oder wissenschaftliche Arbeiten, die Heinrich seinem Lehrer zur Begutachtung vorlegte? Wehrhan hegte selber literarische Ambitionen, schrieb Erzählungen, Romane und einen Bericht von seiner Teilnahme als Feldprediger am preussischen Feldzug 1792 gegen Frankreich, von dem er erst nach drei Jahren aus der Gefangenschaft zurückkehrte.252
Es ist eigenartig, dass Zschokke den Namen Wehrhahn in seiner Autobiografie nicht namentlich erwähnte, obwohl er ihm offenbar viel verdankte und zwei Briefe von ihm aufbewahrte, in denen Zuneigung und Wertschätzung deutlich zum Ausdruck kommen. Wehrhan schrieb ihm, dass er alle von Zschokke erreichbaren Werke gelesen habe, und bat ihn um ein Verzeichnis sämtlicher Schriften, um das noch Versäumte nachzuholen. Daraus kann man ebenfalls entnehmen, dass er sich als Förderer oder mindestens Begleiter seiner ersten schriftstellerischen Schritte sah und sein Schicksal weiter verfolgen wollte, zumal sich Zschokke als Dichter und in der Schweiz als Politiker einen glänzenden Ruf erworben hatte.
«Gleichfalls interessant würde es mir seyn, wenn Sie sich die, in Rücksicht meiner Sehnsucht denkbare, Mühe nehmen und mir in einem kurzen Abriß die Hauptepochen Ihres Lebens von Ihrem Weggang von unsrer damahligen Schule an bis jetzt entwerfen wollten, besonders Ihre Ankunft und Ihr Emporkommen in dem romantischsten Lande der Welt, in der Schweiz. Ich bedarf würklich solcher erhebenden Freude, wie mir Ihr Schreiben mit solchem Inhalt machen würde, da mein Leben anjetzt das trübste ist.»253
Der Name seines Lehrers musste Zschokke noch geläufig sein, als er «Eine Selbstschau» verfasste. Wehrhahns Sohn Otto Friedrich (1795–1860), ebenfalls Pfarrer, besuchte ihn nämlich 1839 in der «Blumenhalde» und übernachtete vielleicht sogar dort.254 Es war wohl Rücksichtsnahme, dass Zschokke seinen Namen nicht nannte, da er Wehrhan nur als Zerrbild auftreten liess. Auch Rektor Neide erinnerte sich übrigens gern an Zschokke und wünschte sich gelegentlich Nachrichten von ihm, wenn er nach Magdeburg schreibe.255
So schlimm kann für Zschokke die Altstädter Schule und der Umgang mit den Lehrern und Mitschülern also nicht gewesen sein, und wenn er einen Leidensdruck spürte, so kam er aus einer anderen Richtung, aus privaten Konflikten oder seinen Versuchen, sich als Dichter in Szene zu setzen. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen», wo die Affäre mit der Fledermaus keine Erwähnung findet, werden zwei Gründe für seine wachsende Unzufriedenheit genannt. Erstens seien von seinen Mitschülern «neben und unter ihm» schon einige auf die Universität gegangen. «Ihm ward es, wegen zu großer Jugend, nicht erlaubt.»256 Es war zum Teil also Ehrgeiz oder Ungeduld, was ihn dazu trieb, sich von der Schule wegzuwünschen und «in Freiheit zu setzen». Zweitens habe er in den vorangegangenen Jahren alles Mögliche durcheinander gelesen: «Heut Swedenborg, morgen Spinoza, Albertus Magnus und die flagella daemonum neben Plutarch und Plato; und Lohenstein und Broke neben Ossian, Shakespeare und Schiller.»257 In «Eine Selbstschau» schilderte er eindringlich, wie ihn die «Masse sich widersprechender Lehren und Meynungen», all sein Wissen «ins Chaos von Ungewißheiten» geführt hatte.258 Er registrierte eine «muthlose Abspannung», die er auf das nächtelange Lesen und seine sitzende Lebensweise zurückführte. Er habe sich von seinen Mitschülern und Freunden zurückgezogen; Kallenbach blieb am Schluss sein einziger Umgang.259 Zschokke notierte: «In düsterer Verachtung des Lebens, der Welt und seines Selbstes stand er dem Untergang nahe; instinktartig sehnte er sich hinweg aus dieser Qual, ins Weite, ins Freie, in andere Umgebungen hinaus.»260
Vielleicht kann man es auch nüchterner sehen: Er hatte Magdeburg satt, genug von den engen, ihn beengenden Verhältnissen, genug von mäkelnden Verwandten, missgünstigen Schülern, der kränkenden Zurückweisung durch Menschen, auf deren Urteil er Wert legte. Er hatte Geldsorgen, Schulden angehäuft, sich durch Betrügereien und Lügen in Verruf gebracht. All dem wollte er entrinnen. Er ging also zu Ziegener, dem Vormund, der sich seine beredten Ausführungen, weshalb er zur Universität zu gehen beabsichtigte, mit unbewegtem Gesicht anhörte und entgegnete: «Universität? Ja, ja! dafür schlägt die Glocke wohl nach zwei Jahren noch zu früh für Dich!»261 Darauf habe er sich entschlossen wegzulaufen, ohne den Segen seiner Familie und ohne das Geld, das ihm aus der Erbschaft noch zustand. Er war sich bewusst, dass seine Flucht den schlechten Ruf, den er in Magdeburg hatte, festigen würde.