Читать книгу Töchter aus Elysium - Werner Siegert - Страница 5
Gibt es so etwas wie Amour fou?
ОглавлениеImmer wieder kassierte Schwester Angela Rügen durch die allseits gefürchtete Pflegedienstleiterin wegen ihrer Bevorzugung ‚eines Patienten’ zu Lasten der anderen, die sich angeblich schon bei ihr beschwert hätten. Frauen, vor allem ältere, hingegen beklagten sich über ihre Kälte. Eine Patientin hätte sie sogar gerügt, weil die ‚oide Truschel’ zu wenig Ordnung in ihrem Zimmer halte. ‚Gespielte Hilflosigkeit’ hätte sie vor sich hin gemurmelt, was die Patientin aber durchaus mitgehört habe. Und noch etwas: Dem Patienten Elsterhorst hätte sie nicht mit genügender Entschiedenheit verboten, das Hundebild auf den Nachttisch zu stellen. Also hatte die Kollegin Ursula sie schon verpetzt.
Ja, in der Tat: Ihr ging dieser neue Patient Elsterhorst nicht aus dem Kopf. Ein Tornado überaus verwirrender Bilder und Emotionen tobte sich in ihr aus. Ganz plötzlich überfiel sie ein intensives Schwindelgefühl. Hatte sie sich gerade in diesen Mann verliebt? Blitzartig verliebt?
Seine Gesichtszüge, diese so harmonisch gewellten silbergrauen Haare, das ebenmäßige Gesicht, der Tonfall seiner Sprache, die bubenmäßige Scham und Empfindsamkeit - jetzt, hier im Flur vor der Tür zu diesem Mann, neben dessen Bett sie auf sein Erwachen gewartet hatte, da war es tatsächlich so, wie es millionenfach in der Kunst dargestellt worden war: Amors Pfeil hatte sie getroffen. Röte stieg auf in ihrem Gesicht. Das Herz bumperte. Würde sie jetzt bei sich den Blutdruck und den Puls messen wie bei diesem aus dem Himmel gefallenen Mann, sie müsste den ärztlichen Notdienst benachrichtigen.
Wie kann so etwas passieren? Schwester Angela stützte sich an der Wand ab. So et.was hatte sie in ihrem Leben noch nie erfahren. Was hatte dieser Mann an sich? Wem könnte er gleichen? Mit welchen Bildern aus ihrer Vergangenheit könnte sich seine Erscheinung vermischen? Warum empfand sie jetzt schon rasende Eifersucht, dass nach ihrer Schicht eine Kollegin, eventuell sogar die bleiche, barsche Ursula den geliebten Mann versorgen würde? „Abfertigen“ hatte die gesagt. Einen Patienten wie diesen groß gewachsenen, edlen Mann darf man nicht abfertigen. In ihn muss man sich hineindenken, ihn in seiner Befindlichkeit abholen. Ledig’ steht in seinen Aufnahme-Dokumenten. Beruf: Kriminalkommissar. War diese Judith, mit der er zu telefonieren versuchte, nur seine Schwester? Oder gar seine Geliebte? Nein, diese Vermutung könne sie gleich verscheuchen. Wäre sie denn seine Geliebte, warum hätte er statt des Hundes nicht ihr Foto auf den Nachttisch gestellt? Einen Hund - den brauchen die Einsamen, die Scheuen, die Verschlossenen, die Sehnsüchtigen. Nein, noch hatte diesen herzensguten Mann niemand richtig geliebt, aufrichtig, mitfühlend in seinem harten Beruf, in dem er täglich dem Grauen begegnet und abends, beim Nachhausekommen, niemanden hat, der ihn in die Arme nimmt.
„Angela, wo bist du?“ hörte sie sich halblaut zu sich selbst sprechen. Angela war verwirrt. Oh ja, das wusste sie: Man spottet über Amour fou, so lange man nicht selbst zutiefst darin versinkt. Schwester Angela versuchte, ihre Füße wieder auf festen Boden zu setzen. Die Pflegedienstleiterin hat sie auf dem Kieker. Ängste stiegen in ihr auf: Würde man sie von diesem Patienten, von diesem Herzensmann abziehen? Und dann? Würde sie dann nicht ihre Mission beenden müssen? Noch hatte sie nicht alle Informationen sammeln können, die man über das Abrechnungsgebahren dieser Klinik brauchte.
Schwester Angela flüchtete in die Damen-Toilette, nicht in die für das Personal. Da wäre sie vielleicht einer Kollegin begegnet. Hier aber könnte sie sich tarnen als eine, die sich um die Hygiene kümmert, und wenn sie allein wäre, könnte sie sich kaltes Wasser über ihr Gesicht streichen. Ob das hilft gegen die Schmetterlinge in ihrem Bauch, ausgerechnet hier im Elysium der Emanzen? Im Spiegel glaubte sie, eine völlig veränderte Angela zu erkennen. Sie ordnete ihre Haare. Ihre Lippen waren merkwürdig gerötet. Sie trotzten jetzt dem Verbot von jeglichem Lippenrot in diesem Hause. Lippen, die sich danach sehnten zu küssen. Zu küssen! Wann hatte sie zuletzt aus Liebe geküsst? Waren es schon Jahre her? Aber das war ein Horst - kein Vergleich mit einem Maurice!
Maurice heißt er mit Vornamen. Unter welchem Sternbild ist er geboren? Das hatte sie sich noch nicht eingeprägt. Das war noch vor ... ja vor was? Vor wenigen Minuten, oder waren es Sekunden? Vor dem Liebesblitz? Maurice! Kommt er gar aus Frankreich? Hat er französische Wurzeln? Stammt vielleicht sogar aus der Provence, wohin sie alljährlich in den Urlaub fährt? Allein. Bisher allein. Ohne einen Maurice.
Ach - mit Maurice in Avignon! Sur le pont ....
Leise dieses Liedchen summend und etwas zu beschwingt tänzelte sie durch den Flur. Sie wandelte wie auf rosa Wölkchen und war ohnehin überzeugt, demnächst würde das Hundefoto durch eines von ihr ersetzt.
Elsterhorst schaffte die halbe Suppe, knabberte zwei trockene Zwiebäcke. Dann holte er das Bild von seinem geliebten Hund Rinaldo aus dem Schrank und stellte es wieder auf seinen Nachttisch.
Wenn er das vier Wochen lang durchhalten sollte, war er überzeugt, es würde ihn mehr Kraft und Überwindung kosten als ein Jahr Arbeit im Präsidium. Lieber Mörder jagen, als diese Höllenqualen täglich über sich ergehen lassen.
Lediglich die Fürsorge durch Schwester Angela versöhnte ihn. Sie wurde sein Morgensonnenschein, auch wenn es draußen regnete oder der Nebel in den Bäumen hing. Das Essen würde zumindest dazu beitragen, dass er kein Gramm zunimmt. Eher würde er ein, zwei Kilo abnehmen, was den weiteren Aufenthalt lohnender erscheinen ließ. Andere hätten Angela ein „Herzchen“ genannt. Sie brachte ihm schon mal nachmittags ein übrig gebliebenes zusätzliches Stück Kuchen. Um seine Verspannungen aufzulösen, gönnte sie ihm auch dann und wann eine Schultermassage. Jedenfalls genoss er ihre Zuwendungen um so intensiver, je kälter und kurz angebundener die Abfertigung und Anweisungen durch die Schwestern Ursula und Diana ausfielen. Die begann er allerdings auch absichtlich zu provozieren, indem er das Rinaldo-Foto demonstrativ mal auf seinen Tisch oder neben das Bett stellte. Jedesmal musste er sich diesen Sermon anhören, Hunde würden zuviele Energien abziehen. Schwarze Hunde seien überdies Höllenhunde. Sich nicht davon beeindrucken zu lassen, gab ihm ein ganz kleines Gefühl von Macht zurück.
Als ihm Schwester Angela wieder einmal ihr Handy lieh und - um nicht ertappt zu werden - sich im Flur an ihrem Trolley zu schaffen machte, drückte er aus Versehen auf eine falsche Taste. Auf dem Display erschien ein Fax. Es war ihm fast peinlich; denn so erfuhr er zu seiner absoluten Verwunderung, dass sich hinter Schwester Angela in Wirklichkeit eine Frau Dr. Angela Berghoff verbarg. Als Schwester Angela wieder zu ihm hinein huschte, bekam er fühlbar rote Ohren. Der Schweiß rann ihm in kleinen Tröpfchen den Nacken runter, was ihr nicht verborgen blieb.
„Haben wir einen Schub, Herr Hauptkommissar? Einen Fieberschub?“
Herr Hauptkommissar? Sie kannte also seinen Beruf? Obwohl er doch geheim bleiben sollte. Da rutschte es ihm spontan heraus. Es lag ihm so auf der Zunge, dass er sich nicht mehr bremsen konnte:
„Frau Dr. Berghoff, mir ist in der Tat nicht gut. Ich weiß selbst nicht!“
Jetzt war es Schwester Angela, die rot anlief und sofort den Zeigefinger ihrer linken Hand fest an ihre Lippen presste und dann ... sogar an seine!
„Sie wissen es also? Bitte, bitte absolutes Schweigen! Niemand darf das wissen! Das könnte schlimm für mich ausgehen. Ich bin - Sie würden es bezeichnen - ‚under cover’ hier in diesem Laden. Hier läuft einiges schief!“
Sie ergriff in großer Hektik seine Hand, packte sie ganz fest: „Versprechen Sie mir absolutes Schweigen! Schwören Sie! Vielleicht brauche ich demnächst sogar Ihre Hilfe!“
Dann rannte sie zur Tür hinaus und ließ den verdutzten Kommissar zurück.