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6. Hugo

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Gegen Mitternacht klingelte beim Kriminal-Dauerdienst das Telefon. Eine aufgeregte Stimme meldete sich:

„Hallo, ich bin die Polizeimeisterin Carla Schott. Ich gehöre zu Überwachungstrupp „Elysium“, den die Hauptkommissare Elsterhorst und Velmond eingesetzt haben. Es geht um einen sogenannten Hugo, Nachname unbekannt. Dieser Hugo galt gestern als ebenso verschollen wie die flüchtigen Leitungskräfte dieses Instituts. Bitte richten Sie den Hauptkommissaren aus: Seit 0:24 Uhr brennt in der Wohnung des Hugo Licht. Dort bewegt sich eine Person hinter den Gardinen. Wir greifen nicht ein. Wir warten auf Weisung. Over!“

Gottlob hielt man diese Meldung nicht für so dramatisch, dass man Hauptkommissar Lothar Velmond oder gar Maurice Elsterhorst aus dem Schlaf reißen müsste. Aber kurz nach 7 Uhr hielt man es doch für angebracht, die Meldung zumindest an Velmond weiterzugeben. Hauptkommissar Elsterhorst galt immer noch als gesundheitlich angegriffen; er hatte ja seine Kur überstürzt abbrechen müssen.

Begleitet von zwei Einsatzwagen raste Hauptkommissar Velmond zwei Stunden später abermals durch das offene Tor zum „Elysium“ - sein Ziel: die Einvernahme und vermutliche Festnahme von Hugo, von jenem Mann, mit dem Elsterhorst bereits mehrmals zusammengerasselt war. Damals hatte er auf Rinaldo geschossen. Seither wusste man: Hugo ist bewaffnet.

Hugo war nur als Hugo bekannt. Niemand wusste seinen Nachnamen. Hugo war jedoch seit je her da. Er diente schon in der Klosterzeit den Ordensschwestern als Haus- und Hofmeister. Er blieb im Anwesen, als die Nonnen verschwanden und weder ein neuer Mieter, noch Eigentümer in Sicht war. Offenbar war man froh, dort jemanden zu wissen, der nach dem Rechten schaute, allfällige kleine Schäden beseitigen und etwaige Einbrecher verjagen konnte. Daran änderte sich auch unter dem Emanzen nichts. Männer waren ja in ihren Augen ohnehin für die Drecksarbeit zuständig - als Sklaven gut zu gebrauchen.

Im Sanatoriumstrakt waren noch einige Jalousien runtergezogen. Soweit sich die Patienten aufgrund der gestrigen Ereignisse nicht selbst entlassen hatten, schliefen sie noch oder saßen beim Frühstück, das ausnahmsweise in den Zimmern serviert wurde. Der Zustand eines Mannes hatte sich - wohl aufgrund der Aufregung - verschlimmert. Er musste in eine Klinik verlegt werden. Im Haupthaus wohnten noch zwölf Frauen, die sich nach der faktischen Auslösung des Instituts zunächst mal zu einer losen Wohngemeinschaft zusammengeschlossen hatten.

Ohne Blaulicht und Sirene pirschten sich die Einsatzkräfte an die Klostermauern heran. Zwei Polizistinnen liefen ins Haupthaus, nahmen mit dem Wachtrupp Verbindung auf und forderten alle Bewohnerinnen auf, sich absolut ruhig zu verhalten. Die Aktion beträfe nicht sie.

Draußen allerdings hörte man Schüsse. Von den Fenstern im 2. Stock aus konnten die Beamtinnen erkennen, wie ein Mann, also wahrscheinlich Hugo, von seiner Wohnung über den Garagen auf irgendjemanden zielte und schoss. Als er sich vom Haupthaus aus beobachtet fühlte, schoss er auf einige Fenster, die klirrend nach innen fielen. Die Geschosse ließen den Putz von den Wänden rieseln. Die Frauen hatten sich zu Boden geworfen und robbten in die Schutz bietenden Zimmer an der Frontseite.

Mit einem Megaphon forderte Velmond Hugo auf, sich zu ergeben und ohne Waffe aus dem Haus zu treten. Nur so könne er seiner Verhaftung entgehen. Allerdings müsse er sich der Einvernahme unterziehen:

„Wenn Sie hier rumballern, verschlechtern sich mit jedem Schuss Ihre Chancen! Sie gefährden andere und sich selbst! Wir können warten, bis Sie Ihre Munition verschossen haben!“

Überraschend erschien Hugo an einem kleinen, schmalen Fenster, das wohl das Klofenster sein musste. Er brüllte hinaus:

„Da könnt Ihr lange warten. Ich habe ganze Kisten voller Munition aus Wehrmachtsbeständen. Ich habe sogar Panzerfäuste und Handgranaten und kann jederzeit den ganzen Laden in Schutt und Asche legen! Wer dieses Haus betritt, ist eine Leiche!“

„Herr Hugo, weshalb dieses Theater? Was haben Sie denn zu verbergen? Sie waren doch allenfalls Helfer. Sie haben doch nur vollzogen, was andere angerichtet hatten!“

„H e r r H u g o ? Dass ich nicht lache! So blöd bin ich noch nie angeredet worden. Wollt Ihr mich verscheißern? Ich war doch nur der Dreck unter ihren Stiefeln! Ob bei den Nonnen oder den Emanzen! H e r r ? Sie wollen mich wohl verarschen? Aber das kann ich Ihnen versichern: Selbst wenn Sie mich jetzt totschießen! Ich habe genau Tagebuch geführt über alle Verbrechen, die hier stattgefunden haben - und nur ich weiß, in welchen Gräbern auf unserem Friedhof Untermieter zu finden sind!“

„Darum geht es doch, Hugo! Sie sind doch nur Mitwisser. Sie sind Kronzeuge. Können auf Milde hoffen. Sie sind doch nur der Letzte, den die Hunde beißen! Geben Sie doch auf! Lassen Sie Ihr Schießeisen fallen!“

„Das ist doch nur ein Trick! Sie haben mich doch schon lange auf dem Kieker! Ich kenne Sie doch! Wenn Sie mich eingelullt haben, klicken die Handschellen. Da liefere ich Ihnen lieber ein Gefecht bis zur letzten Patrone und sterbe hier, wo ich mein beschissenes Leben geführt habe!“ Wie zur Bestätigung schoss er wieder in Richtung Klosterhof, wo die Querschläger durch die Luft sirrten.

„Hugo, ich komme jetzt rein zu Ihnen. Ich bin nicht bewaffnet. Ich will nur mit Ihnen reden. Ich habe keine Handschellen. Wenn Sie kooperieren, kommen Sie gut aus der ganzen Sache raus. Dann können Sie wahrscheinlich bald wieder zurückkehren oder gehen, wohin Sie wollen! Sie haben es in der Hand, ob Sie für immer hinter Zuchthausmauern verschwinden oder bald als freier Mann leben können!“

Lothar Velmond kam langsamen Schrittes mit erhobenen Händen aus seiner Deckung.

„Freier Mann! Dass ich nicht lache! Ich habe ja noch nicht einmal Papiere! Ich bin doch gar nicht existent! Was wissen denn Sie schon, wie es den Stiefelknechten dieser Scheißgesellschaft geht? Wann - glauben Sie denn - habe ich zuletzt Geld gesehen? Wann meinen Lohn bekommen, wenn ich ihn nicht erpressen konnte? Oh ja, wenn wieder was schief gelaufen war, dann klingelte mal ein kleines Sümmchen Schweigegeld in der Hand. Dumm genug, wie ich war! Schweigegeld! Wo sollte ich es denn ausgeben? Wofür? Die hatten mich doch in der Hand. Hugo! Hugo! Ich heiße nicht Hugo, damit Sie es wissen! Die haben mich doch nur zum Hugo gemacht! Hugo, Hugo - das ist doch nur eine Kurzform von Arschloch, von Mistkerl, von G’schwerl! Von Abtreter!“ Voller Wut schoss er abermals eine Salve in die Fenster des Haupthauses.

Velmond hatte inzwischen die Tür erreicht. Die Polizisten hatten das Haus umstellt und waren mit Hilfe zweier Bewohnerinnen über die Küche und Wäscherei in die ehemaligen Stallungen und jetzigen Garagen gelangt. Hinter Hugos Wohnung hatten sie Leitern angestellt. Einige Polizisten versuchten, ihn zu provozieren, damit er seine Position am kleinen Fenster nicht verlässt. Das war ja seine Schießscharte, hinter der er sich sicher fühlte. Dennoch verschwand er plötzlich. Offenbar hatte er Velmond gehört, der die Treppe zu seiner Wohnung hinaufzusteigen begann.

„Ich bin nicht bewaffnet, Hugo oder wie Sie immer heißen! Sie sind für mich nicht der Hugo. Ich will mit Ihnen sprechen. Ich will, dass Sie uns helfen. Unerlaubter Waffenbesitz - da kommen Sie drüber hinweg.“

„Bleiben Sie stehen, Herr Hauptkommissar! Euch Bullen kann man doch nicht trauen! Knöpfen Sie Ihre Jacke auf! Ziehen Sie Ihre Jacke aus, damit ich sehen kann, was Sie da drunter versteckt haben!“

Velmond folgte seinen Anweisungen. Hugo hielt seinen Gewehrlauf ständig auf ihn gerichtet. Da schepperte irgendetwas hinter ihm. Blitzschnell drehte er sich um und schoss blindlings eine Salve in den hinter ihm liegenden Flur. Dann hörte man nur noch das Klicken in seiner Waffe. Das Magazin war leer. Zwei Polizisten traten von beiden Seiten aus Zimmertüren, schlugen Hugo die Waffe aus der Hand. Er taumelte und fiel hinterrücks die Treppe hinunter, Hauptkommissar Velmond mit sich reißend, den er sofort an der Gurgel zu packen versuchte. Der aber rammte sein Knie mit voller Wucht zwischen Hugos Beine. Mit einem Aufschrei ließ dieser ihn los. Ein Beamter, der sich an der Haustür bereit gehalten hatte, bekam ihn an den zappelnden Füßen zu packen und zog ihn raus auf den gepflasterten Hof. Nun allerdings klickten die Handschellen.

„Hugo oder wie immer Sie wirklich heißen, das hätten Sie alles vermeiden können. Was in den letzten Sekunden zusammengekommen ist, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Tötungsversuche und so weiter und so weiter, jetzt wird es erst richtig schlimm für Sie! Abführen!“

Nachdem Hugo in Gewahrsam genommen war, konzentrierten sich die Beamten auf die möglichen Waffenverstecke. Sie wurden schnell fündig. Auf dem Dachboden der Stallungen stießen sie auf ein umfangreiches Waffenarsenal, ausschließlich Kriegswaffen der deutschen Armee. Ganze Kisten mit Munition, Handgranaten, Panzerfäuste. Wenn der Blitz mal in dieses Haus eingeschlagen hätte, nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Eine Sondereinheit wurde angefordert, um das gefährliche Gut zu bergen und abzutransportieren.

Velmond durchsuchte in aller Eile Hugos Wohnung. Er fand in der Schublade eines alten, wackligen Küchentisches ein paar Schreibhefte und alte Kalender. Dazu ein Sparbuch - noch auf Deutsche Mark lautend. Voller Erstaunen stellte er fest, dass Hugo in fast allen Zimmern Regale voller Bücher bis an die Decke hatte.

Das Hinterhaus wurde versiegelt. Im Haupthaus summte es wie in einem Bienenstock. Die Schießerei, die klirrenden Fensterscheiben, die in die Wände geballerten Geschosse, die Einsatzwagen, die jetzt rasch mit Blaulicht und Sirene aus dem Wald kamen, das war ja wie im Krieg. Aber so schnell, wie der Konvoi vorgefahren war, so schnell setzte er sich wieder in Bewegung. Nur eine kleine ‚Task Force’ blieb zurück. Velmond war sich dessen bewusst: Dies war erst - wie man zu sagen pflegt - die halbe Miete.

Eigentlich empfand Velmond Mitleid mit diesem Mann, so wie er Mitleid mit den vielen, unzählig vielen Hugos in dieser Gesellschaft empfand. Mit jenen, die die Drecksarbeit verrichten und dann noch ihren Kopf dafür hinhalten mussten. Oh ja, auch er selbst fühlte sich manchmal als Hugo. Und wenn er an die Soldaten in Afghanistan dachte, waren sie nicht alle Hugos?

Am nächsten Tag musste er ihn vernehmen, zusammen mit Elsterhorst und seiner Assistentin Möbius. Jetzt machte Hugo einen äußerst entspannten Eindruck, so als ob er froh wäre, dass nach viel zu langer Zeit eine qualvolle Epoche für ihn zu Ende gegangen wäre. Velmond übernahm die erste Runde:

„Ihr Name, Geburtsdatum, Geburtsort und Wohnsitz?“

Herr Hauptkommissar, mein bürgerlicher Name ist Franziskus Faller. Oder so ähnlich. Franz oder Franziskus. Jedenfalls muss das noch irgendwo registriert sein. Damit endet aber schon mein Wissen. Ich bin ein Bankert, vermutlich ein sogenanntes Pfaffenkind, Fehltritt eines Pfarrers oder Kaplans, abgeschoben in ein von Nonnen geführtes Waisenhaus. Vermutlich geboren 1948, Nachkriegskind. Einen Geburtstag habe ich nicht. Nur Namenstag. Wo ich wohne, wissen Sie ja!“

„Wann sind Sie in das Nonnenkloster St. Agatha gekommen?“

Nach der Schule, also wohl mit 14. War eine Befreiung!“

„Wieso? Welchen Schulabschluss haben Sie?“

Na ja, es ging sehr streng zu. Wir Pfaffenbankerts mussten wohl die Züchtigungen erleiden, die die Nonnen eigentlich unseren Erzeugern oder deren Liebchen zugedacht hatten. Es gab die unschuldigen Kindlein - und uns. Heute würde man sagen, ich habe einen Hauptschulabschluss. Ein Zeugnis habe ich nicht.“

„Und dann, Herr Faller? Erzählen Sie mal, wie den Ihr weiteres Leben ablief!“

Also wissen Sie, Herr Hauptkommissar, dieses ‚Herr Faller’ klingt so, als sei da noch ein anderer Mann im Raum. Dann schon eher ‚Franz’ oder lassen Sie’s beim ‚Hugo’. Also im Kloster oder vielmehr in der Ökonomie kam ich in die Lehre beim Fridolin. Der hieß auch nicht so, wurde aber von allen so genannt. Wissen Sie, unsereins ist nicht ‚Herr Soundso’, sondern eben Fridolin oder Hugo. Fridolin war ein Kriegsheimkehrer. Er erzählte mir oft von den wirren Tagen bei Kriegsende. Ende des Krieges diente das Kloster als Lazarett. Dann war es wohl ein Fluchtort versprengter Soldaten. Als die Amis kamen, hat Frido sich in dem verlassenen Gemäuer versteckt. Die Nazis und die Soldaten waren geflohen. Er hat dann im Park, im See, in den Ställen die Waffen und den ganzen Kram aufgesammelt. Hat er mir erst viel später gezeigt.

Früher, zu Zeiten der Nonnen, gab es ja noch Kühe, Schweine und Hühner sowie ein Pferd für den Wagen. Nachdem der Fridolin verstorben war, wurden die Tiere abgeschafft. Erst das Pferd, dann die Schweine, dann die Kühe. Jetzt gibt es nur noch meine Hühner.

Vom Fridolin habe ich alles gelernt. Wie man Stromanschlüsse legt, Wasserleitungen repariert, undichte Dächer. Dann natürlich alles, was im Garten zu tun ist. Die Nonnen lebten ja fast nur von dem, was die Ökonomie, der Garten und der Wald so her gab. Fischen habe ich gelernt, denn freitags gab’s ja nur Fisch oder, wenn wir nicht genügend Fische gefangen hatten, auch mal gar nichts. Auch für uns nichts.

Na ja, und dann war Fridolin auch der Totengräber .... Sie wissen ja, der Herr dort (er zeigte auf Elsterhorst) war ja mehrmals auf dem alten Friedhof. Als Fridolin starb, der war lange Zeit schwer krank, habe ich dann alles allein gemacht.“

„2005 ist ja dann das Nonnenkloster aufgelöst worden. Wissen Sie warum? Und wie ging es dann weiter?“

Steht mir ja nicht zu, Herr Hauptkommissar, aber ich hätte die Nonnen schon länger zum Teufel gejagt. So ein Haufen Weiber, die nichts zu tun haben außer beten, Religionsunterricht geben, andere traktieren, streiten, mit sich selbst nicht zurecht kommen und das dann an anderen und an mir vor allem auslassen. Ein paar sind weggelaufen. Merkwürdig viele sind gestorben. Ich vermute mal, die haben sich umgebracht. Weil ich die nicht auf dem Friedhof, sondern im Wald dahinter vergraben musste, in nicht geweihtem Boden. Zwei habe ich auf dem Hof aufgekratzt. Die haben sich angeblich aus dem dritten Stock gestürzt!“

„Wieso angeblich? Sie haben Tagebuch geführt, sagten Sie. Sind das diese Schulhefte, die ich im Küchentisch sichergestellt habe?“

Ob die vollständig sind, weiß ich nicht. Angeblich? Na ja, ich bin ja kein Kriminaler wie Sie, aber es könnte auch sein, dass die schon tot waren, als sie aus dem Fenster entsorgt wurden! Ich durfte ja das Haus nur zum Gottesdienst am Sonntag betreten, und nur in einer kleinen Nebenkammer. Und wenn mal wieder was kaputt war. Dann musste ich so eine Art Kutte überziehen, bodenlang. Ich wusste daher, dass im dritten Stock eigentlich keine Zellen waren. Nur ein Zimmer, eingerichtet wie ein Gästezimmer. Da habe ich mal eine Scheibe auswechseln müssen.“

„Und wie ging es dann weiter?“

Eines Tages waren die Nonnen weg. Alle mit einem Bus. Das Haus war leer. Die Schlüssel lagen in der Halle auf dem Tisch. Ich dachte erst, die machen einen Ausflug. Aber die kamen nicht zurück. Ich habe mich ganz vorsichtig durchs Haus geschlichen. Niemand da. Das war vielleicht gespenstisch. In der Kapelle stand der Tabernakel offen. Das Ewige Licht flackerte noch. In den Zimmern lag noch allerhand Kram. Die Betten nicht gemacht. Also da gab es ja nur so Wolldecken. Im Keller fand ich noch Vorräte, von denen ich mich einige Zeit ernähren konnte. Die Bücher aus der Bibliothek habe ich an mich genommen, also gerettet. Sollte ja nichts wegkommen.“

„Hat sich niemand um Sie gekümmert? Ihnen kein Geld dagelassen? Ihren Lohn?“

Der Lohn war doch stets das ‚Vergelt’s Gott’! Wenn ich zum Einkaufen gefahren bin, musste ich auf Heller und Pfennig alles abrechnen!“

„Sie haben einen Führerschein?“

Nein! Nie gemacht! Wie auch? Wir hatten so einen alten Wehrmachts-VW-Transporter. Mit dem bin ich manchmal nach Weilheim gefahren! - Als dann das große Haus leer stand, kamen immer wieder Leute. So Makler, denke ich. Die herrschten mich an, als sei ich der letzte Dreck. Als sei es selbstverständlich, dass ich mich um alles kümmere, ohne irgendein Entgelt. Ich hätte ja auch weggehen können; aber ohne Papiere? Ohne Geld? Da war noch ein Sparbuch. Mit dem Namen einer Nonne, die ich beerdigen musste! Das lag in einer Zelle unter dem Strohsack. Ich hab’s aufgehoben und aufbewahrt. Muss auch in der Schublade gelegen haben. Aber ich habe nichts davon genommen. Hätte ich ja auch nicht können.“

„Dann kamen die neuen Eigentümer!“

Na das waren ja vielleicht welche! Eigentümerinnen! Wie Managerinnen! Für die war ich nur noch Sklave! Da wurde ich nur noch rumkommandiert. Dagegen waren die Nonnen noch gold. Immerhin ging es jetzt geordneter zu. Ich bekam sogar ein Taschengeld. Die hatten offenbar Kohle. Viel Kohle; denn jetzt wurde renoviert. Wie die das ertragen haben, dass wochenlang Handwerker, also Männer! in ihrem sogenannten Elysium aus- und ein gegangen sind. Ich wusste ja nicht, was Feministinnen sind, und wie fanatisch die sein können. Ging mir erst ein Licht auf, als nur noch Weiber da waren, nur noch. Und wie bei den Nonnen, nur wenn ein Klo verstopft war, durfte ich ins Haus. Und das war oft. Ich frage mich auch warum. Ich sagte Ihnen ja, einmal Hugo, immer Hugo! Letztlich war das wie ein weltliches Kloster, eine riesige Wohngemeinschaft nur für Frauen. Alles Männliche verpönt. Ich habe dann so Zeitschriften aus dem Müll geholt! Da sind mir erstmal die Augen aufgegangen! Das ideale Leben - ohne Männer!

Aber ganz haben das nicht alle durchgehalten. Da flossen dann Schweigegelder, weil ich immer mal einen Mann über den See gerudert habe. Der wurde dann in der Grotte hinter der Muttergottes von Lourdes versteckt oder wartete im Bootshaus auf sein nicht gar so konsequentes Emanzenliebchen, und dann ging da was ab. Ich hatte ja den Schlüssel zur Grotte und zum Bootshaus. Ein heißes Spiel. Da hat es dann auch eine Katastrophe gegeben: Die Frau wurde mit Schlägen traktiert und weggejagt; von dem Mann fand ich keine Spur, nur alles voll Blut!

Nachdem dann der Sanatoriumsflügel angebaut wurde, kamen ja auch viele Männer. Manche waren ja gar nicht krank oder so. Konnte man mir ja nicht weismachen. Einer hatte sich mal tagsüber draußen versteckt, seine Tussi konnte aber nachts nicht raus. Wurde ja abgeschlossen. Die ist dann über ein Kellerfenster rausgeklettert. Ach und überhaupt der Keller, den müssen Sie sich mal ansehen. Da haben die Emanzen ihre Pillen selber hergestellt. Haben auch experimentiert. Dann ist einer an so einer Pille hopps gegangen. Den musste ich bei Nacht und Nebel begraben. Da fing das an mit der Doppelbelegung. Denn der sollte natürlich nie gefunden werden. Die Chefin gab mir die Anweisung. Sie meinte, unter den alten Grabplatten müsse doch jetzt Platz sein.“

„Blieb es bei der einen Doppelbelegung, wie Sie sagen?“

Nein, leider nicht. Eines Morgens entdeckte ich in der Grotte eine Tote, eine junge Frau, fürchterlich zugerichtet, halbnackt. Ich habe einen solchen Schrecken gekriegt. Mein erster Gedanke war, die wollen mir eine Vergewaltigung anhängen. Dann kam die Leiterin zu mir, zu mir! In meine Dreckswohnung! Sie legte mir einen Umschlag mit Euroscheinen auf den Tisch und sagte nur: ‚Hugo - weg mit ihr!“ und machte eine entsprechende Geste. Nie wurde darüber gesprochen. In der Küche nicht, in der Wäscherei nicht. Ich nehme an, dass es ein Eifersuchtsdrama gegeben hat. Emanzen sind da radikal.“

„Und Sie haben gehorcht?“

Was sollte ich tun? Ich bin ein Nichts! Ich habe keine Papiere. Die haben wohl die Nonnen mitgenommen. Was sollte ich mit dem Geld? Um zu fliehen, war es zu wenig! Ich habe keine richtige Ausbildung. Ich war damals 61, wenn mein Geburtsjahr stimmen sollte. Also? Einmal Hugo, immer Hugo! Das ist mein Los! Sie hätten mich ruhig erschießen können. Was hätte das geändert?“

„Viel! Wenn Sie das hier alles hinter sich haben, bekommen Sie neue Papiere. Der Orden muss Sie nachversichern und Ihren Lohn nachzahlen. Das Institut ebenfalls. Auch wenn die Leitung geflohen ist, da ist ja Vermögen, Grund. Vielleicht führt ein anderer das Sanatorium weiter. Wichtig ist, dass Sie mit uns kooperieren! Da müssen Leichen exhumiert werden. Nur Sie wissen wo! Sie können uns helfen, Ihre Tagebücher auszuwerten. Hilfreiche Daten, Beobachtungen. Angebliche Selbstmorde. Aber Sie werden verstehen: Nach den gestrigen Ereignissen können wir Sie nicht laufen lassen. Hätten Sie nicht geschossen, wäre alles viel einfacher!“

Uta Möbius hatte da doch noch eine Frage:

Herr Franz, wo Sie so die ganzen Jahre fast nur von Frauen umgeben waren, wie ging es Ihnen denn damit? Immerhin sind Sie ein Mann!“

Ach Frau Hauptkommissarin, ich bin von klein auf nur unter Frauen aufgewachsen, unter grässlichen Frauen. Lassen Sie es mich mal so sagen, ich habe sowas wie Liebe nie erlebt. Kann ich mir auch nicht vorstellen. Da war mal was mit einer dieser Emanzen. Die glaubte, wenn sie mit mir was machen würde, bekäme sie den bewussten Schlüssel. Ich habe das gleich durchschaut! Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber an Liebe glaube ich nicht. Eine von den Externen war ganz nett. Angela hieß die. Aber für so eine kommt ein Hugo nicht infrage. Die hat sich ja dann an Ihren Hauptkommissar Elsterhorst rangemacht. Ist ihr schlecht bekommen, wie ich gehört habe. Wie geht es ihr?“

„Sie ist über den Berg. Was ihre Verwundungen betrifft. Noch wissen wir nicht, ob sie je wieder sprechen kann oder sich erinnert!“

Zahlreiche Ermittlungen, zuletzt die spätere Einvernahme der Frau Dr. Berghoff, deuteten darauf hin, dass Hugo der einzige Mitwisser rätselhafter Todesfälle sowohl in der Klosterzeit, als auch im feministischen Elysium sein müsste.


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