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Gespräch über Depression
ОглавлениеIch habe eine Depression.
Weißt du, was das ist?
Nein. Aber ich habe eine.
Das äußert sich wie?
Es war alles scheiße, Talmi, Illusion.
Du wirst Mühe haben, das durchgehend zu beweisen.
Ich unterziehe mich der Mühe.
Bitte. Du hast eine abgeschlossene Schulbildung, in Österreich Matura genannt.
Das ist ja schon der erste Skandal. Wie kann einer ein Realgymnasium, also kein humanistisches, abschließen, der nicht weiß, nicht gewusst hat, warum am anderen Ende des Telefons eine Stimme herauskommt, was ein Generator ist, der nie begreifen wird, warum Motorräder in der Kurve nicht umfallen, der genau besehen nicht dividieren kann, jedenfalls nicht mehrstellig, oder einen Computer nicht anzutasten wagt, aus Angst, er könnte sich elektrisieren?
Das war eine Frage. Die Antwort lautet: Du hast geschwindelt, geblufft und auch Sympathie und Mitleid erregt. Das sind Qualitäten.
Ich finde es unlauter, sich so zu trösten.
Damit stellst du das gesamte Menschengeschlecht infrage. Aber das ist wahrscheinlich Kern jeder Depression. Du hast neben der Schule schon als Journalist gearbeitet.
Damals konnten die jeden brauchen, der einen ganzen Satz bilden konnte. Heute würde ich die Zeitung allenfalls austragen.
Die »Heute würde ich«-Sätze sind Unsinn, das weißt du. So groß kann keine Depression sein, dass man das vergessen kann. Und dann sage ich dir eines: Wenn du heute die Zeitung austragen würdest, dann weil du einen ganzen Satz bilden kannst.
Billiger Scherz. Um den warst du nie verlegen.
Du hast studiert, warst mit 22 Jahren Doktor der Philosophie.
Diese Tatsache hält doch keiner ernsthaften Analyse stand. Das Studium der Publizistik hieß damals noch Zeitungswissenschaft und war eine Farce. Ein Professor Sowieso hat vier Jahre lang die identische Vorlesung über »öffentliche Meinung« gehalten, was niemandem auffallen konnte, da der Mann das Institut nie betreten hat. Ich weiß nicht einmal, wie der ausgesehen hätte, wäre er je erschienen. Seine Vorlesung hat eine Frau Professor gehalten, und die hat über »öffentliche Meinung« kein Wort verloren, sondern nur über kindische Zeitungsgeschichte. Andere Fächer waren mit Gescheiterten aus der dritten Garnitur besetzt.
Das ist ein Grund für Amüsement, nicht für Depression.
Na und das »Doktorat«. Da war ein Rigorosum zu bestehen. Die Frau Professor war der Meinung, ich hätte nicht die Qualifikation, mich dafür anzumelden, da sie wusste, ich könnte nicht genau sagen, welcher Mensch die erste in Wien erschienene Tageszeitung in welchem Jahr welchem seiner Söhne übergeben hätte. Jetzt wollte es der Zufall, dass der nie erschienene Institutsvorstand in Pension gegangen oder verschieden war und ein kommissarischer Professor, ein pensionierter Historiker, an seine Stelle trat. Nun konnte die Frau Professor mich nicht selbst prüfen und durchfallen lassen, sie musste vor der Türe bleiben, als ich zur Prüfung antrat.
Du warst annähernd vorbereitet.
Also ich hatte mich über den Umfang meines Nichtwissens informiert, habe mich also in der Lage gesehen, zu sagen, dass damals irgendetwas gedruckt wurde. Aber es geschah etwas Unerwartetes. Ein freundlicher alter Herr bat mich Platz zu nehmen und fragte, durchaus interessiert: »Was halten Sie von Theaterkritik?«
Da warst du ja firm.
Zunächst ein wenig geplättet, weil das war nun eine total unerwartete Frage. Aber meine Reaktionszeit war kurz. Ich begann dem Mann zu erzählen, was ich von der Theaterkritik fordere, wünsche, was ich an ihr nicht mag, ich hatte meinen Jacobsohn, meinen Jhering, meinen Polgar, meinen Weigel gelesen. Ich redete, bis er aufstand, zur Tür ging und der draußen wartenden Frau Professor sagte: »Ich wünsche mir, dass Sie mir öfter solche Kandidaten vorstellen.«
Ein Triumph.
Wenn ich an das Gesicht der Dame denke, schon. Aber hier ging es doch um eine akademische Weihe. Ich hatte als Nebenfach Kunstgeschichte. Da sagte der Professor, nachdem meine Ausführungen über die Gotik immer redundanter wurden: »Also hören wir lieber auf, bevor’s noch schlechter wird.«
Finde ich unglaublich fair.
Das Ärgste war das Philosophikum. Man wollte ja Dr. phil. werden, da gehörte das dazu. Ich hatte das Institut vorher nie betreten, als ich dort hinging, um mir dicke, wohl von Absolventen angefertigte, gebundene Skripten zu kaufen, die den Stoff des Prüfers, eines, wie man mir sagte, katholischen Philosophen, bündelten. Es handelte sich um vier Bände: Logik, Logistik und drei und vier weiß ich nicht mehr. Das hängt damit zusammen, dass mein Versuch, irgendetwas von den Bänden drei und vier zu verstehen, im Ansatz scheiterte. Ich las mich in die Logik ein, versuchte auch die Logistik, gab aber auf und trat zur Prüfung in dem vollen Bewusstsein an, jede Frage außerhalb der Logik würde zur Katastrophe führen.
Aber der Professor fragte in das Zentrum deines Wissens: Aristoteles.
Ja. Ich gab Auskunft. Und dann geschah wieder etwas, was mir die Sache unsäglich machte. Der Mann, der mich vor dieser Prüfung nie gesehen hatte, den ich vor dieser Prüfung nie gesehen hatte, sagte: »Warum haben Sie nicht immer so gearbeitet, Herr Kollege?«
Er hat dich verwechselt.
Ich glaube eher, er war senil.
Beim Psychologen hast du aber was gewusst.
Beim zweiten Mal. Beim ersten Mal hat er mich mit dem beschämenden Satz »So leicht darf man sich ein Doktorat nicht machen«, hinauskomplimentiert. Danach habe ich sein Buch doch genauer gelesen und festgestellt, dass da viele Dinge drinstanden, die unser Philosophieprofessor am Gymnasium uns schon beigebracht hatte.
Du musst dich deines Titels nicht schämen, du hast eine sehr gute Dissertation geschrieben.
Lass sie einen guten Essay sein. Aber der Anspruch an eine Dissertation, wissenschaftlich sein zu müssen, ist doch in keiner Weise erfüllt.
Das hängt mit dem Studium zusammen, mit dessen Zustand damals, da kannst du nichts dafür.
Aber die Erinnerung deprimiert. Oder wenn ich an meine Tätigkeiten während des Studiums denke …
Du meinst dein Kurzgastspiel bei der »Presse«.
Ja, bei der »Die Presse«. Die hatten ein Volontariat frei. Hätte ich denen gefallen, hätte ich das Studium nicht so rasch erledigt. Aber ich habe kein Bein auf die Erde gebracht. Die Provinzausbildung hat da nicht gereicht.
Man hat manchmal Glück.
Die »Wiener Zeitung« hat mich als freien Mitarbeiter gelegentlich für Reportagen eingesetzt.
Du wurdest doch noch während des Studiums gut bezahlter Werbetexter.
Das war der Tiefpunkt. Am Institut haben sie mir gesagt, eine bedeutende Auto- und Fahrzeugfirma würde einen Texter brauchen. Ich hatte kein Geld. Weihnachten stand vor der Tür. Ich habe mir gedacht: Mach die drei Probemonate, da kannst du Weihnachtsgeschenke kaufen, und dann haust du wieder ab.
Du hattest großen Erfolg. Es wurden zweieinhalb Jahre.
Erfolg? Es gab ja nichts zu tun! Hie und da ein Prospekttext, hie und da ein Inserat, ein Slogan. Wenn ich, über die ganze Zeit aufgeteilt, täglich eine halbe Stunde gearbeitet habe, war es viel. Aber ich war den ganzen Tag da. Beschämend. Ich habe während der Dienstzeit mit einem Kollegen Karten gespielt. Poker. Ich habe Unsummen verloren. Er war Falschspieler. Als ich ihn drauf angesprochen habe, hat er es zugegeben. Ich habe ihn dann ersucht, mir was beizubringen. Er hat sich geweigert. Er hat gesagt, er traut mir nicht zu, die Sachen monatelang vor dem Spiegel zu üben.
Du hast dir deinen Lebenstraum erfüllt. Du gingst zum Theater. Als Dramaturg und Autor. Nach Salzburg.
Nicht als Dramaturg. Die Planstelle war schon an eine Frau vergeben. Ich war »Chefdisponent«. Ich habe nur die Dramaturgenarbeit gemacht. Und Autor? Sie hatten ein Theaterstück von mir angenommen und auch uraufgeführt. Der Riesenerfolg hat mich veranlasst, zu glauben, aus mir wird ein großer Stückeschreiber.
Du wurdest als Chefdramaturg nach Linz geholt.
Das schlimmste Jahr meines Lebens. Schon die Vorgeschichte. Die Salzburger gingen nach Braunschweig. Und engagierten als Chefdramaturgen einen bekannten deutschen Reisekritiker, der die Theater erpresste, seine Kindermärchen aufzuführen. Die waren also froh, mich loszuwerden. Nach Linz wurde ich geholt von einem aus einem Dreierdirektorium, dem Opernmann. Dem war aufgefallen, dass das Salzburger Theater dauernd in den Zeitungen stand. Pressearbeit, das konnte ich. Der Operndirektor war aber Todfeind des Schauspieldirektors und drückte mich dem aufs Auge. Der aber wollte die ganze Intendanz, und ich war sozusagen der Mann seines Rivalen. Der Zustand war unerträglich. Ich verzichtete auf das zweite Vertragsjahr. Und stand auf der Straße.
Unsinn. Du hast für Zeitungen geschrieben, für den Funk, du hast Funkregien gemacht, Lieder übersetzt, Musicalsongs. Du hast einen Industriefilm gedreht und …
… viel gemacht, was mir in bösen Träumen noch unterkommt.
Es ist dir nie schlecht gegangen.
Wirtschaftlich? Nein. Aber da war viel dabei, wo man hätte nachher unter die Dusche müssen.
Du warst nicht wehleidig.
Aus Trotz.
Es kam die Zeit, da bist du immer zwei Wochen im Monat nach München und hast in einer Film- und TV-Firma unter der Leitung des ehemaligen österreichischen Fernsehdirektors Gerhard Freund Drehbücher geschrieben, Serien …
…auch unter Pseudonym, wenn ich mich geschämt habe …
… auch große Geschichten. Das war doch eine tolle Zeit …
… in der sich mein Freund und Gönner von Aufsichtsratssitzung zu Aufsichtsratssitzung fürchtete, bis es vorbei war. Es war die Hölle. Noch dazu habe ich in München in Untermiete gewohnt. Es war alles sehr traurig.
Doch dann kam das Kabarett. Alles, was du gelernt hattest, konntest du unterbringen. An der Seite des Großmeisters Dieter Hildebrandt wurdest du über Nacht zum Star, hast dich in den ersten 22 Kabarettjahren dumm und dämlich verdient.
Mit Misserfolgen. Ich kann doch jetzt, mit 80, nicht herumgehen und dauernd sagen, das habe ich, das haben wir damals schon gesagt, und immer wieder, ich habe damit und damit und damit recht gehabt. Ich habe wirklich gehofft. Und jetzt stehen wir kurz vor einem globalen Crash. Das macht das, was du »Erfolg« nennst, auf das du so stolz bist, so namenlos bitter.
Jetzt wirst du unerträglich.
Weil ich eine Depression habe.
Na, wenn’s sonst nichts ist.