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3. Mit Blaulicht
ОглавлениеMaurice Elsterhorst schaute entgeistert an die Decke seines Zimmers. Etwas verwirrte ihn. Noch war er zu schlaftrunken, um realisieren zu können, was es war. Blaulicht? Blaulichtfetzen? Hell, dunkel, hell, dunkel ... Blaulichtwölkchen über ihm? Spielte ihm sein Gehirn einen Streich? Träume eines Kriminal-Kommissars? Suchten ihn Nachtmare heim?
Nein, die flackernden Blaulichtwolken, die an den Vorhängen empor kletterten und über die Decke seines Zimmerchens rasten, waren real!
Elsterhorst schoss aus dem Bett. Nachts um 3 Uhr Blaulicht! Schließlich war er Profi, Blaulicht-Profi! Polizei? Feuerwehr? Krankenwagen? Also ran ans Fenster. Vielleicht würde er gebraucht?
Es war ein Krankenwagen. Gerade wurde jemand auf einer Bahre hineingeschoben, mit einem Infusionsgalgen und Sauerstoffmaske! Die Sanitäter hatten es offenbar sehr eilig. Sie knallten die Türen zu - oder hallte es in der stockdüsteren Nacht nur doppelt so laut? Sprangen ins Führerhaus. Der Kies knirschte unter dem rasant startenden Sanka. Die Lichter im Hof erloschen. Das Stimmengewirr zog sich ins Haus zurück. Elsterhorst schlich sich zur Tür, machte sie zunächst nur einen kleinen Spalt weit auf. Niemand war im Flur. Also traute er sich raus, im Schlafanzug und auf Zehenspitzen wagte er sich bis zur Treppe vor, von wo aus er in die Vorhalle schauen konnte. Dort stritt die Leiterin, Frau Dr. Frost-Heimbusch, mit zwei ihm bisher nie aufgefallenen älteren Frauen in weißen Kitteln. Zwar bemühten sie sich, leise zu sein, doch waren sie viel zu erregt, um sich zurücknehmen zu können.
„Was hätten wir denn machen sollen? Sie krepieren lassen? Und dann?“
„Das konnten wir vielleicht mit diesem etwas zu neugierigen illegalen Zimmermädchen machen, das hier schwarz gearbeitet hat. Mit dieser Slowakin. Die konnten wir spurlos verschwinden lassen. Aber so eine?“
„Wir hätten sie nie abtransportieren lassen dürfen! Ich kann nur hoffen, dass sie das Spital nicht mehr lebend erreicht! Oder dass sie nie wieder zum Verstand kommt!“
„Du, ich habe sie so übel zugerichtet! Selbst wenn sie überleben sollte, kann diese Schnüfflerin Zeit Ihres Lebens keinen klaren Gedanken mehr fassen!“
„Und wenn, dann besuche ich sie in der Klinik und - schwupps!“
Elsterhorst spitzte die Ohren. Das waren höchst alarmierende Sätze. Schade, dass er sie nicht mit dem Handy aufnehmen konnte. Es war ihm ja bei der Aufnahme abgenommen worden. Wahrscheinlich aber hätte das kleine Mikrophon die Sprachfetzen auf diese Entfernung gar nicht registriert.
„Wer weiß im Haus noch von dem Vorfall?“
„Nur wir drei und Olga. Ich habe sie absichtlich bis jetzt da unten liegen lassen, damit es keinen Auflauf gibt. Morgen werde ich höchstpersönlich das Blut wegputzen. Dreimal hintereinander mit scharfen Mitteln. Da sieht man dann auch unter Ultraviolett-Licht nichts mehr. Die Blutflecken auf der Treppe, die lasse ich. Wir haben ja den Typen gesagt, sie sei die Treppe runter gestürzt.“
„Wie konnte es nur passieren, dass diese Schnüfflerin bis in den geheimen Keller gelangen konnte! Wir hätten eben doch ein elektronisches Sicherheitssystem einbauen lassen müssen. Mit Fingerprint- oder Iris-Abgleich! Ich werde das morgen gleich mal in die Wege leiten!“
„Schließlich ist auch in pharmazeutischen Laboratorien und in der Fertigung der Zugang nur unter schärfsten Sicherheitskontrollen möglich!“
„Also noch einmal, kein Sterbenswörtchen! Wenn jemand nach Schwester Angela fragen sollte, nur antworten ‚Sie hat uns leider verlassen!’ Und besondere Vorsicht bei Kommissar Elsterhorst. Der darf absolut keinen Verdacht schöpfen. Den müssen wir jetzt behandeln wie ein rohes Ei. Ab sofort VIP-Programm! Das übernimmst am besten ab sofort du!“
Die drei Frauen verschwanden durch die vergitterte Tür ins Haupthaus.
Elsterhorst huschte schnell in sein Zimmer zurück und versuchte, den Wortlaut der abgelauschten Sätze in den Deckel eines Schuhkartons zu kritzeln, in dem ihm Judith seine Joggingschuhe überbracht hatte. Dort würde sicher niemand irgendwelche geheimen Notizen vermuten. Morgen würde er versuchen, Velmond oder besser noch Kriminaldirektor Metzner zu erreichen - wie auch immer. Aber ohne Handy? An sich würde das Erlauschte bereits reichen, den Laden hopps gehen zu lassen. Aber da war noch die Sache mit der Leiche auf dem Friedhof zu klären.
Trauer überfiel ihn; denn bisher hatte er nur vermutet, Schwester Angela, alias Frau Dr. Berghoff, habe ein, zwei Tage Urlaub oder sei unpässlich. Ja, er hatte sie tatsächlich vermisst. Sie war zu ihm wie die Morgensonne, stets mit einem netten Spruch auf den Lippen, zudem sehr um ihn besorgt. Und nun? Nun musste sie mit Blaulicht und Sirene in das nächste Krankenhaus gefahren werden? Was hatte diese Weißkittelfrau gesagt? Sie habe die Schwester Angela absichtlich tage- und nächtelang irgendwo im Keller liegen gelassen? Unterlassene Hilfe? Am liebsten hätte er sofort, noch in dieser Nacht, eine ganze Kohorte Polizei angefordert und die Handschellen klicken lassen. Schluss mit diesem Verbrechernest! Unruhig, zitternd trippelte er in seinem Zimmer auf und ab. Riss das Fenster auf, um die kalte Nachtluft reinzulassen - und ertappte sich dabei, dass er die Gedanken an die geschätzte Angela nicht abschütteln konnte. Ihr Gesicht! Wie mochte sie zugerichtet worden sein? Würde sie je wieder gesund werden? Diese hübsche, sympathische Frau! Es dauerte lange, bis Elsterhorst endlich in einem Erschöpfungsschlaf versackte.
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In der Ambulanz des Starnberger Klinikums herrschte große Aufregung. Aus dem Krankenwagen waren erste Diagnosen durchtelefoniert worden: Viele Hämatome, Verdacht auf Schädelbruch, total verschwollenes Gesicht. Blutende Wunde am Hals wie von einem Messer. „Die Treppe runtergefallen? Das müsste eine sehr steile und lange Treppe gewesen sein, die unten in einem Lager von Stacheldraht endet! Keine Papiere bisher. Sie wurde Schwester Angela genannt. Gegenwärtig ist sie bewusstlos. Lebensgefahr ist nicht ausgeschlossen. Sehr schwache Werte, hoher Blutverlust!“
Diese Diagnose aus dem Krankenwagen zwischen Feldafing und Starnberg erwies sich fast noch als zu optimistisch! Ihr Zustand war äußerst kritisch. Das ganze Notfallprogramm lief an. Sofort wurden Fotos der äußeren, sichtbaren Verletzungen gemacht. In großer Eile wurde Schwester Angela auf die Intensivstation gebracht. Dort beschlossen die Ärzte, sie in ein künstliches Koma zu versetzen.
Am nächsten Morgen ließ sich Klinikleitung mit der Kriminalpolizei in München verbinden. In der vergangenen Nacht sei eine äußerst schwer verletzte Frau unter dem Namen ‚Schwester Angela’ aus dem Wald-Sanatorium Elysium eingeliefert worden. Die Verletzungen deuteten mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Gewaltdelikt hin.
„Elysium? Das ist doch das Sanatorium, in dem Kollege Elsterhorst zur Kur ist?“ Frau Möbius versuchte sofort, mit ihm über die Sanatoriumsleitung Verbindung aufzunehmen. Da dies misslang, Elsterhorst auch nicht über sein Dienst-Handy erreichbar war, schöpfte man in der Mordkommission II Verdacht. Die Starnberger Klinik wurde angewiesen, die Patientin strikt isoliert zu halten. Es sei kein Besuch zuzulassen. Sobald Schwester Angela vernehmungsfähig sei, sei Hauptkommissar Lothar Velmond zu benachrichtigen.
Die Nachricht über den Zustand der Patientin Angela wirkte im höchsten Maße alarmierend. Sogar Kriminaldirektor Metzner drängte nun darauf, dass Hauptkommissar Velmond sich unverzüglich in dieses merkwürdige Elysium zu begeben habe, um die näheren Umstände der lebensgefährlichen Verletzungen zu ermitteln. In einem zweiten Fahrzeug folgten Spezialisten der Spurensicherung.
Als Frau Hendrix zögerte, die Tore zu öffnen, weil sie erst die Direktorin fragen müsse, drohte Velmond, das Türschloss zu zerschießen, wenn sie nicht sofort binnen zehn Sekunden den Weg frei gäbe. Der kleine Trupp stürmte sofort in die Halle; Velmond ließ die Leiterin herbeirufen. Inzwischen war auch Elsterhorst aufgetaucht, allerdings noch übernächtigt im Bademantel und mit den roten Flipflops. Zwar waren die beiden Hauptkommissare nie so richtig Freund geworden, jetzt war er jedoch so beglückt, dass er seinen Kollegen sogar in die Arme schloss und ihm in kurzatmigen Sätzen seine Beobachtungen zu flüsterte und verriet, es handle sich bei Schwester Angela in Wirklichkeit um eine Frau Dr. med. Angela Berghoff.
„Wo ist Frau Dr. Berghoff die Treppe runtergestürzt?“ fragte Lothar Velmond.
„Frau Dr. Berghoff? Ich kenne keine Frau Dr. Berghoff!“ erwiderte die bleichgesichtige Direktorin.
„Welche Frau ist heute nacht um 3:13 Uhr hier mit einem Krankenwagen abtransportiert worden?“ Velmond hakte in ungewohnter Schärfe nach.
„Ach Sie meinen die arme Schwester Angela, die so unglücklich gestürzt war?“
„Wo ist sie gestürzt?“
„Bei uns im alten Haupthaus. Wissen Sie, die Treppen in diesem Gemäuer sind halt steil!“
„Wo ist diese Treppe?“
„Da dürfen Sie nicht rein. Das Haupthaus darf nach unserer Satzung von Männern nicht betreten werden! Nur in medizinisch angesagten Notfällen, falls eine weibliche Ärztin nicht verfügbar ist!“
„Frau Dr. Frost-Heimbusch, wir werden auf ihre Satzung keinerlei Rücksicht nehmen. Sie haben uns, also mir und der Spurensicherung, jetzt sofort den Weg freizugeben und allen Anordnungen Folge zu leisten. Anderenfalls müssen wir ihr sogenanntes Haupthaus und das Sanatorium sofort räumen und schließen lassen. Und - falls sie es bisher nicht wussten: Schwester Angela ist identisch mit Frau Dr. med. Angela Berghoff! Sie schwebt in Lebensgefahr. Und jemand aus Ihrem Haus steht unter dem Verdacht des Totschlags und der unterlassenen Hilfeleistung!“
Velmond schubste die Leiterin und die inzwischen aufgetauchten anderen Weißkittel-Frauen zur Seite und gab dem Trupp Zeichen, ihm zu folgen.
Eine der Frauen versuchte dennoch, sich den Polizisten in den Weg zu stellen:
„Aus Gründen der Hygiene und der sterilen Eigenfertigung unserer Medikamente dürfen Sie nur die Treppe, aber nicht die anschließenden Produktionsräume betreten!“
Lothar Velmond ließ sich nicht im Geringsten in seinen Ermittlungen aufhalten. Er las den Namen der Frau von ihrem eingenähten Schild ab:
„Frau Dr. Winfriede Lepper, wir haben eine Zeugenaussage, dass Sie heute nacht in einem Gespräch mit der Leiterin und einer weiteren Frau für den Zeugen vernehmbar erklärt haben, sie hätten Frau Dr. Berghoff, alias Schwester Angela, absichtlich mehrere Stunden oder gar Tage im Keller liegenlassen, und sie würden eigenhändig das Blut gründlich wegschrubben, so dass keine Spuren mehr gefunden werden könnten. Ich nehme Sie hiermit fest wegen des Verdachts des in Kauf genommenen Todes der Frau Dr. Berghoff. Und Sie übergeben mir jetzt sämtliche Schlüssel!“ Zum ersten Mal in seinem langen Berufsleben als Kriminalbeamter ließ er - wie er später sagte: zur Abschreckung - einer Frau Handschellen anlegen. Unter der Bewachung einer Polizistin wurde sie zum Auto gebracht.
Die Leiterin stürzte hinzu und wollte Velmond den Schlüsselbund entreißen: „Ich fordere Sie hiermit auf, das Haus zu verlassen. Sie haben keinen Durchsuchungsbeschluss. Ich habe bereits unsere Rechtsanwältin benachrichtigt. Sie ist auf dem Wege nach hier und wird in wenigen Minuten eintreffen.“
„Frau Dr. Frost-Heimbusch, es ist Ihr gutes Recht, Ihre Anwältin herbeizurufen. Jedoch müssen wir aus Gründen der Beweissicherung in einem Kapitalverbrechen darauf bestehen, den vermuteten Tatort abzusperren. Der Durchsuchungsbeschluss ist übrigens ebenfalls unterwegs nach hier.“
Inzwischen hatte sich Hauptkommissar Elsterhorst angekleidet und bot seinem Kollegen an, die Besprechung mit der Anwältin zu übernehmen, während Velmond mit seinen Leuten die Kellertreppe in Augenschein nahmen. Helle Lampen erstrahlten. Zwar waren Blutspuren nicht zu übersehen; aber nichts deutete darauf hin, dass sich dort jemand beinahe zu Tode gestürzt hätte. Die Blutspuren führten zu einer der Türen am Ende des Kellerflurs.
Betreten für Unbefugte strengstens untersagt!
Nur in steriler Kleidung betreten!
stand auf einem Schild. Mehrere Sicherheitsschlüssel mussten ausprobiert werden, bis die beiden Schlösser geöffnet werden konnten.
Nun standen Velmond und seine Leute in einem großen weiten, nach Chlor riechenden Gewölbekeller mit mehreren Nischen, in denen Flachbildschirme, Computer und diverse Apparate standen. An den Wänden Regale mit großen Glasgefäßen, in denen sich ein weißes Pulver befand. In einem weiteren Kellerabteil wurden offenbar Flaschen mit Leitungswasser abgefüllt und an einem Tisch mit einer Papierlasche etikettiert: „Wasser aus der Heilquelle St. Agatha“.
Auffällig helle Areale auf dem Kellerboden verrieten, dass dort äußerst emsig geschrubbt worden war. Eine Flasche mit hochkonzentriertem Schimmelpilz-Entferner auf Chlorbasis stand in Griffnähe. Hier in der Tat würde man keine Blutspuren mehr finden.
Leider traf der Bote mit dem Durchsuchungsbeschluss aufgrund eines Verkehrsstaus nicht rechtzeitig ein. Velmond und sein Trupp waren daher auf Veranlassung der rotblonden Rechtsanwältin gezwungen, die Ermittlungen vor Ort einzustellen. Allerdings hatten die Leute inzwischen genügend Proben von den Stufen kratzen können. Gestützt auf die Aussage von Hauptkommissar Elsterhorst wurde Frau Dr. Winfriede Lepper mit nach München in Untersuchungshaft genommen.
Elsterhorst hatte zunächst erwogen, seinen Aufenthalt abzubrechen, da er nun gegenüber der Sanatoriumsleitung eine zwiespältige Rolle spielen müsse. Doch dann entschloss er sich gerade deshalb, im Haus zu bleiben. Hier - davon war er überzeugt - gäbe es noch viel mehr zu ermitteln. Dafür war es geradezu ratsam, den Laden noch eine Weile weiter laufen zu lassen.
Lothar Velmond stattete auf der Rückfahrt noch dem Starnberger Klinikum einen Besuch ab, um mit den behandelnden Ärzten zu konferieren. „Schwer verletzt, aber außer Lebensgefahr!“ lautete die Diagnose. Frau Dr. Berghoff sei total entkräftet und ausgetrocknet gewesen. Schwere Gehirnerschütterung, nicht durch einen Sturz, sondern durch Fußtritte. Ob sie jemals wieder zu klarem Verstand kommen würde, könne man so kurz nach der Einlieferung nicht sagen. Die äußeren Verletzungen seien dagegen sicher zu heilen.
Übrigens habe man in den Taschen ihres Kittels ziemliche Mengen von Globuli sowie Tabletten gefunden. Eine erste Analyse im Labor habe ergeben, dass es sich ausschließlich um Placebo-Präparate handle, Traubenzucker und Stärkemehl.
„Es ist nicht auszuschließen, dass irgendjemand von dieser zweifelhaften Institutsleitung versuchen könnte, Frau Dr. Berghoff zu töten, mit einer Spritze oder wie auch immer. Sie darf keinesfalls Besuch bekommen und nicht in einem Raum liegen, der von jemand Unbefugten betreten werden kann. Auch von der Parkseite her nicht! An der Pforte darf niemand Auskunft geben, wo Frau Dr. Berghoff liegt! Dies ist eine polizeiliche Anordnung!“
In der Ettstraße konferierten Kriminaldirektor Metzner, Lothar Velmond und der zugeschaltete Maurice Elsterhorst über die weitere Vorgehensweise. Um in das Innere des Systems vorzudringen, wäre es erforderlich, eine Frau einzuschleusen, zumal jetzt Frau Dr. Berghoff als Informantin ausfalle.
Nach einigem Zögern willigte Uta Möbius ein, sich als von ihrem Mann seelisch misshandelte Frau in das „Kloster der Emanzen“ zu flüchten. Mit Elsterhorst als ihrem Schutzpatron für alle Fälle.