Читать книгу Der Tote im Schilf - Werner Siegert - Страница 7
Entführt?
ОглавлениеJeder hat sich der Hoffnung hingegeben, Kriminalhauptkommissar Paul Krüner würde lächelnd wieder auftauchen und fragen, weshalb man soviel Unruhe verbreitet, wenn er sich mal für ein paar Tage in die Berge zurückzieht. Ja, er habe sich beim Café Seeseiten mit einem Freund getroffen und vergessen, sein Auto abzuschließen. Er sei ja auch nicht mehr der Jüngste. Da könne einem so etwas schon mal unterlaufen. Aber passiert sei ja nun wirklich nichts.
Aber diese Hoffnung zerrann mit jedem weiteren Tag. Auch in Bezug auf die vermisste Frau kam man nicht weiter. HK Velmond hatte mit Hilfe der Zeugen vom ADAC-Strand ein Suchbild anfertigen lassen. Es zeigte eine sehr aparte junge Schönheit mit asiatischem Einschlag, leicht geschlitzte, zu den Seiten etwas nach oben gezogene Augen, lange, glatte schwarzglänzende Haare. Zwischen den beiden Hauptzeugen, einem Mann und einem Mädchen, die unabhängig von einander die Phantombilder kombinierten, herrschte große Übereinstimmung. Velmond ließ Hunderte von Kopien erstellen, die HK Elsterhorst am Westufer verteilen sollte, er selbst am Ostufer verteilen ließ, in der Hoffnung, dass irgendjemand die Vermisste noch lebend gesehen hätte. Solch ein Gesicht würde sich jedem sofort einprägen. Nun hieß es abwarten. Mehrmalige Helikopterflüge im gesamten Uferbereich des Starnberger Sees - zum großen Entsetzen der Vogelschützer - erwiesen sich als unergiebig. Wann würde eine Wasserleiche wieder auftauchen?
HK Velmond begab sich mehrmals in die Halle, in der das zerschlitzte Seagull-Schlauchboot auf mehreren Holzbalken allmählich austrocknete. In den Hauptluftkammern hatte sich ja ziemlich viel Wasser angesammelt. Die Fundstücke, das Bikini-Oberteil, die geköpften Sektflaschen, Korken, Glassplitter, Bonbonpapiere und zellophan-ähnliche Verpackungsreste von Salzgebäck sowie das eine Stechpaddel lagen auf Tischen ausgebreitet, jeweils mit Nummern versehen, die sich in Großfotos wiederfanden, die direkt vor und nach der Bergung angefertigt worden waren. Eine Wodkaflasche hatte man später unweit wie eine Flaschenpost treibend geborgen, zu Dreiviertel ausgeleert. Velmond wollte es - vertrauend auf seine ihm eigentümliche Stärke - wispern lassen, wie er zu sagen pflegte. Alle diese Gegenstände, so war er überzeugt, vermochten die ganze Geschichte des tödlichen Dramas zu erzählen, das er und sein Kollege Elsterhorst aufzuklären hatten. Man müsse nur zuhören.
Verpackungsreste von Salzgebäck? Moment mal! Velmond pendelte hinüber zu einem Tisch, auf dem die Fundstücke jener Lagerstätte nach ihrer originalen Positionierung ausgebreitet lagen, wie sie auf der Wiese vorgefunden wurden. Dort lag auch jener Fetzen der Kekspackung, auf den jemand mit Dreck verschmiertem Finger HELP geschrieben hatte. Dieselbe Kekspackung? Das würde bedeuten, dass jemand, der am oder im Schlauchboot war, dort auch gelagert hatte.
In der NORMA-Tüte befand sich nur die Kleidung des jungen Mannes. Wo ist die der jungen Frau. Hat sie die bei der Flucht mitgenommen? Und sich am Ufer, am Lagerplatz wieder angezogen?
Velmond ließ die Szenerie an seinem inneren Auge vorbeiziehen: Es kommt zu einem Kampf im Boot. Wollte der Student die aparte Asiatin vergewaltigen? Hat sie sich gewehrt und ihm eine Sektflasche auf dem Kopf zertrümmert? War der Tote also nicht nur ertrunken, sondern vorher außer Gefecht gesetzt worden? Wo ist der Befund aus der Pathologie? Er müsse dies sofort in der Gerichtsmedizin klären. Ist dann die Frau durch das Schilf geflüchtet? Sie muss ebenfalls betrunken gewesen sein, jedenfalls wenn sie merkliche Anteile des Sektes und vom Wodka intus hatte. Hatte sie sich dort ins Gras geworfen, erschöpft, und war froh, ihrem Vergewaltiger entkommen zu sein? Holte sie sich später aus dem Boot noch die Kekse gegen ihren Hunger? Und ihre Kleidung? Geschah alles bei Nacht? Ist sie dann eventuell Opfer anderer Personen geworden? Hatte sie vielleicht um Hilfe gerufen und dabei einen vermeintlichen Retter herbeigelockt, der ihre Hilflosigkeit und Benommenheit schmählich ausgenutzt hat? Sie eventuell sogar verschleppt hat? Wer könnte die Lichtzeichen abgegeben haben, an die sich mehrere Personen am Ostufer erinnerten? Und was hat das Auto von Paul Krüner damit zu tun? Ist Paul Krüner der Retter, der zum Opfer wurde? Ein geübter Kommissar Opfer einer zarten Asiatin mit Körbchengröße A? Völlig unglaubhaft. Hat sich gar ... ? Diesen Gedanken mochte Velmond gar nicht erst in seine grauen Zellen hineinlassen. Welche Fingerabdrücke befinden sich auf der Zellophanhülle und welche auf dem Fetzen der Kekspackung? Gibt es DNA-Spuren auf Grashalmen? Fragen über Fragen, die Velmond jeweils auf einem einzelnen Zettel notierte, um entsprechende Aufträge zu erteilen und später die Antworten darunter schreiben zu können.
Sollte man jetzt schon mit dem Phantombild an die Öffentlichkeit gehen? Was sprach eigentlich dagegen? Welchem Beruf könnte die Asiatin, wie sie jetzt kurz bezeichnet wurde, nachgegangen sein? War sie auch Studentin? Wie hat sie Fabian Hellrich kennengelernt?
Diesmal schien über Velmond die bei weitem größere Arbeitslast hereinzubrechen als über HK Elsterhorst, der am Westufer „vorwärts“ bisher nur im Nebel herumstocherte. Im Café Seeseiten konnte man sich zwar an Paul Krüner erinnern. Er war fast so etwas wie Stammgast im Haus, kam manchmal sogar zusammen mit einem Freund auf einem schnittigen Rennboot. Da waren auch Frauen dabei. Aber - so glaubten sich mehrere Kellnerinnen zu erinnern - keine feste Begleitung. Bezüglich der Asiatin waren sie sich uneins: Eine Bedienung war fest davon überzeugt, sie schon mal draußen auf der Terrasse bedient zu haben. Andere zweifelten. Da häufiger Gruppen asiatischer Gäste kämen - man könne sie als Europäer schlecht unterscheiden, ob es nun Chinesen, Japaner oder Koreaner sind - sei man sich nicht sicher, ob die Gesuchte vielleicht nur mit einer Reisegruppe unterwegs gewesen sei.
Dass nun ausgerechnet wieder sein Kollege Velmond ihm heiße Westufer-Spuren auf dem Tisch legte, ergrimmte Elsterhorst innerlich. Wie das? Der solle sich doch auf „Ostufer rückwärts“ konzentrieren. Der Hausmeister hatte inzwischen jedoch Velmond informiert, es sei Post für Krüner eingetroffen. In einem wattierten Kuvert aus Österreich befänden sich vermutlich Schlüssel oder andere metallische Gegenstände, die scheppern, wenn man den Umschlag schüttelt. Sofort machte sich Uta Möbius auf den Weg, um die Sendung und auch die übrige, inzwischen für Krüner aufgelaufene Post abzuholen.
In der Tat befand sich im verdächtigen Umschlag, der natürlich zuvor sicherheitshalber geröntgt worden war, ein Schlüsselbund - unter anderem wohl mit Krüners Hausschlüssel und vermutlich dem Autoschlüssel zu seinem alten Passat. Dabei lag ein kurzes Briefchen:
„Sehr geehrter Herr Krüner, Sie werden sicher erfreut sein, Ihre Schlüssel wieder in Händen zu haben. Die müssen Sie auf einem Parkplatz bei Schanz verloren haben, als sie in Richtung Ehrwald unterwegs waren. Die VW-Niederlassung in Ehrwald war so freundlich, anhand der Schlüsselnummer herauszufinden, wem das dazu gehörige Fahrzeug gehört. Wir freuen uns mit Ihnen. Nichts für ungut, Maria und Rolf Schröder, z.Zt. im Urlaub in Nassereith.“
Krüner war also zwischen Garmisch und Ehrwald unterwegs gewesen; aber nicht mit seinem eigenen Auto. Bei einer Rast auf dem genannten Parkplatz war ihm wohl der Schlüsselbund aus der Tasche gefallen. Er war also doch in die Berge gefahren, nach Ehrwald? Von dort auf die Zugspitze? War er dort möglicherweise verunglückt?
Diesmal hatte HK Maurice Elsterhorst offenbar den besseren Part erwischt. Nun konnte er sich nach Ehrwald fahren lassen, dort an der Zugspitzbahn Fotos von Krüner herum zeigen; dasselbe nochmal oben an der Bergstation und im Gipfelrestaurant. Er war noch nie da oben - jetzt also auf Staatskosten. Falls diese Erkundungen zu keinem Ergebnis führen sollten, an Tankstellen fragen, in Raststätten und Wirtshäusern am Fernpass, und dies zur schönsten Sommerzeit. Da bekäme auch Rinaldo, sein geliebter schwarzer Labrador endlich mal wieder Auslauf.
HK Velmond wusste indes nicht, wo er zuerst anfangen sollte. Mit Uta Möbius teilte er seine Erkundungen. Sie sollte nochmal mit Frau Krämer sprechen, dort auch das Phantombild der Asiatin präsentieren. Er würde das Bild dem Chef der Firma SpyTronix zeigen, dann das Umfeld des getöteten Fabian Hellrich erkunden, an der Uni und im Studentenheim.
Inzwischen lag auch der Obduktionsbericht auf seinem Tisch. War er dafür zuständig? Das Schlauchboot und der Tote lagen zweifelsfrei am Westufer. Kollege Elsterhorst sollte sich doch - so meinte er - nicht nur als Tourist ergötzen, sondern auch in die ganze Schwärze des Verbrechens eintauchen! Nachdem er zur Kenntnis genommen hatte, dass Fabian Hellrich vor dem Ertrinken schwere Kopfverletzungen davon getragen hatte, mit Glassplittern in Kopfhaut und Haaren, schob er die Akte auf Elsterhorsts Schreibtisch. Die zierliche Asiatin konnte offenbar ziemlich zuschlagen, auch auf einem schwankenden Gummiboot. Aber am Westufer!