Читать книгу Der Tote im Schilf - Werner Siegert - Страница 3
Ein Toter im Schilf
ОглавлениеAus der Traum vom Ruhestand! dachte Hauptkommissar Lothar Velmond, der sich nach seiner letzten, sehr anstrengenden Ermittlung nicht nur auf einen geruhsamen Sonntagnachmittag, sondern auch auf den endlich verdienten Ruhestand eingestimmt hatte. Der Elysium-Fall war für ihn abgeschlossen. Die Beförderung ein kleiner, eigentlich zu später Dank. Nun war er schon wieder mit vielen Begleitfahrzeugen in Richtung Starnberger See unterwegs. Ein Toter im Schilf!
Wer weiß, wozu es gut war, grübelte er, dass im Laufe der gestrigen Nacht ein Eifersüchtiger ihm alle vier Reifen an seinem Peugeot mit einer spitzen Dreikantfeile zerstochen hatte. Säße er jetzt selbst am Steuer, geriete er in die Gefahr einzunicken. Und Peng gegen einen Baum! Den Täter hatten sie ja schnell erwischt. Einen Bauernsohn! Eifersüchtig! Auf ihn? Einen Sechzigjährigen! Sechzig plus sogar! Wegen der Annedore? So ein Quatsch! So etwas könnte sich nicht mal ein Roman-Autor ausdenken.
Ein Paddler hatte angerufen. Heute Mittag. Er hatte ein halb versoffenes Schlauchboot im Uferbereich zwischen Bernried und Seeseiten gesichtet. Im Schilf. Im Vogelschutzgebiet. Er wäre nur hin gerudert, um zu sehen, ob er helfen könne. Da habe er den Toten gesichtet und gleich von seinem Handy die Polizei angerufen. Er wolle im Café Seeseiten warten, aber nicht zu lange. Er müsse ja wieder zurück nach Bernried und pünktlich nach Hause zur Sportschau.
Die Uferstraßen sind an einem sonnigen Sonntag auch mit Blaulicht nicht gerade schnell zu durchfahren. Die Wasserpolizei hatte es da vermutlich besser. Sie war bereits von Starnberg mit voller Kraft voraus unterwegs. In die Schilfzone könne man jedoch nur mit einem Schlauchboot, und wegen des Vogelschutzgebietes nicht mit Motorgeräuschen, sagten die.
Alfred Kühnast, der Paddler, wartete schon ungeduldig in seinem kippligen Klepperboot, das auf den anlandenden Wellen tanzte. Er habe auch Fotos gemacht, rief er den Einsatzkräften zu, die nun ihrerseits drei Boote flott machten. Gleichzeitig wolle man von Land aus, soweit es möglich wäre, an den Fundort der Leiche heran fahren. GPS-geleitet. Für Lothar Velmond hatten sie eine Gummi-Überziehhose und Gummistiefel dabei. Darin kam er sich vor wie ein Hobby-Angler.
Ob der Tote etwas mit dem Elysium-Institut zu tun haben könnte, das ja - sein vorletzter Fall - nicht unweit lag und nun abgebrannt war? Dann könnte er die Akte immer noch nicht abschließen - eine schier unendliche Geschichte.
Sein Sprung in das schaukelnde Schlauchboot entbehrte jeglicher Sportlichkeit und Eleganz. Wenn ihn nicht zwei starke Arme gepackt hätten, wäre er wahrscheinlich rücklings ins Wasser gefallen. Der Paddler gab das Tempo vor. Na ja, von Tempo konnte keine Rede sein. Endlich gab er Zeichen nach links, also Backbord, wenn man schon mal auf See unterwegs war. Ein riesiger Schwarm Wasservögel aller Art erhob sich schwirrend, als sie näher an das havarierte Schlauchboot heran glitten. Die Kameras klickten. Die Kollegen von der Wasserpolizei waren auch gerade erst eingetroffen. Wegen der vielen Surfer und Segler mussten sie ihr Tempo drosseln. Jetzt verstummten die Motoren.
Es ist ein trauriges Privileg der Kriminaler und der Experten von der Pathologie, als erste von jeder grausamen Szenerie Kenntnis nehmen zu müssen. An der Wasserleiche gab es nicht mehr zu zweifeln. Ein junger Mann lag, nur mit schwarzer Badehose bekleidet, bäuchlings neben dem blauen Gummiboot Marke „Seagull Junior“ / Max. 500 kg zwischen Blättern und Schwemmgut im brackigen Wasser. Beide Hauptschläuche waren mutwillig zerfetzt worden. Im Boot erspähte Velmond mehrere Sektflaschen, davon zwei mit abgebrochenem Hals, zwei Chipstüten, eine große NORMA-Plastiktüte, vermutlich mit Kleidung, ein Bikini-Oberteil. Unter dem Boot, halb im Schilf, hatte sich eine Lederjacke verhakt. Daneben weitere Kleidungsstücke, eine Tasche, sicher noch ein paar Sachen, die im Schlick nicht erkennbar waren. Deutlich sichtbar wurde ein schmaler Pfad durch den Schilfgürtel. Während die Kollegen den Leichnam vorsichtig umdrehten, nahm Velmond allen Mut zusammen und ließ sich vom Randwulst des Polizeibootes ins Wasser gleiten. So konnte er die Schnittspuren im Gesicht und auf dem rechten Arm des Toten besser erkennen. Die offenbar wasserdichte Uhr war intakt. Von ihr konnte man nicht erfahren, wann es zur Katastrophe gekommen war. Velmond bewegte sich auf dem schlickigen, etwa einen Meter tiefen Seegrund nicht gerade graziös. Er segelte mit seinen Armen, als ob er über sich irgendwelche virtuellen Haltegriffe packen wollte. Ein Kollege kam ihm schnell zu Hilfe, ehe er strauchelte. Nachdem Velmond das Signal gegeben hatte, den Toten an Bord des zweiten Schlauchbootes zu hieven, und den zerfetzten „Seagull Junior“ ebenfalls behutsam mit dem gesamten Inhalt vorsichtig zu bergen, begab er sich Schrittchen für Schrittchen in die Schilfgasse. Viele Halme waren frisch abgeknickt. Rechts lag ein Paddel. Wo war das andere?
Ihm war klar: Es gab einen zweiten Mann oder eine zweite Frau, die hier an Land geflüchtet waren. Deshalb erhöhte Vorsicht, um keine Spuren zu zerstören. Der Pfad über die Schilfwurzeln durch den weißgelblichen Schlick schien kein Ende zu nehmen, da kam ihm zu seiner größten Überraschung ein schwarzer Hund entgegen. Noch ehe er „Rinaldo“ rufen konnte, sprang der schon an ihm hoch, erfreut, einem bekannten Menschen zu begegnen. Über und über beplanschte ihn der übermütige Labrador, bis er vom Ufer her zurückgerufen wurde.
Rinaldo hier? Dann müsse ja auch Kollege Maurice Elsterhorst eingetroffen sein, dessen Suchhund der schwarze Rinaldo seit dem Etrusker-Fall geworden war. Auf glitschigem Boden verharrend kramte Velmond nach seinem Handy und klickte mit lehmigen Fingern die eingespeicherte Nummer an.
„Hallo, Kollege Elsterhorst? Wo sind Sie?“
„Ich bin gerade eingetroffen. Den Versuch der Leute hier, vom Land aus an den Tatort zu gelangen, habe ich gerade noch stoppen können. Hier sind jede Menge Reifenspuren und Sohlenabdrücke. Die würden verloren gehen. Da müssen erst Gipsabformungen angefertigt werden. Übrigens parkt hier ein alter Golf mit Münchner Nummer. Nicht abgeschlossen. Ich lasse gerade den Fahrzeughalter ermitteln. Und wo sind Sie?“
„Im Schilf! Hier gibt es einen schmalen Pfad mit frischen Spuren. Abgeknickte Halme. Halt, ich sehe gerade, da liegt ein Knopf und Fasern dran. Ich taste mich jetzt in Richtung Ufer weiter voran. Wir treffen uns da!“
Der Kollege hinter ihm reichte Velmond das Sprechfunkgerät:
„Wir haben hier zwei weitere Plastiktüten mit Zeug gefunden. Sollen wir weiter suchen?“
„Ja, alles weiträumig absuchen. Hier liegt nur ein Stechpaddel. Es müsste ein zweites geben. Vielleicht sogar ein zweites Opfer; denn der Bikini gehört ja wohl nicht dem toten jungen Mann. Hauptkommissar Elsterhorst leitet jetzt den Einsatz von der Landseite! Roger!“
Als er das Gerät zurück gab, fasste er sich an den Kopf, so, als ob ihm gerade etwas ganz Wichtiges eingefallen war.
„Sagen Sie, Herr Kollege, ist Ihnen nicht auch aufgefallen, dass in dem Schlauchboot ziemlich viel Sand war? Hier gibt es keinen Sand! Der Tote und seine Begleiterin müssen vom anderen Ufer, vom Ostufer her gekommen sein. Möglicherweise vom ADAC-Strand. Da gibt es diesen feinen Sand. Also müssen wir so schnell wie möglich da hin. Vielleicht gibt es noch Zeugen, die was gesehen haben. Manche kampieren da ja auch über Nacht!“
Wieder nahm er Kontakt mit Elsterhorst auf. Er versuche jetzt, so schnell wie möglich festen Boden unter die Füße zu bekommen und sich dann ans Ostufer fahren zu lassen, um dort eventuell noch Zeugen zu finden, die gesehen haben könnten, wie der Bursche und wahrscheinlich auch seine Freundin von dort in den See hinausgefahren sind. Er, Elsterhorst, möge doch hier die Spuren sichern lassen und den Einsatz weiterhin leiten.
Auf seinem Weg zum Ufer fischte er noch ein paar Papiertaschentücher aus dem Schilf, brachte es aber nicht fertig, sie in die üblichen Plastiktütchen rutschen zu lassen. Dafür waren seine Hände zu nass und eingesaut.
Endlich, endlich kam eine Wiese in Sicht, und da sah er auch schon seinen Kollegen Elsterhorst, der Rinaldo wegen der brütenden Vögel an die Leine genommen hatte und jetzt beinahe umgerissen wurde. Rinaldo und Velmond mochten sich sehr. Mehr als sich die beiden Kollegen zugetan waren. So fiel auch deren Begrüßung knapp und dienstlich aus, zumal beide spontan auf ein Wiesenstück zu steuerten, wo völlig unverkennbar ein Mensch oder deren mehrere gelagert hatten: plattgedrücktes, stellenweise zerwühltes Gras, Zigarettenschachteln, ein von einer Kekspackung abgerissenes Stück dünne Pappe.
Elsterhorst, der noch „stadtfein“ daher kam, zog sich die Vinylhandschuhe über, hob alles auf und ließ es in die Tütchen gleiten.
„Halt! Da steht was drauf!“ Velmond griff nach dem Fundstück.
Mit erdigen Fingern hatte jemand „HELP“ darauf geschmiert.
„Kollege, das sieht ganz danach aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Das überlasse ich jetzt Ihnen. Ich lasse mich ganz schnell ans Ostufer fahren, ehe es ganz dunkel wird!“
Als Velmond zum Parkplatz kam, traf er dort - wenig überrascht - auf Judith Schwertfeger, die in ihrem Auto Musik hörte. Sie hatte also ihren Freund Elsterhorst hierher gebracht. Sie begrüßten sich wie alte Bekannte.
„Ich brauche ganz, ganz schnell jemanden, der mich zum Ostufer hinüber fährt!“
„Na klar, mache ich doch!“ Frau Schwertfeger hatte immer schon ein Auge auf Lothar Velmond geworfen, weil der soviel netter und aufmerksamer zu ihr war als der spröde Maurice. Er erwies sich halt stets als ein Kavalier der alten Schule.
Als sie nach der kurvenreichen, von vielen kleinen Kreuzen und flackernden Kerzen gesäumten Strecke über Seeshaupt endlich den ADAC-Parkplatz erreichten, war es schon sehr dämmrig. Velmond hatte kein Blaulicht mitgenommen, das sie hätten aufs Dach stellen können. So gab es Ärger, als er Frau Schwertfeger fast bis zum Strand durchfahren ließ.
Am Ufer hatten einige schon Feuerchen entzündet. Manche hatten sogar Fackeln dabei und Lampions. Velmond und Frau Schwertfeger schwärmten aus, um möglichst schnell möglichst viele der noch hier Lagernden zu befragen.
„Waren Sie gestern nachmittag auch hier? Ist Ihnen ein Pärchen aufgefallen, das mit einem dunkelblauen Schlauchboot Marke Seagull aufgebrochen ist? Mit drei großen Plastiktüten von NORMA? Und ganz schön viel Getränken?“
Auf der Fahrt hatten sie diese Fragen eingeübt. Falls jemand „Warum?“ fragen sollte, als Antwort: „Die beiden werden vermisst!“
„Fragen Sie doch mal beim Kiosk! Die werden vielleicht nicht den ganzen Proviant mitgebracht haben!“ Eine gute Anregung, jedoch hatte der Kiosk bereits geschlossen. Aber bei einer Gruppe junger Burschen kamen sie der Sache näher:
„Ja, die mit diesem komischen Gummiboot sind uns schon aufgefallen. Das Boot lag nämlich schon seit dem Vormittag an diesen Baum da, festgebunden. Als die beiden ankamen, na klar, die hatten solche NORMA-Tüten, da waren die ausgelassen, als hätten sie gerade das Abitur bestanden oder seien von zuhause ausgekniffen. Als erstes haben sie eine Flasche Sekt entkorkt, obwohl sie bereits ziemlich bekifft ausgesehen haben. Natürlich ging die Hälfte daneben, als der Korken rausflog. Es war ja warm und die Flasche sicher geschüttelt. Dann haben sie ihr Zeug in die Tüten verpackt. Ich schätze mal, die waren mit dem Motorrad da; denn er hatte so eine schwarze Motorrad-Lederjacke. Sie ist noch einkaufen gegangen und kam mit Chips und ner Flasche Wodka zurück. Dann haben sie alles in das Boot gepackt und sind weit rausgegangen, weil es ja hier sehr flach ist. Sie ist dann als Erste ins Boot, was ja gar nicht so leicht ist bei einem solchen Gummiboot. Er hat’s dann auch geschafft. Und was ist jetzt mit denen?“
„Die werden gesucht, werden vermisst!“
Inzwischen hatten sich andere Strandgäste um die Gruppe junger Männer versammelt. Eine junge Frau meinte, sie habe abends am anderen Ufer Lichtzeichen gesehen. Für Scheinwerfer von Autos sei es zu regelmäßig gewesen. „So kurz, kurz, lang, und wieder kurz, kurz, lang!“
Velmond zückte seinen Kripo-Ausweis und bat um die Adressen des auskunftsfreudigen Mannes und der jungen Frau. Vielleicht würde er nochmal mit ihnen Kontakt aufnehmen müssen.
„Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt - oder auffällt, hier ist meine Karte!“
Auf dem Parkplatz stand in der Tat ein einsames Motorrad mit Münchner Nummer, mit zwei angeketteten Helmen. Das Nummernschild war mit Draht provisorisch befestigt. Der TÜV abgelaufen. Mithilfe von zwei Tempotaschentüchern wischte Velmond die Schweißbänder von den Helmen für eventuelle DNA-Analysen ab. „Links hinten, rechts vorn!“ So wollte er sich merken, welches Tuch von welchem Helm stammt, als er die Tücher in seine Taschen versenkte. Links und hinten, da war jedes Mal ein i drin. Rechts vorn, da war ein r drin. So merkte er sich auch Steuerbord. Da ist ein e drin – also rechts. Backbord ohne e ist links.
Zurück am drüberen Einsatzort trafen sie ob der langen Wartezeit auf einen sehr ungnädigen Hauptkommissar Elsterhorst und einen überglücklichen Rinaldo. Ein Einsatzfahrzeug war noch zurück geblieben. Der Tatort war zu sichern, die Arbeiten längst nicht abgeschlossen. Eine wachsende Schar Neugieriger drohte, Spuren zu zertrampeln.
Velmond quetschte sich jetzt neben dem nassen und entsprechend duftenden Rinaldo auf die Rückbank von Judiths Auto. Elsterhorst vorn rechts war offenbar „not amused“, mit seinem Kollegen das Auto teilen zu müssen. Da schnurrte sein Handy.
„Herr Hauptkommissar, das Auto mit dem uns durchgegebenen Kennzeichen gehört unserem ehemaligen Kollegen Paul Krüner, und der wird seit gestern abend vermisst! In seiner Wohnung ist er nicht. Eine Bekannte von ihm, bei der er häufig zu Gast sein soll, war äußerst bestürzt, dass Krüner nicht erreichbar war. Auch auf seinem Handy nicht, von dem sie uns die Nummer verraten hatte.“