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1. Absolute Ruhe

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Hauptkommissar Maurice Elsterhorst fühlte sich müde, schlaff und krank. Sein letzter Fall hatte ihn viel Kraft gekostet und endete in einer riesigen Enttäuschung. Er hatte einen Mörder aufspüren wollen, den es offenbar gar nicht gab. Zwei von Leichen abgetrennte Hände ließen die Öffentlichkeit aufheulen; eine hatte sein treuer schwarzer Labrador Rinaldo in einem Friedhof apportiert, die andere fanden Wanderer in einem Park. Untätigkeit warf man der Polizei vor. Zu allem Überdruss hatte man Rinaldo fotografiert, als er mit der Leichenhand im Maul durch die Gräber trabte. Diese Fotos erschienen übergroß in der Boulevardpresse. Im Lokalfernsehen machte man daraus eine hämische Skandalgeschichte und hängte ihm Rücksichtslosigkeit gegen über einem kleinen Buben an, von dem er sich in der Eile und Betroffenheit das Handy ausgeborgt hatte. Im Präsidium kam das gar nicht gut an. Als dann noch die Suche nach dem Hand-ab-Mörder in einem Fiasko endete, brach er zusammen.

Währenddessen konnte sich sein Kollege Lothar Velmond ein Stückchen vom Ruhm abschneiden, und dies, weil er lediglich durch einen blöden Zufall Zeuge wurde, als das Skelett einer jungen Römerin in einem Moortümpel oberhalb von Wildbad Kreuth sichtbar wurde - die inzwischen weltberühmte „Truski“! Ganz zum Ärger der Italiener, die nun das Monopol ihres „Ötzi“ in Gefahr sahen.

Der Amtsarzt hatte Elsterhorst vier Wochen absolute Ruhe verordnet, am besten in einem Sanatorium, in dem er - abgeschottet von allen negativen Einflüssen - liebevoll umsorgt würde. Am besten incognito, um ihn von allen Tratschereien abzuschirmen, die ein leibhaftiger Kriminal-Hauptkommissar auslösen würde.

Sanatorium! Allein bei dieser Bezeichnung quälten ihn Assoziationen von sadistischen Krankenschwestern, die ihn - überdies halbnackt - zu allerlei grausamen Leibesübungen zwingen würden. Er müsse zur Wassergymnastik zusammen mit fetten, schwabbeligen AOK-Patienten plantschen, werde auf Schonkost gesetzt, serviert zu Zeiten jenseits aller Zivilisation. Ärzte, die ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen würden, ihm eine böse, absolut neue Krankheit anzudichten und möglichst eine Operation! Um 5 Uhr Abendessen - und was für welches! Und dann noch die Trennung von Rinaldo! Scheußlich, scheußlich!

So atmete er auf, als seine Kinderfreundin Judith, die sich wegen der Etrusker-Forschungen für längere Zeit in München aufhielt, ein ganz anderes, ein alternatives Wald-Sanatorium entdeckte, angegliedert an ein ehemaliges, aufgelassenes Nonnenkloster. Dort legt man das Schwergewicht auf Phytologie, auf Naturheilmittel, auf die Kraft der Kräuter aus dem Klostergarten. Hildegard von Bingen dient auch nach dem Auszug der Nonnen als großes Vorbild. „Ganzheitlich“ und „nachhaltig“ - diese Begriffe beherrschten den einladenden Prospekt. Schon der Name „Elysium“ ließ bei Elsterhorst alle Ängste schwinden.

Mit großen Erwartungen stieg er in sein Auto und überließ Judith gern das Steuer. Rinaldo räkelte sich wie immer auf der Rückbank. Anderthalb bis zwei Stunden würde die Fahrt in Anspruch nehmen - genügend Abstand von der Hektik der Großstadt, die manchmal so gar nichts von einer Großstadt mit Herz für ihn übrig hatte.

Die freundliche Stimme aus dem Navigationsgerät teilte den Reisenden mit, sie befänden sich einen Kilometer vor ihrem Ziel. Jedoch standen sie vor einem weißen, kunstvoll geschmiedeten Doppelflügeltor, in der Mitte jedes Flügels ein Strahlenkreuz. Am linken Pfeiler befand sich ein imposantes Messingschild

E l y s i u m

Privat-Sanatorium

Institut für Naturmedizin und Phytologie.

Dazu ein Klingelknopf und ein Hinweis auf eine Wechselsprechanlage.

Judith stieg aus und drückte auf den Knopf. Sofort meldete sich eine schnarrende Frauenstimme. Nachdem Judith den Namen des Patienten genannt hatte, öffneten sich die Torflügel wie von Geisterhand. Erst nach etwa 700 Metern Waldstraße weitete sich der Blick. Neben einem alten, ziegelroten, schlossähnlichen Haupthaus, aus dessen Mitte ein spitzer, neugotischer Kirchturm herausragte, erstreckte sich links ein weißer, moderner zweistöckiger Neubau. Vor den Gebäuden sprudelte in einem weiträumigen Brunnenbecken ein Springbrunnen aus einer Figurengruppe, aus der sich zentral erhöht eine Madonnenstatue erhob. Ein Schild verwies die Ankömmlinge auf den Parkplatz und den Patienteneingang hinter dem Haus. Der Haupteingang schien Prominenten vorbehalten.

Noch ehe irgendein Begrüßungswort verlautete, kam die schneidend-kalte Anweisung:

„Der Hund bleibt draußen!“

Der Kommando-Ton der Empfangsdame hatte gar nichts elysisches an sich. Er entsprach ihrem strengen Erscheinungsbild: kurze hennarote Haare, Herrenkostüm, scharf nachgezogene Augenbrauen, dunkelroter, fast schwarzer Lippenstift. Judith erinnerte die Frau an eine Polit-Hauptkommissarin. Sie führte Rinaldo nach draußen zum Auto. Knurrend nahm er auf der Rückbank Platz. Judith kurbelte das hintere Fenster ganz nach unten, damit ihm die frische Waldluft um die Nase wehen könnte. Dann ging sie wieder hinein. Elsterhorst hatte sich inzwischen auf eine Bank gesetzt. Er wirkte wirklich sehr erschöpft. Nun kam auch noch die Trauer um seinen Hund dazu.

„Frau ....?“

„Schwertfeger!“

„Frau Schwertfeger, ich nehme an, Sie haben Ihren Herrn Vater hier her gebracht. Das ist sehr fürsorglich von Ihnen. Ich nehme an, Sie werden, nachdem sich Ihr Herr Vater eingerichtet hat, wieder mit Ihrem Auto nach Hause fahren. Wir haben es nicht gern, wenn Patienten Fahrzeuge mitbringen!“

Elsterhorst zuckte zusammen. V a t e r ? Hatte er richtig gehört? Kann die doofe Ziege nicht hingucken? dachte er sich.

„Frau ....?“ Judith fiel es nicht schwer, den belehrenden Ton dieser Hexe nachzuahmen.

„Hendrix, ich bin Frau Olga Hendrix. Ich leite die Organisation, die Rezeption und die Patienten-Angelegenheiten!“

„Frau Hendrix, dies ist Kriminal-Hauptkommissar Maurice Elsterhorst. Wir haben telefoniert. Es sind bestimmte Vereinbarungen getroffen worden. Herr Elsterhorst ist nicht mein Vater. Wir sind ... Kollegen. Sie - oder war es die Direktorin dieses Hauses? - hatten zugesagt, dass Herr Elsterhorst sich hier optimal regenerieren kann. Akutes Erschöpfungs-Syndrom! Niemand soll etwas über seinen Beruf erfahren. Er braucht einfach Ruhe und einfühlsame Betreuung.“

„Ob Kriminal-Hauptkommissar oder Manager, in jedem Sanatorium gibt es nun einmal Regeln und eine unerlässliche Ordnung. So ist zum Beispiel das Betreten des Altbaus für die Patienten streng untersagt. Wir führen hier die klösterliche Lebensart jenseits aller Religionen weiter. Selbstverständlich sorgen wir bestens für unsere Patienten. Unsere jahrzehntelange Erfahrung sagt uns aber auch, was gut für die Patienten ist und was nicht. Wir wissen zum Beispiel auch, dass telefonische Kontakte mit der Familie oder Freunden in den ersten 14 Tagen den Heilungserfolg stark beeinträchtigen. Daher dulden wir auch keine Mobiltelefone.“

„Frau Hendrix, ich habe das Empfinden, dass sich die Tonart Ihrer Prospekte ziemlich von der Art dieses Empfangsgespräches unterscheidet! Es kann auch auf keinen Fall hingenommen werden, dass Herr Elsterhorst sein Dienst-Handy abgeben muss. Er wird selbst davon nur geringen Gebrauch machen, muss aber erreichbar bleiben. Überdies war im Telefonat davon die Rede, dass sich Ihre Patienten frei bewegen und den Rahmen der therapeutischen Maßnahmen frei bestimmen können. Falls die Aussagen aus dem Prospekt und aus dem Informationsgespräch stark von einander abweichen, würde Herr Elsterhorst die Kur sofort abbrechen!“

Elsterhorst war es zwar peinlich, dass sich Judith so für ihn einsetzte, als ob er schon entmündigt sei; andererseits war er ihr dankbar, dass sie und nicht er hier das Grundsätzliche zu regeln versuchte. Sie nahm ein Einweisungsformular und mehrere Drucksachen vom Desk mit zu einem Tischchen und übernahm das Ausfüllen für Elsterhorst mit souveräner Selbstverständlichkeit selber vor. Adresse, Geburtsort, Geburtsdatum, Ausbildung, Beruf, Krankenkasse, Beihilfekasse - alles dies schien sie zu Elsterhorsts Erstaunen ohne langes Befragen zu wissen. Woher? Als Vertrauensperson trug sie sich selbst ein mit dem doppelten Wohnsitz in London und München, und verschwieg, dass sie sich in seiner Wohnung einzumieten plante. Er sollte sich nicht zusätzlich aufregen.

Um diese Zeit schienen nur wenige Patienten, mehr Männer als Frauen, durch die Halle zu schlurfen, meist im Bademantel und mit Pantoffeln. Andere hatten sich zu einem Waldspaziergang gerüstet. Kaum jemand würdigte Olga Hendrix mit einem Blick.

Plötzlich ertönte aus dem Park das aufgeregte Bellen Rinaldos. Elsterhorst kannte die Sprache seines Hundes. Es musste etwas Krasses passiert sein. Ein Rest von Adrenalin schoss in seine Blutbahn, er erhob sich schnell, ein bisschen taumelig, von Judith gestützt und rannte, so schnell, wie es ihm gelang, nach draußen. Die hintere Autotür war offen. Ein Schuss ertönte, Rinaldo jaulte auf. Beide, Elsterhorst und Judith rasten los, dem Geschrei und Geheule nach. Offenbar lag etwa 200 Meter entfernt ein alter Friedhof. Allerhöchste Angst aktivierte in den beiden letzte Kräfte, bis ihnen auf lautes Rufen Rinaldo entgegen sprang. Offenbar unversehrt. Doch hinter ihm folgte ein wütender alter Mann, mit grauen wirren Haaren, in einem Blaumann und Gummistiefeln, ein Gewehr in der Hand schwenkend.

„Sie da! Sie da, nehmen Sie sofort diese Bestie an die Kette, sonst erschieße ich sie. Hunde sind auf diesem Gelände nicht geduldet!“

Nach Atem ringend, mit Sternen vor den Augen und zitternd zog Elsterhorst seinen Dienstausweis raus. Da er sich den Liebesbezeugungen Rinaldos nicht gleich erwehren konnte, hielt Judith dem Mann den Ausweis vor die Nase.

„Darf ich einmal Ihren Waffenschein sehen? Wie kommen Sie dazu, hier herum zu ballern? Dies ist Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst!“

„Der Waffenschein ist in meiner Wohnung. Der Hund hat sich an einer Grabstätte zu schaffen gemacht. Das kann ich nicht dulden, ob Sie Kriminaler sind oder nicht. Ich bin der Hausmeister und Parkwächter. Hier habe ich das Hausrecht und nicht Sie und schon gar nicht Ihre Töle.“

Inzwischen hatten sich zahlreiche Patienten und offenbar auch Pflegepersonal um die Streitenden herum angesammelt. Der schwarze Labrador stand hechelnd neben Elsterhorst, der ihn streichelnd zu beruhigen versuchte. Schüsse, Silvesterknallereien und ähnliche Geräusche ließen ihn immer noch schmerzlich aufheulen. Das hatte man ihm in der Hunde-Polizeischule nicht abgewöhnen können. Judith hatte schnell die Leine aus dem Auto geholt. Kaum war Rinaldo angeleint, zog er auch schon kräftig ziehend in eine bestimmte Richtung. So weit, bis er an einer Grabstätte halt machte und jaulend und schnüffelnd die Steinplatte umrundete.

Elsterhorst fiel auf, dass im Unterschied zu den Nachbargräbern, die total vermoost und mit Efeu umrankt waren, an dieser Grabumrandung erst kürzlich jemand Spuren hinterlassen hatte. Das Moos war zum Teil zur Seite gescharrt, Efeuranken waren abgerissen und hinter den Grabstein geworfen worden.

Aus dem Sanatorium war inzwischen die Direktorin samt einem größeren Schwarm von Bediensteten herangerauscht und herrschten Elsterhorst und Judith an, sie mögen bitte sofort das Gelände verlassen, weil man sonst die Polizei benachrichtigen würde wegen Hausfriedensbruchs und Störung der Totenruhe.

„Die Polizei brauchen Sie nicht zu rufen. Die ist schon da!“ Auch der Direktorin hielt Judith den Dienstausweis vor die Nase, die ihn jedoch kaum eines Blickes würdigte.

Judith zog Rinaldo wieder von der Grabstätte weg und hakte Elsterhorst unter. Sie tuschelten kurz mit einander. Dann mimte Elsterhorst einen Herzinfarkt. Jedenfalls brach er kurz vor dem Haus zusammen.

Sofort eilten mehrere Schwestern und Pfleger zusammen. Man holte eine Bahre und trug ihn in eine Art Ambulanz. Judith ließ Rinaldo wieder ins Auto springen, ließ nur einen schmalen Spalt an den hinteren Fenstern offen und drückte die Kindersicherung runter, so dass er sich nicht wieder selbst befreien konnte. Dann trug sie Elsterhorsts Gepäck in die Halle. Gegenüber der Direktorin, die sich inzwischen mit ziemlicher Drohgebärde als Frau Dr. Frost-Heimbusch Judith gegenüber aufgebaut hatte, gab sie sich als jene Frau zu erkennen, die erst kürzlich mit ihr die überaus einladenden Gespräche wegen ihres Kollegen Elsterhorst geführt hätte. Einladend sei aber bisher nichts gewesen. Sie sei sehr besorgt, dass ihr Kollege nicht die liebevolle Betreuung und Ruhe finden würde, die ihr wortreich zugesichert worden war.

Frau Dr. Eleonor Frost-Heimbusch ließ Judith noch nicht einmal in die Ambulanz, um sich von Elsterhorst zu verabschieden, da sie nicht mit ihm verwandt sei. Und nun solle sie sich schleunigst samt ihrem teuflischen Hund auf den Heimweg begeben.

Judith baute sich mit einem zynischen Lächeln vor der Direktorin auf und raunte ihr zu: „Ich vermute, diese Art der Begrüßung und Behandlung von Gästen und Patienten wird noch ein Nachspiel haben. Ihr Prospekt und Ihre werbend freundlichen Sprüche am Telefon weichen offenbar krass von der Realität ab. Das kann man auch in Facebook posten. Der Hausarzt von Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst wird sich in aller Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen! Ich bin in großer Sorge um den Patienten. Auf Wiedersehen!

Kurz nachdem sie das Sanatoriumsgelände verlassen hatte, rief Judith Kriminal-Hauptkommissar Lothar Velmond und Elsterhorsts Hausarzt an und informierte beide über die eigenartigen Vorkommnisse im sogenannten Elysium.


Töchter aus Elysium

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