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EINLEITUNG: ZUR ZSCHOKKE-LITERATUR

Keine Frage: Zschokke war ein herausragender Publizist, Volksschriftsteller und Volkserzieher. Ein Mensch von universeller Bildung, mit einem breiten Spektrum an Kenntnissen und Erfahrungen, dessen Rat und Nähe in den unterschiedlichsten Angelegenheiten gesucht wurde. Er war eine Berühmtheit schon zu Lebenszeit, wovon zahlreiche Ehrungen ein beredtes Zeugnis ablegen. Seine Schriften gehörten zu den meistgelesenen im deutschen Sprachraum. Es ist nicht verwunderlich, dass man sich schon früh für sein Leben zu interessieren begann. 1819 erhielt er seinen ersten Eintrag im Konversationslexikon von Brockhaus1 und 1824 erschien sein Lebensabriss im «Rheinischen Taschenbuch». Zschokke selbst hatte dazu eine knappe Skizze beigetragen, dennoch sah er sich nicht adäquat dargestellt; vor allem die Beweihräucherung brachte ihn in Verlegenheit.2

Seinen «Ausgewählten Schriften», die sein Verleger seit 1825 herausgab,3 stellte Zschokke die «Lebensgeschichtlichen Umrisse» voran,4 worin er erstmals seinen Werdegang in einiger Breite darlegte und sich zu seiner Kindheit äusserte. Da sie in Eile entstanden – vom Konzept bis zum Druck der ersten drei Bände seiner Werke vergingen nur wenige Monate –, sind sie nur von begrenztem historischem Wert. Sie bestechen aber durch die Intensität, mit der Zschokke Ereignisse, Schicksalsschläge und Gemütslagen schildert: seine frühe Verwaisung, das Gefühl, ungeliebt zu sein und verkannt zu werden, die zunehmende Vereinsamung, Misserfolge in der Schule, Herausbildung einer starken Einbildungskraft, Träume von Reisen und Abenteuern, unersättlicher Lesehunger verbunden mit Wissensdurst, eine sich verdüsternde Stimmung, die in Schwermut überging.

Der inneren und äusseren Beengung entkam er, indem er mit 16 Jahren von zu Hause floh und beschloss, sich aus eigener Kraft durch die Welt zu schlagen. Er wurde Hauslehrer in Schwerin, zog mit Schauspielern als Theaterdichter durch die Gegend, holte autodidaktisch den Abiturstoff nach und schrieb sich in Frankfurt (Oder) an der Viadrina als Theologiestudent ein, mit dem Ziel, ein Universalgelehrter zu werden. Nach zwei Jahren erwarb er den Titel eines Doktors der Philosophie und das Recht, in Preussen zu predigen, stieg in Magdeburg auf die Kanzel jener Kirche, in der er getauft und konfirmiert worden war, und wurde wegen einer einzigen fehlenden Stimme nicht zum Pfarrer gewählt. Zurück in Frankfurt hielt er an der theologischen Fakultät philosophische und theologische Vorlesungen. Da ihm jedoch eine Professur versagt wurde, entschloss er sich zu einer Europareise. Er blieb in der Schweiz hängen und leitete in Graubünden eine Lehranstalt, von wo er fliehen musste, als er sich zu sehr politisch engagierte.

In der durch eine Revolution und Frankreichs Militärmacht entstandenen Helvetischen Republik wurde er als Beamter in die Innerschweiz, ins Tessin und nach Basel geschickt, trat aber von seinem Amt zurück, weil ihm die politische Richtung nicht mehr gefiel. Er liess sich im Aargau nieder, wo er eine Anstellung im Forst- und Bergwesen fand, heiratete und gab eine Volkszeitung heraus, den «aufrichtigen und wohlerfahrnen Schweizerboten». Der vom Schicksal Umhergetriebene kam hier zur Ruhe und übernahm verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten, um dem neuen Vaterland zu danken, das ihm eine Heimstatt geboten hatte. Er arbeitete an verschiedenen Zeitschriften mit, von denen er einige selber leitete, schrieb eine Geschichte Bayerns und der Schweiz und zur Erholung leichte Erzählungen. So stellte Zschokke sich selber dar. Seine zweite Autobiografie, «Eine Selbstschau» von 1842, rückt das Bild des einsamen Träumers und Stubenhockers zurecht, ist aber in der gleichen Art verfasst wie die erste.5 Auf nur 22 von 358 Seiten wird hier die Kindheit in Magdeburg abgehandelt.

Andere Zeugnisse aus den ersten 18 Jahren von Zschokkes Leben besitzen wir kaum. 1785 lernte der Stuhlmacher Andreas Gottfried Behrendsen Zschokke kennen und verfolgte auch später mit Anteilnahme sein Schicksal. Frucht davon waren ein lebenslanger Briefwechsel und einige Anekdoten, die Behrendsen in seinen Notizen festhielt.6 Carl Günter hat diese Notizen 1918 für seine Dissertation zu Heinrich Zschokkes Jugend- und Bildungsjahren noch benutzen können;7 seither sind sie verschollen. Die aufschlussreichen Briefe Behrendsens hatte Zschokke bis auf drei vernichtet, wie leider die meisten Briefe seiner Magdeburger Verwandten und Bekannten.8

In der Entstehungsphase der «Selbstschau» erzählte Zschokke seinen heranwachsenden Söhnen weitere Anekdoten aus seiner Kindheit und Studienzeit. Sie sind als «Scenen aus Papas Jugendleben» in der handgeschriebenen Familienzeitung «Der Blumenhaldner» enthalten.9 Bei Besuchen in Magdeburg während ihres Studiums in Berlin erfuhren die beiden ältesten Söhne Theodor und Emil Zschokke von Verwandten mehr über die Kindheit ihres Vaters. Gottlieb Lemme (1769–1831), Zschokkes Ziehbruder und Spielgefährte, führte sie in Magdeburg herum und zeigte ihnen das Geburtshaus und die Stätten gemeinsamer Erlebnisse. Die jüngste und einzige noch lebende Schwester Zschokkes, die verwitwete Christiana Catharina Genthe (1765–1837), erzählte ihnen, was sie von Zschokke noch wusste, und Theodor berichtete darüber in einem Brief.10 Emil, der länger in Magdeburg verweilte, um in der Kirche seines Vaters, der St. Katharinenkirche, zu predigen,11 ärgerte sich nachträglich darüber, dass er es unterlassen hatte, sich das Elternhaus an der Schrotdorferstrasse näher anzusehen.12

Mehrmals stand ein Zeitfenster offen, um Näheres über Zschokkes Kindheit zu erfahren. Das erste und längste Fenster liess Zschokke selber verstreichen, da er sich bei Verwandten oder Bekannten nie nachdrücklich über seine Eltern erkundigte, selbst als ihm klar wurde, dass er sein Leben beschreiben würde. Als seine Geschwister und die meisten gleichaltrigen Verwandten oder Freunde schliesslich gestorben waren oder kein Kontakt mehr bestand, war es zu spät. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Zschokke absichtlich mit der «Selbstschau» zuwartete, bis alle Zeugen verschwunden waren und er seine Entstehungsgeschichte unbelastet von widersprechenden Fakten und fremden Meinungen selber schreiben konnte. Eigentlich sollte sie erst nach seinem Tod erscheinen und war darauf angelegt, den Kindern und Enkeln seine innere und religiöse Entwicklung zu enthüllen. Sie gab erstmals das Geheimnis preis, dass er alleiniger Autor des so erfolgreichen Erbauungswerks «Stunden der Andacht» war, und erklärte den weltanschaulichen, religiösen und psychologischen Hintergrund dieses Werks.13

«Eine Selbstschau» ist ein Zeugnis von Zschokkes persönlichem Reifen, Lernen und Irren, seinem unermüdlichen, engagierten Handeln, dem unerschütterlichen, von tiefem Humanismus geprägten Glauben an den Fortschritt und die Zukunft der Menschheit und seinem sachverständigen staatsmännischen Urteil. Darüber hinaus ist sie eine packend geschriebene, gut aufgebaute und effektvoll gestaltete politische Zeitgeschichte. Immer wieder tritt das persönliche Leben hinter die Schilderung der politischen, sozialen und kulturellen Geschehnisse zurück.

Die «Selbstschau» wurde von vielen Zeitgenossen begeistert begrüsst. Man lernte Zschokke als Vertreter liberaler Ideen und Visionen kennen und schätzen, als Vordenker von Religionstoleranz, als Philosoph, Theologe, Kosmopolit, Politiker, Menschenfreund und Volkspädagoge.

Nach 1842 fühlte sich kaum jemand mehr berufen, Zschokkes Leben unabhängig von der «Selbstschau» zu beschreiben, obwohl die ersten 20 Jahre in Magdeburg, Schwerin, Prenzlau und Landsberg an der Warthe nur sehr kurz behandelt wurden. Die thematische Gliederung, welche die persönliche Geschichte in der Entwicklungs-, der politischen und Kulturgeschichte aufgehen lässt und die Wahrheitssuche betont, musste aber den Verdacht wecken, dass sie ihrer Schlüssigkeit wegen das eine im Hinblick auf das andere teilweise verzerrte oder begradigte.

Bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts blieb «Eine Selbstschau» letzte Referenz und gültige Darstellung des Lebens eines Mannes, der an der Wiege der modernen schweizerischen Demokratie stand und seine Wahlheimat bis zur Gründung des Bundesstaats von 1848 nachhaltig beeinflusste und kommentierte. Friedrich Wilhelm Genthe, sein Neffe, schrieb schon 1850: «Seit Heinrich Zschokke in seiner Selbstschau den zahlreichen Freunden und Verehrern, so wie auch den blos neugierigen Lesern, ein Gemälde seines äußern Lebens, eine Schilderung davon gegeben hat, wie das Schicksal es anders wollte als der Mensch, ist es überflüssig, wenn ein anderer noch über die Lebensschicksale dieses Mannes schreiben will.»14

Wo nicht explizit erwähnt, zitierte oder paraphrasierte man fortan aus «Eine Selbstschau». Das ist mehr oder weniger bis heute so geblieben und liegt nicht zuletzt daran, dass sie uns noch jetzt persönlich nahegeht und in den Bann zieht. Es war verdienstvoll und berechtigt, dass der Zürcher Germanist Rémy Charbon sie 1976 neu herausgab. So war dieses Buch, das wie kaum ein anderes in einer persönlichen Lebensgeschichte die Transformation der Welt des 18. Jahrhunderts zur Moderne spiegelt, nach langer Zeit wieder greifbar.

Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Zschokkes Gesamtwerk zum eisernen Bestand der deutschsprachigen Literatur und war sein Name als Dichter humorvoller Erzählungen und historischer Romane, als Autor einer populären Schweizer Geschichte und der mehrbändigen «Stunden der Andacht» im Bewusstsein der Menschen verankert. Zu Lebzeiten galt er als einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten deutschen Schriftsteller. Hätte es den Literaturnobelpreis damals schon gegeben, so wäre er wohl ein Anwärter gewesen; «Eine Selbstschau» wurde bisweilen sogar Goethes «Dichtung und Wahrheit» vorgezogen, weil sie die Zeitgeschichte stärker einbezog als jene.

Wer sich der Mühe unterzieht, Zschokkes belletristisches, lyrisches und essayistisches Werk aufmerksam zu lesen, findet immer wieder Stellen, an denen er innere Spannungen, philosophische, weltanschauliche und politische Fragen aufarbeitete, die ihn damals stark beschäftigten. Was dem Germanisten oft als ein rotes Tuch erscheint, ist für den Biografen absolut notwendig: das dichterische Werk biografisch auszuwerten.

Wenn im Folgenden mit der «Selbstschau» eher kritisch umgegangen wird, dann nicht, um ihren literarischen Wert zu schmälern, sondern weil Zschokkes Faktentreue fragwürdig war. Der Biograf des 21. Jahrhunderts kann sich nicht mehr auf sie stützen; er muss alle erreichbaren Informationen einbeziehen und stösst dabei auf bedenkliche Ungenauigkeiten und Irrtümer. Hätte Zschokke ein Tagebuch hinterlassen, das er nach eigenen Angaben seit dem zwölften Lebensjahr regelmässig führte,15 so wäre es vielleicht nicht nötig, ständig auf seine Autobiografie zu rekurrieren. Man könnte sie als dichterisches Werk bestehen lassen, als farbige Schilderung von Erlebnissen, Befindlichkeiten, Lebensumständen und Betrachtungen, und müsste sie nur ergänzend für biografische Angaben heranziehen. Ohne ergiebige andere Dokumente ist sie jedoch die Hauptquelle für Zschokkes Leben, besonders für die Kindheit und Wanderjahre, die Studenten- und Dozentenzeit in Frankfurt (Oder). Erst mit der Reise in die Schweiz, im Mai 1795, sind wir nicht mehr oder nur noch teilweise auf sie angewiesen.

«Eine Selbstschau» mag ein glänzend geschriebenes Psychogramm sein, eine in sich stimmige Entwicklungsgeschichte, ein Memoiren- und Geschichtswerk von hohem Rang, sie ist aber auch ein Zurechtrücken der Vergangenheit mit pädagogischen und philosophischen Absichten. Die naive Sicht auf «Eine Selbstschau» als wirklichkeitsnahe Lebensbeschreibung änderte sich erst, als Hans Bodmer 1910 in Berlin «Zschokkes Werke in zwölf Teilen» erscheinen liess16 und «Eine Selbstschau» nach der vierten, noch von Zschokke autorisierten Auflage von 1849 wiedergab. Erstmals stellte jemand die falschen Zeitangaben und Eigennamen richtig. Bodmer holte Erkundigungen im Stadtarchiv Magdeburg und im Archiv der St. Katharinenkirche ein, erschloss weitere Quellen und griff auch auf den Bestand des Familienarchivs in Aarau, das sogenannte Zschokke-Stübchen, zurück.17 Selbst Briefe und Aktenstücke seien von Zschokke «keineswegs in authentischer Form, sondern stets mit kleineren und größeren, ganz willkürlichen Veränderungen» zitiert worden, stellte Bodmer ernüchtert fest.18 «Eine Selbstschau» war nicht mehr sakrosankt. Damit war die Zeit gekommen, Zschokkes Lebensgeschichte zu überarbeiten oder gar neu zu deuten.

Einen weiteren bedeutenden Schritt machte etwa zur gleichen Zeit Alfred Rosenbaum, der für die 2. Auflage von Karl Goedekes «Grundriß der Geschichte der deutschen Dichtung» alles zusammentrug und auf 56 eng beschriebenen Seiten aufführte, was von und über Zschokke in Buchform, Broschüren oder Zeitschriften erschienen war,19 darunter auch, was Zschokke als seine «Jugendsünden» bezeichnete und woran er nicht mehr erinnert werden wollte: sein dichterisches Werk vor seinem 25. Lebensjahr.20 Zwar hatte schon 1850 sein Neffe Genthe, notabene gegen Zschokkes Willen, eine solche Zusammenstellung versucht,21 aber nur sehr lückenhaft. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Rosenbaum die bereitwillige Unterstützung der Familie Zschokke in Aarau in Anspruch nehmen konnte, die das ganze Schrifttum von und über ihren Ahnvater sammelte.

Aber selbst Goedekes Grundriss war nicht vollständig: Es fehlen die meisten kleineren Arbeiten Zschokkes, seine Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften, seine Reden, handschriftlichen Gutachten und Berichte als Beamter der Helvetik, im Forst- und Bergwesen, als Tagsatzungsgesandter, Grossratsmitglied und Mitglied zahlreicher Kommissionen und privater Gesellschaften, die meisten seiner Gedichte, die Kompositionen und, was die Sekundärliteratur betrifft, die Zeitungsartikel, soweit es sich nicht um Rezensionen handelte. Weiterhin ist die Arbeit Rosenbaums und seiner Nachfolger für die Zschokke-Forschung unentbehrlich, aber seither wurden einige neue, grössere Werke Zschokkes entdeckt, so durch Carl Günther und neuerdings den Heidelberger Bücherforscher Adrian Braunbehrens zwei Erstlingsromane.22 Es wäre also an der Zeit, das Literaturverzeichnis auf den neusten Stand zu bringen, sich vielleicht auch um eine textkritische Neuausgabe seiner Werke zu bemühen.

In der Nachfolge Bodmers und Rosenbaums begannen auch Mitglieder der Familie Zschokke, die über die bedeutendste Materialsammlung zu Zschokke verfügte, einen Beitrag an die Revision seiner Lebensgeschichte zu leisten. Eine eigentliche Pionierarbeit erbrachte Carl Günther (1890–1956), als er während des Ersten Weltkriegs für seine Dissertation über «Heinrich Zschokkes Jugend- und Bildungsjahre» unabhängig von der «Selbstschau» Nachforschungen betrieb und allen noch zugänglichen Spuren nachging.23 Bald stellte auch er fest, dass die «Selbstschau» viele falsche und irreführende Aussagen enthielt, und kommentierte dies so: «Zschokke vermochte sich nicht mehr genau aller Daten zu erinnern, seine Phantasie hatte, was ihm noch gegenwärtig war, umgearbeitet, die Forderung einer streng historischen Darstellung war ihm fremd: so rekonstruierte er sein Leben, unbekümmert darum, ob die Rekonstruktion auch überall der geschichtlichen Wirklichkeit entspreche. Dass aber irgendwo bewusste Fälschung vorliege, ist nicht wahrscheinlich.»24

Günther benutzte alle ihm zugänglichen Archive, wo er Dokumente vermutete, las, wie schon Hans Bodmer vor ihm, was Zschokke geschrieben hatte oder was über ihn erschienen war. Er benutzte dazu auch die reichhaltige Sammlung seines Onkels Ernst Zschokke (1864–1937) in Aarau, der sich in der Nachfolge von Emil Zschokke, seinem Grossvater, als Sachwalter von Heinrich Zschokkes schriftlichem Nachlass sah. Günther war zudem vertraut mit dem in Aarau liegenden Briefwechsel Zschokkes und stand in Korrespondenz und im Austausch mit privaten Sammlern von Zschokkiana, Nachfahren von Freunden oder Verwandten Zschokkes und mit Lokalhistorikern.25

Auch Günther hatte ein Zeitfenster der Zschokkeforschung zur Verfügung und ging wohl davon aus, dass andere seine Schilderung über das Jahr 1798 hinaus weiterführen würden. Wie jeder Forscher hoffte er, mit seiner Arbeit einen Stein ins Rollen gebracht zu haben und zu weiteren Studien anzuregen. Tatsächlich übernahm Helmut Zschokke (1908–1978), Nachkomme aus einem anderen Zweig der zahlreichen Familie, die Aufgabe, das fast unüberschaubare Material der Helvetik in öffentlichen und privaten Archiven zu sichten und die Jahre 1798 bis 1801 zu beschreiben.26 Die Herausgabe seiner umfangreichen und fast fertig gestellten Dissertation wurde vereitelt, als er wegen seines Engagements im spanischen Bürgerkrieg 1938 in der Schweiz zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt und von der Universität Zürich relegiert wurde.

Carl Günthers Zeitfenster ging gegen das Ende des Zweiten Weltkriegs zu. Verschiedene Privatnachlässe aus Deutschland sind seither verschollen, Kirchen-, Stadt- und Staatsarchive teilweise vernichtet und Bücher, Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr auffindbar. Besonders schmerzlich ist die Lücke im Stadtarchiv Magdeburg, wo die «Alten Akten» mit den Anfangsbuchstaben A bis O fehlen, oder in der Königlichen Staatsbibliothek Breslau (heute Wrocław), mit deren Vernichtung auch die Dokumente der Universität Frankfurt (Oder) untergingen.

Zum Glück rollte der Magdeburger Genealoge Willi Bluhme in der Zwischenkriegszeit die Familiengeschichte Zschokkes anhand von Bürgermatrikeln und Kirchenbucheintragungen auf,27 so dass wir in Ermangelung der Originalakten einen kleinen eisernen Bestand gesicherter Daten über Zschokkes Vorfahren und Magdeburger Verwandte besitzen. Der Zschokke-Biograf nutzt sie ebenso dankbar wie alles, was Carl Günther vor 95 Jahren fand und in seiner Dissertation auswertete.

Im Übergang zum neuen Jahrtausend hat sich zum Glück ein neues Fenster geöffnet: Von 1990 bis 2000 nahm sich die Zschokke-Briefforschungsstelle in Bayreuth unter der Leitung der Professoren Robert Hinderling und Rémy Charbon und im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) des Briefwechsels von Zschokke an, den sie systematisch und weltweit sammelte und damit das Korpus der bekannten Briefe auf über 6000 Einheiten erweiterte. Einige wesentliche Schweizer Bestände, auf die Günther noch nicht zurückgreifen konnte, stehen nun ebenfalls zur Verfügung: das ausgedehnte Archiv des Sauerländer-Verlags (jetzt im Staatsarchiv des Kantons Aargau) und der schriftliche Nachlass der Familie Tscharner im Staatsarchiv des Kantons Graubünden, um nur zwei zu nennen. Ohne sie und zahlreiche Dokumente und Hinweise aus anderen Archiven und Bibliotheken, von Bekannten und Mitgliedern der Familie Zschokke, ohne den Schweizerischen Nationalfonds, der während sechs Jahren die Edition von Teilen des Zschokke-Briefwechsels ermöglichte, und ohne die Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel und zahlreicher anderer privater und öffentlicher Geldgeber wäre die Biografie nicht in dieser Reichhaltigkeit möglich gewesen.

Die Gründung der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft im Frühjahr 2000 schuf die Voraussetzung, um die Forschungen zu Zschokke weiter voranzutreiben, zu vertiefen und den meisten Spuren nachzugehen. Als Folge davon entstanden in den vergangenen Jahren grössere und kleinere Publikationen, als deren Abschluss diese Zschokke-Biografie zu betrachten ist. Damit ist ein Etappenziel erreicht, aber noch kein Ende; es ist zu wünschen, dass diese Publikation die Zschokke-Forschung auf einer breiteren Basis anregt und vielleicht auch das eine oder andere Ergebnis hinzufügt, neu deutet oder relativiert. Der Verfasser betrachtet seine Biografie als eine Annäherung an sein Thema.

Heinrich Zschokke 1771-1848

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