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4. Flucht bei Nacht und Nebel

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Als Kriminal-Assistentin Uta Möbius am nächsten Vormittag im Elysium eintraf, gut vorbereitet, die seelisch misshandelte Frau eines Machos zu spielen, die hoffte, im Institut der Feministinnen endlich Schutz unter Gleichgesinnten zu finden, befand sich schon die ganze Anstalt in wilder Aufruhr. Mittendrin Hauptkommissar Elsterhorst, der große Mühe hatte, erste Maßnahmen zur Absicherung und Beruhigung der zusammengelaufenen Menschen zu treffen. Der Grund: Der ganze Vorstand des Instituts sowie Olga Hendrix hatten sich nach der Verhaftung der Frau Dr. Lepper offenbar über Nacht heimlich aus dem Staube gemacht. Der Empfang war nicht besetzt. Computer und Monitor waren verschwunden. Die Telefonanlage war tot. In der Halle herrschte Chaos. Offenbar hatten auch die Patienten schnell mitgekriegt, dass sich Ungeheures ereignet hatte.

Elsterhorst war sehr erleichtert, als er Uta Möbius sah. Er lotste sie gleich erst einmal zu den verlassenen Büros, deren Türen offen standen und von fassungslosen Instituts-Angestellten besetzt worden waren. Die Telefonkabel waren zerschnitten. Akten lagen auf dem Boden verstreut. Geschredderte Papierschnipsel und Papierknäuel wogten von einer Ecke zur anderen.

Uta Möbius forderte alle Frauen auf, die Räume zu verlassen, da sie versiegelt werden müssten. Eine, von der sie darauf hingewiesen wurde, dass offenbar zwei PC und ein Laptop fehlen würden, bat sie, ihr zu helfen, eine erste Bestandsaufnahme zu machen. Es war die Chefsekretärin, die sich ihr als Annedore Peters vorstellte. Mit der Digitalkamera wurde in allen drei Räumen der Ist-Zustand fotografisch festgehalten.

Im Finanz-Office stand der Tresor offen. Aus der Kassette war alles Geld bis auf ein paar Cent verschwunden. Frau Peters meldete bestürzt, dass auch sämtliche Dokumente und Kreditkarten für den Zugriff zu den Konten fehlten. Auch den Abrechnungsordner mit den Krankenkassen und die Patientenkartei hatten die Flüchtigen mitgehen lassen. Obwohl die Flucht offenbar erst durch das energische Auftreten der Kripo und die Verhaftung der Pharmazeutin Winfriede Lepper am Tag zuvor ausgelöst worden war, ließ sich doch eine Systematik erkennen. Es gab offenbar einen Plan B, falls etwas schief gehen sollte. Aber was? Hier sollten möglichst alle belastenden Spuren beseitigt werden - eine beachtliche Leistung in einer Nacht. Noch dazu war es ja offenbar gelungen, die heikle Fracht klammheimlich in den alten VW-Bus zu verladen. Leider widersprachen sich die Aussagen hinsichtlich des Kennzeichens.

„Da müssen Sie Hugo fragen! Oder ist der auch mit abgehauen? Können wir uns gar nicht denken!“

Elsterhorst hatte alle Hände voll zu tun, die aufgeregte Schar in der Halle zu beruhigen. Es werde sich sicher alles klären lassen. Am besten sollten alle Patienten in ihre Zimmer zurückkehren. Die Schwestern würden sich wie gewohnt um sie kümmern. Ihre Versorgung sei nicht bedroht. Die Bewohnerinnen des Haupthauses, soweit sie nicht bereits aushäusig an ihren Arbeitsplätzen weilten, sollten ebenfalls in ihre Wohnräume zurück gehen und sich dort bis auf weiteres bereit halten.

Die Suche nach Hugo verlief ergebnislos. Da er auf das Läuten und Pochen an der Tür nicht reagierte, wurde die alte Tür aufgehebelt. Doch ihn selbst fand man nicht an. Einige glaubten, er habe gestern seinen freien Tag gehabt. Da kehre er manchmal nicht ganz nüchtern und erst im Laufe des Vormittags zurück. Manchmal sei er so betrunken, dass er sich nicht auf dem Fahrrad halten könne. Aber sein Fahrrad stand wie üblich im Schuppen.

Natürlich hatte Elsterhorst inzwischen seinen Kollegen Velmond über die Geschehnisse informiert, der sich auch gleich mit mehreren Beamten und Beamtinnen und der IT-Truppe in mehreren Fahrzeugen auf den Weg begeben wollte.

„Absolute Ruhe“ hatte die Ärztin dem Maurice Elsterhorst verordnet. Jetzt musste er seiner Freundin Judith per Handy berichten, er sei statt im Elysium in einem Inferno gelandet. Lag es an der leicht gestörten telefonischen Verbindung? Oder hatte er an ihrem Tonfall verspürt, dass ihr diese veränderte Situation sehr entgegenkäme? „Da wird sich Rinaldo aber freuen!“ war ihre erste Reaktion. „Natürlich mache ich mich gleich auf den Weg! Rinaldo ist ja ohne sein Herrchen völlig apathisch!“ Ehe Elsterhorst etwas entgegnen konnte, war die Verbindung abgerissen.

Hugo blieb verschollen. Dabei wäre der nach Aussagen der Bewohnerinnen der einzige, der die Telefone wieder funktionsfähig machen könne. Dass er mit den Flüchtigen unter einer Decke stecken könne, wurde heftig bezweifelt:

„Der mit der Chefin in einem Auto, sie mit einem Mann, niemals!“

Wenigstens gelang es Elsterhorst, das Küchenpersonal wieder soweit zu beruhigen, dass das Mittagessen zubereitet werden konnte. Vorräte waren noch genügend vorhanden. Zwei oder drei Tage käme man wohl über die Runden. Dann müsse man einkaufen, aber von welchem Geld?

Die Apartments der Vorstandsdamen waren doppelt verschlossen; einmal mit den alten Schlüsseln aus der Klosterzeit, sodann mit Sicherheits-Sperrriegel-Schlössern. Wollte man mit brachialer Gewalt einbrechen, müsste man immense Schäden in Kauf nehmen. Es bliebe nur, den Schlüsseldienst dieser Spezialfirma zu beauftragen. Allerdings gäbe es noch eine Chance. Um den gesetzlichen Bestimmungen nachzukommen, wäre Hugo als sogenannter Sicherheitsbeauftragter benannt worden. Der müsse laut Gesetz über Schlüssel zu allen Räumen verfügen. Wo aber war dieser Hugo? Und wo hätte er in seiner Wohnung diese Schlüssel aufbewahrt?

Inzwischen war auch Hauptkommissar Velmond mit seinem Konvoi eingetroffen. Mit Elsterhorst und Frau Möbius zogen sich alle kurz in das Chefbüro zurück, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Es wurde ein Team gebildet, das sich nur um die Verfolgung der Flüchtigen zu kümmern habe: Feststellung des Kennzeichens aus einschlägigen Akten mit Hilfe der Frau Peters, Instruktion der Grenzübergänge etcetera. Die IT-Truppe machte sich sofort ans Werk, die Telefonkabel zu reparieren, neue Modems und Laptops zu installieren, um die Internet- und E-Mail-Daten abrufen zu können. Leider kannte Frau Peters nur wenige Passwörter, so dass noch weitere Spezialisten hinzugezogen werden mussten. Man war sich sicher, hier wertvolle Spuren aufdecken zu können.

Ein anderes Team unter wechselnder Leitung der beiden Hauptkommissare sollte die Vernehmung der Frauen vornehmen, die sich noch im Hause aufhielten. Das dritte Team wurde zur Bewachung aller Ausgänge sowie des näheren Umfeldes, also des Klosterhofs und der Ökonomieräume eingesetzt. Frau Möbius sollte die Schwestern versammeln und so etwas wie einen Schwesternrat bilden, der bis auf weiteres die Koordination aller Maßnahmen bezüglich des Sanatoriums übernehmen solle.

Mit Hilfe der Chefsekretärin wurden die wichtigsten Bankverbindungen eruiert. Die Telefonate wurden allerdings meist sehr schnell abgeblockt. Warum solle man Auskunft erteilen? Die Damen seien sicherlich nur vorübergehend außer Haus. Für alle Konten seien Passwörter und besondere Erkennungsinformationen vereinbart. Ohne diese keine Auskunft. Der Hinweis auf die tätige Mordkommission verfing nicht, da ja offenbar noch kein Mord aufzuklären sei. Man bitte um Verständnis. Auch bei der Femina Bank AG, für die zur Absicherung der Finanzierung sowohl der Renovierungen als auch des Sanatorium-Traktes erstrangige Hypotheken eingetragen waren, stieß man nicht auf Kooperationsbereitschaft.

Vor den Einzelvernehmungen wurden alle Bewohnerinnen in die alte Hauskapelle gebeten, die nach Auszug der Nonnen zu einem Gemeinschaftssaal umfunktioniert worden war. Erste Hinweise, das Betreten des Hauses sei Männern nicht gestattet, man fühle sich in den satzungsgemäß festgelegten Persönlichkeitsrechten aus Schwerste beeinträchtigt, konnte Hauptkommissar Elsterhorst mit seinem Hinweis auf Ermittlungen in einem Mordfall sowie einer lebensbedrohlichen Körperverletzung ersticken.

„Es geht hier nicht um Bagatellen, meine Damen. Es geht um Mord an einer illegal beschäftigten Ausländerin und um Frau Dr. Angela Berghoff, die mit lebensgefährlichen, schwersten Verletzungen auf der Intensivstation liegt, verübt von Führungskräften des Instituts!“

Ein Raunen erfüllte den hohen, pseudogotischen Raum. Ein Stimmengewirr erhob sich:

„Was haben wir damit zu tun?“ „Davon wissen wir überhaupt nichts!“ „Undenkbar - das muss ein Irrtum sein!“ „Wer hat Ihnen denn solche Bären aufgebunden?“ „Das sind wieder so typisch männliche Gewaltphantasien! Durch nichts bewiesen!“ „Das kann doch nur dieser Hugo gewesen sein!“ „Wer nicht hören will, muss fühlen!“

Noch mal setzte Elsterhorst zu einer energischen Zurechtweisung an:

„Sollten Sie, meine Damen, nicht kooperieren, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die uns vorliegenden Informationen bereits ausreichen, um das Institut und das Haus sofort zu schließen. Für diesen Fall kümmern Sie sich schon mal um ein Notquartier. Vom Ergebnis der Einzelvernehmungen wird abhängen, ob und inwieweit es zu einer Übergangslösung kommt. Das Institut ist nach der offensichtlichen Flucht des gesamten Vorstands führungslos und in Auflösung begriffen.“

Die Einzelvernehmungen trugen allerdings nicht zur Aufhellung der mutmaßlich kriminellen Ereignisse bei. Das Prinzip „Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen“ bestimmte den Grundtenor aller Äußerungen. Einigen der Vernommenen diente das Haus als Frauenhaus. Sie zahlten eine relativ hohe Miete im Verhältnis zum meist dürftigen Wohnkomfort, die von den Sozialbehörden überwiesen wurde. Sie mussten dafür allfällige Arbeiten verrichten, im Haus, in der Küche, in der Wäscherei und Reinigungsarbeiten im Sanatoriums-Trakt. Andere waren halbtags irgendwo draußen tätig.

Fazit: Alle wussten von rein gar nichts. Niemand hatte angeblich in der Fluchtnacht irgendetwas gehört oder bemerkt. Was ziemlich unglaubhaft wirkte; denn wie kann eine Flucht mit derartig logistischem Aufwand, Computer- und Aktenmitnahme, dazu sicherlich auch ein Riesengepäck persönlicher Habe in vier oder maximal fünf nächtlichen Stunden leise arrangiert werden? Waren denn tatsächlich alle Hausbewohnerinnen bereits um 22 Uhr in ihren Zimmern? Saßen nicht welche im Gemeinschaftsraum, wo der Breitband-Bildschirm und das Fernsehprogramm lockten? Wurden die Chefinnen von Mitwisserinnen gedeckt?

Es gab ja einige, die überzeugt waren, es handle sich gar nicht um eine selbstinszenierte Flucht, sondern um das Werk von rachsüchtigen Männern, und die Damen, sämtlich ausgewiesene Persönlichkeiten, würden jetzt in irgendwelchen Verliesen missbraucht. Nie und nimmer würden diese über jeden Zweifel erhabenen Frauen ihr Institut freiwillig im Stich lassen. Vielleicht stecke ja hinter allem dieser unheimliche Hugo. Das bewiese ja schon, dass er bisher nicht aufgetaucht sei.

Ehe der Schlüsseldienst die erstaunlich luxuriös eingerichteten Apartments der Vorstandsdamen geöffnet hatte, wurde sogar die Hoffnung geäußert, die Frauen seien ja gar nicht weg, sondern lägen nur mit K.O.-Tropfen betäubt in ihren Betten, und die Ganoven hätten dann den von Hugo mit langer Hand vorbereiteten Raubzug in aller Ruhe durchführen können. In den Apartments aber lagen keine betäubten Frauen. Vielmehr war auch hier alles Wertvolle verschwunden. Bei Frau Dr. Frost-Breitbusch fand man in ihrem Nachttisch eine Europakarte mit rot markierten Routen in die Schweiz und nach Dänemark.

Frau Peters wusste, dass ihre Chefin einen Bruder in Australien und eine Schwester in Dänemark habe. Mit beiden habe sie regelmäßig über Skype telefoniert. So verstärkte sich der Verdacht, die Flüchtigen seien entweder nach Zürich unterwegs, um von dort nach Australien zu fliegen, oder nach Dänemark, wo es ohnehin ein dichtes Netzwerk von Feministinnen gäbe. Überhaupt seien sie ja alle leidenschaftliche Netzwerkerinnen. Jedes Mitglied dieser Community könne flächendeckend im ganzen Bundesgebiet bei Gleichgesinnten Gastfreundschaft genießen und Unterschlupf finden.

Allmählich kehrte so etwas wie angespannte Ruhe ein. Der von Frau Möbius installierte Schwesternrat wollte lieber auf das natürliche Prinzip ‚Selbstorganisation’ vertrauen. Frauen seien darin ohnehin geübter als Männer, die stets eine Hierarchie bräuchten. Frauen aber kämen gut ohne ein Oben und Unten aus. Statt im Netz wurde mobil telefoniert.

Die Büros und die Apartments der Leitungskräfte wurden ebenso versiegelt wie die Kellerräume. Aus Freiwilligen wurde ein Team von fünf Polizisten und Polizistinnen gebildet, die als Wache bis zum nächsten Tag zurückbleiben sollten. Ihnen wurden Zimmer im Sanatoriums-Trakt zur Verfügung gestellt, wo sie sich abwechselnd ausruhen konnten.

Der VW-Bus mit dem inzwischen ermittelten Kennzeichen war bisher nirgendwo gesichtet worden. Der Vorsprung der Damen war jedoch inzwischen so groß, dass sie auch mit der alten Rostlaube - wie man so sagt - über alle Berge sein könnten.

Frau Möbius würde sich in den kommenden Tagen durch mehrere CD arbeiten müssen, auf denen alle noch abrufbaren Mailbox-Nachrichten und Dialoge gespeichert worden waren. War das juristisch korrekt? Die Rechtsabteilung sagte Nein. Und konfiszierte erst einmal die Datenträger. Zudem wurde der Zugriff auf alle IT-Nummern und Passwörter, über die man auch vom Büro aus den Datenverkehr hätte kontrollieren können, bis zu einer richterlichen Entscheidung blockiert. Irgendwann wären sie dann veraltet; jedenfalls für die Spurensuche der Flüchtigen wertlos.


Töchter aus Elysium

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