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Paul Krüner, Kriminalhauptkommissar i.R.

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Lothar Velmond ging zügig an die Arbeit. Bequemerweise begann er gleich im Hause. Gab es noch Kolleginnen und Kollegen, die mit Krüner zusammengearbeitet haben? Er musste herausfinden, was der Verschwundene für eine Persönlichkeit war, welche Verbindungen zu welchen gesellschaftlichen Gruppierungen er pflegte. Natürlich war es auch wichtig zu erfahren, welche Ganoven er hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, und welche eventuell jetzt gerade entlassen worden waren. Allerdings wäre er wohl nicht so dämlich gewesen, sich ausgerechnet in einem Vogelschutzgebiet am Starnberger See in eine Falle locken zu lassen. Das passte ja auch in keiner Weise zu dem Toten im Gummiboot.

Wer sich noch an Krüner erinnern konnte, und soweit er sich selbst an ihn zu erinnern vermochte, war sich darin einig, der ehemalige Kollege war überaus korrekt, ein hervorragender Kombinierer und Analyst, zumal er sich außerordentlich gut in andere Menschen hineinversetzen konnte. Frauen hielten ihn für „etwas zu kühl“, zu distanziert, nicht für einen Menschen, der ein freundschaftliches Betriebsklima um sich verbreiten konnte. Alle waren jedoch äußerst bestürzt, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.

„Dabei war er doch immer so vorsichtig, stets auf das Schlimmste gefasst. Der wäre nie in einen Hinterhalt geraten, Krüner nicht!“ urteilte eine Kommissarin, die jetzt im Rauschgift-Dezernat tätig war und meinte, viel von ihm gelernt zu haben. „Privat? Nein, in sein Privatleben hat er sich nie reinschauen lassen. Mit einem ‚Wie geht’s zuhause?’ oder gar ‚Wie leben Sie denn so?’ hätte man seine Missgunst erweckt. Ich glaube, niemand hier hat gewusst, wo und wie er wohnt. Im Telefonbuch steht er nicht.“

Überflüssig zu erwähnen, dass Krüners Telefonverbindungen in kurzen Abständen angerufen wurden. In den sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook oder Xing war er nicht zu finden. In Google traf man auf Namensvettern, aber nicht auf ihn. Im Netz hatte er jedenfalls keine Spuren hinterlassen.

Velmond bat Uta Möbius, ihn zu Krüners Wohnung zu begleiten, die er aus der Personalabteilung erfahren hatte. Sie lag in einem grauen Mietshaus in Mittersendling, im 3. Stock. Der Hausmeister kam gleich mit dem Schlüsselbund und war geradezu außer sich, als er hörte, Paul Krüner werde vermisst: „Er war immer sehr freundlich. Mit diesem Mieter hatte ich nie Probleme, all die vielen Jahre nicht. Er war ja viel unterwegs, viel auf Reisen. Dann habe ich die Post für ihn aus dem Kasten genommen. Der Herr Kriminalhauptkommissar ist weit herum gekommen!“

Das erstaunte allerdings Lothar Velmond; denn seine eigenen Dienstreisen waren doch auf einen relativ kleinen Radius begrenzt. Monaco - seinerzeit, als die reichen Damen spurlos verschwunden waren - das war wohl das Weiteste. Na ja, auch Pieš?any in der Slowakei.

Zunächst stellten die beiden mit großer Erleichterung fest, dass Krüner nicht irgendwo tot oder bewusstlos in seiner Wohnung lag. Es hätte ja sein können, dass ihm übel geworden sei oder er zuviel Alkohol im Blut gehabt habe, so dass er sich mit dem Taxi hätte nach Hause fahren lassen müssen. Alkohol, das erfuhren sie später, hat Krüner nie zu sich genommen. Er sei ein passionierter Wassertrinker gewesen.

Uta Möbius erwies dem Verschwundenen ein großes Kompliment: So blitzblank, so aufgeräumt und ordentlich, das sei für einen offenbar alleinlebenden Mann schon erstaunlich. Die Wäsche in den Schränken exakt geschichtet. Das Badezimmer blitzblank. In der Küche alles an seinem Fleck. Der Kühlschrank wohl gefüllt, auch mit frischer Vollmilch, also mit verderblichen Lebensmitteln, wie man - vor allem als korrekter Mensch - nie in seinem Kühlschrank zurücklassen würde, wenn man auf Reisen geht. Krüner hatte also fest damit gerechnet, nach Hause zu kommen.

Ein relativ alter PC mit voluminösem Monitor war passwortgeschützt. Der Aktenschrank blamierte jeden, der nicht mit ebensolcher Akkuratesse seine Ordner beschriftet, nummeriert und alphabetisch geordnet hineingestellt hat. Velmond hatte keine Befugnis zu einer Hausdurchsuchung. Auf dem Schreibtisch steckte in einem seit zwei Tagen nicht umgewendeten Kalender eine Geschäftskarte von einem Parkhotel Krämer. Von Krüners Telefon aus rief er dort an. Es meldete sich eine Telefonistin, die das Gespräch nach Rücksprache mit ihrer Chefin an Frau Krämer durchstellte.

Noch ehe Velmond auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte, wurde er schon überschüttet mit Fragen: „Wissen Sie schon, wo Paul, Verzeihung, wo Herr Krüner ist? Ist ihm was zugestoßen?“ Frau Krämer klang geradezu aufgewühlt, fast verzweifelt. Ihre Stimme überschlug sich.

„Verzeihung, Frau Krämer, hier spricht Hauptkommissar Velmond. Ich bin neben meinem Kollegen Elsterhorst mit der Suche nach Paul Krüner betraut worden. Darf ich Sie in dieser Angelegenheit vielleicht in einer halben bis dreiviertel Stunde aufsuchen?“

Eine Stunde später - auf dem Mittleren Ring war mal wieder Stau - saßen Frau Gisela Krämer, Lothar Velmond und Uta Möbius im altehrwürdigen Parkhotel Krämer, einem dreistöckigen Altbau mit Erkern, dahinter ein Park mit hohen, knorrigen Eichen, eingebunden in ein Ensemble von mehrstöckigen Villen, die wohl alle um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einer bürgerlichen Blütezeit entstanden waren. Das Büro von Frau Krämer, einer äußerst gepflegten, aparten Mitfünfzigerin, mit einem langen, über die linke Schulter nach vorn gelegten Haarzopf, hatte wenig büromäßiges. Es war eher ein großes Empfangszimmer mit antiken Möbeln, Ölgemälden, Teppichen, Beistelltischchen und einem alten Biedermeier-Schreibtisch.

Die Ruhe, die dieser Raum ausstrahlte, stand in extremen Kontrast zur Aufgeregtheit und geradezu panischen Stimmung der Gisela Krämer. Sie beantwortete Fragen, noch ehe sie überhaupt gestellt waren.

„Paul war ja am letzten Freitag noch hier. Ja, wir kennen uns gut, allerdings nicht, was Sie eventuell denken. Paul ist ein Preuße, durch und durch. Er könnte von Adel sein in seiner vornehmen Zurückhaltung. Aber das ist auch sein Gefängnis, sein selbst um sich gezogener Käfig. Im Inneren sehnt er sich nach Geborgenheit, nach Frieden, nach ... ja, nach Liebe und Nähe. Aber er steht sich dabei selbst im Wege. Er kann nicht loslassen, jedenfalls braucht es lange, bis das Eis schmilzt. Das hat er hier geschätzt. Obwohl er in München wohnt, hat er sich oft über das Wochenende ein Zimmer hier gebucht, sein Zimmer, immer das ihm vertraute. Und er musste erst auftauen, abspannen, in Ruhe gelassen werden. Kein Telefon! Kein Fernseher! Höchstens Musik, klassische Musik, Klassik Radio oder Bayern Klassik, das waren seine Sender.“

Eine sehr gepflegte dunkelhäutige, fast schwarze junge Frau mit blitzenden Augen, insbesondere auf Uta Möbius gerichtet, kam nach kurzem Klopfen herein und stellte eine Kanne mit Tee auf ein Stövchen, deckte zierliche Tassen, Kandiszucker und stellte eine Schale mit Konfekt und Keksen auf einen Rollwagen und schob ihn zu den Besuchern hin.

„Vielen Dank, Aurelia! Du bist die Beste!“

Ob Aurelia errötete ob dieses Lobes war nicht erkennbar, wohl ihr etwas flackernder Blick, ehe sie rückwärts gehend das Zimmer verließ.

„War Herr Krüner anders als sonst? Hat er darüber gesprochen, was er am Wochenende vor hat? Wollte er kommen? Mit wem hat er Kontakt? Könnte es sein, dass er woanders auch noch ein Refugium hat, in das er sich ohne Telefon und Handy zurückziehen kann? Irgendwo am Starnberger See?“

„Nein, er wirkte auf mich wie immer. Über das Wochenende haben wir nicht gesprochen. Er hatte ja auch nicht gebucht. Oft fand er wohl seinen Frieden auch auf Wanderwegen im Gebirge oder an unseren schönen Seen. Könnte natürlich sein, dass er in die Berge gegangen ist und dort in einer Hütte übernachtet. Das versuche ich mir zumindest einzureden, wobei mich natürlich beunruhigt, dass sein Auto offen aufgefunden wurde, am Cafe Seeseiten ja wohl oder unweit davon. Vielleicht hat er einen Bekannten getroffen, der ihn zu einer Bergtour eingeladen hat? Aber sein Auto nicht abzuschließen .... das kann ich mir bei Paul überhaupt nicht vorstellen!“

Velmond und Möbius nippten am duftenden Earl-Grey-Tee, nahmen noch einen Keks auf die Hand und verabschiedeten sich von Frau Krämer mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben.

Uta Möbius war die erste, die nach Verlassen des Hotels ihre Eindrücke zum Besten gab: „Irgendwas stimmt nicht. Zuerst diese fast panische Aufgeregtheit, dann die besonnenen Antworten. Am meisten haben mich die funkelnden Augen der Aurelia verstört. Als Frau sage ich rundheraus: Die beiden haben was miteinander. Und nicht nur das: Sie haben auch ein Geheimnis miteinander!“

„Woher kannte sie den Standort des verlassenen Autos? Wir haben ihn jedenfalls nicht erwähnt“, ergänzte Velmond.

„Und was den Krüner betrifft, schätze ich ihn so ein: 14 Punkte Blau, 14 Punkte Grün, und 8 Punkte Rot!“ Uta Möbius überraschte ihren Chef mal wieder mit ihren methodischen Kenntnissen. „Diese Werte beziehen sich auf die Methodik der Biostruktur-Analyse. Die hast du natürlich bei deiner Ausbildung noch nicht kennengelernt. Hier mal im Schnelldurchgang. Von insgesamt 36 Punkten, mit denen das Verhalten eines Menschen eingegrenzt wird, entfallen bei Krüner schätzungsweise 14 oder sogar 15 auf Blau, die Farbe der kühlen Logik, Ordnung, Präzision, Korrektheit und des Abstandes von anderen Menschen. Blau ist auch die Farbe der Planung. Grün hingegen ist die Farbe der Empathie, der Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit, der Liebe zu alten Dingen und Natur. Die scheint bei Krüner fast ebenso ausgeprägt zu sein wie sein Blau. Bleiben noch sechs bis acht Punkte Rot. Rot steht für Drive, Machertum, Aktivität, Herrschen wollen, Durchsetzungsvermögen, Imponieren, aber auch für Chaos.“

„Und was schließen wir jetzt daraus, liebe Uta?“

„Wir müssen noch mehr wissen über seine grüne Komponente. Er ist ein zweigeteilter Mensch. Seine vielen Reisen .... sind vielleicht Ausbrüche aus dem selbst errichteten blauen Käfig. Hoffen wir, dass er auch gegenwärtig nur ausgebrochen ist!“

Der Tote im Schilf

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