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2 Kirche ohne Mission?

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Angesichts der Lage der Dinge drängt sich die Frage auf: Wie steht es in der evangelischen Kirche eigentlich um ihren missionarischen Auftrag? „Die Kirche Jesu Christi gibt oder wählt sich ihren Auftrag nicht selbst, sondern sie empfängt ihn von ihrem Herrn“ – so war es in der EKD-Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ (2008) zu lesen. Worin aber besteht dieser Auftrag? Nirgends ist er klarer formuliert als am Ende des Matthäusevangeliums, wo der Auferstandene seine Jüngerschaft in alle Welt sendet25. Demnach ist der Auftrag der Kirche identisch mit dem Missionsbefehl. Michael Diener unterstreicht diese Einsicht: „Zur speziellen Berufung des Pfarrdienstes gehört es meines Erachtens, andere zu Jüngern zu machen. Gemäß dem Missionsbefehl […] Jüngerschaft leben und zu Jüngern machen, das ist unser Auftrag, unsere Berufung.“26 Auch der frühere bayerische Landesbischof Johannes Friedrich betont: „Der sogenannte Missionsbefehl ist eindeutig: Wir sind zu allen Menschen gesandt mit der Verkündigung des Evangeliums. Wir sind Volkskirche und wollen Volkskirche sein, unabhängig davon, wieviel Prozent der Bevölkerung Mitglied in unserer Kirche sind. Unsere Botschaft ist wichtig für alle Menschen!“27 Missionarisch zu sein, sei ein Wesenszug der ganzen Kirche – von allem Anfang an: „Wie hätte sie sich sonst auch ausbreiten können?“28

Aber was theoretisch klar ist, muss in der praktischen Umsetzung nicht unbedingt geklärt sein. Das aktuelle Bild von evangelischer Kirche gibt in Sachen Mission durchaus Anlass zu kritischen Fragen. So beklagt etwa der evangelische Pfarrer Martin Brändl: „Traditionelle Kirche hat nicht zuletzt vielfach verlernt, missionarische Kirche zu sein.“29 Das Thema „Mission“ im neutestamentlichen Sinn scheint in den zwanzig Mitgliedskirchen der EKD mittlerweile eher an den Rand geraten oder aber „transformiert“ worden zu sein.

Gewiss gibt es nach wie vor zuständigkeitshalber das Evangelische Missionswerk in Deutschland (EMW), in dem evangelische Kirchen, Missionswerke, Freikirchen, missionarische Vereine und Verbände zusammengeschlossen sind. Doch was dessen Arbeit angeht, so fließen hier Hauptkräfte in Programme des interreligiösen und ökumenischen Dialogs sowie „entwicklungsbezogener“ Zusammenarbeit mit Christen in Übersee. Theologisch verlautbart wird: „Die Kirche erhält den Auftrag, das Leben zu feiern und in der Kraft des Heiligen Geistes Widerstand gegen alle Leben zerstörenden Kräfte zu leisten und sie zu verwandeln.“30 Ob in dieser spirituellen Formulierung noch der Missionsauftrag Jesu wiederzuerkennen ist, darüber ließe sich zumindest streiten.

Was die Frage aktiver Mission in Deutschlands evangelischen Kirchen und Gemeinden angeht, so erinnert man sich gern an frühere Zeiten: Vor über dreißig Jahren gab es noch die sogenannte „missionarische Doppelstrategie“ der VELKD. Sie ging davon aus, dass sowohl öffnende Tätigkeiten der Volkskirche als auch verdichtende Tätigkeiten der Mission erfolgen sollten. Ein Entweder-oder bei der Frage der Erhaltung und Wiedergewinnung von Mitgliedschaft war damals verpönt. Kirche bewegte sich noch sehr bewusst im Spannungsfeld zwischen „versammelter und aufbrechender Gemeinde, tröstender und befreiender Zielsetzung, intensiver und extensiver Arbeit, Öffentlichkeitsarbeit und persönlicher Evangelisation“31. Die intensiven Programme des „missionarischen Gemeindeaufbaus“ in der Volkskirche vor drei, vier Jahrzehnten folgten der Grundentscheidung, bei den Kirchentreuen als „Keimzelle normalen Gemeindelebens“ anzusetzen und Fernstehende aktiv zur Umkehr einzuladen32. Doch von missionarischem oder gar evangelistischem Engagement in den Landeskirchen ist heutzutage kaum mehr viel zu bemerken33. Zwar sprach noch das Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ (2006) ausdrücklich vom „Wachsen gegen den Trend“34. Und Bernhard Felmberg erklärte als der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Europäischen Union noch 2011 zum Thema „Missionarisch Volkskirche gestalten“: „Der Dialog über die missionarische Gestaltungsaufgabe der Kirche ist so nötig wie selten zuvor. Wir müssen uns bewegen, und wir müssen uns offenbar noch stärker auf die Menschen zubewegen, als es uns bislang trotz aller Anstrengung gelingt.“35 Indes – von entsprechenden Anstrengungen ist inzwischen immer weniger zu bemerken. Selbst der stetig weiter absinkende kirchliche Mitgliederstandspegel ändert nichts an der um sich greifenden Vernachlässigung des Missionsbefehls.

Allein in der Evangelischen Kirche im Rheinland gab es 2014 ein Impulspapier unter dem schönen Titel „Missionarisch Volkskirche sein“. Doch hier drohte sich der Missionsauftrag Jesu auf Ethik zu reduzieren. So wurde von ihm einerseits nur gesagt, die Worte „Macht sie zu Jüngern“ (Mt 28,19)36 würden „auf die Kommunikationsfähigkeit“ zielen. Andererseits wurden die Worte „Lehret sie halten alles […]“ (28,20) im Papier rein ethisch gedeutet: „Lasst nicht nach, Zeichen der Solidarität, Zeichen der Barmherzigkeit, Zeichen der Gerechtigkeit zur Linderung der Not in unserer Welt – in der eigenen Gemeinde, in der eigenen Umgebung, in den Partnerkirchen, in den Diakonischen Werken und anderswo – zu setzen.“37 Selbstkritisch wurde immerhin gefragt: „Sind wir in dem, was wir als Kirche herausgeben oder mit dem, was wir tun, als evangelisch erkennbar? Oder könnte dieser Projektzweck auch von Greenpeace, Amnesty International oder Ärzte ohne Grenzen verwirklicht werden? Gibt es also ein kirchliches Alleinstellungsmerkmal […]?“ Genau dies fragt mittlerweile auch als Praktischer Theologe Joachim Kunstmann: Für andere da zu sein, das sei für die evangelische Kirche fraglos eine notwendige Aufgabe – doch die könne im Prinzip auch von anderen getan werden: „Wenn die Kirche sich nicht religiös, sondern sozialethisch bestimmt, versäumt sie ihren eigentlichen Zweck.“38 Sie willige dann in ihre Degradierung ein: „Eine an Erfolg und Konsum orientierte Gesellschaft weist der Kirche die soziale Problemverwaltung zu.“ Eine Kirche, die nicht bei ihrem Kernauftrag bleibe, mache sich ersetzbar39.

Dass es zu einer auffälligen Vernachlässigung des neutestamentlichen Missionsauftrags in der evangelischen Kirche kommen konnte, hat offenkundige Gründe in den bereits angesprochenen Veränderungen der theologischen Landschaft. Das Konzept des Missionarischen hat im Zeichen einer sich immer mehr durchsetzenden liberalen Theologie ganz folgerichtig nur noch wenige Chancen. „Ist Mission als überholte Aufgabe zu betrachten, die zwar Teil der Christentumsgeschichte ist, aber in das Zeitalter des interreligiösen Dialoges nicht mehr hineinpasst?“, fragt Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen40. Nicht zufällig kam es zu Korrekturen in einschlägigen Namensgebungen: Das „Missionswerk Bayern“ heißt seit seiner Fusion mit dem Kirchlichen Entwicklungsdienst 2007 programmatisch „Mission EineWelt“ – diese Bezeichnung signalisiert eher ein neu- oder kulturprotestantisch gefärbtes als ein biblisch begründetes Missionsverständnis. „EineWelt“ heißt auch die Zeitschrift des Evangelischen Missionswerks. Und die einstige „Zeitschrift für Mission“ nennt sich seit 2008 „Interkulturelle Theologie“ – der bisherige Titel wurde zwecks Wiedererkennung zum Untertitel degradiert.

Exemplarisch für die Entwicklung ist Paul Knitters Vorschlag einer Umdefinition des Missionsbegriffs: Er solle künftig besagen, dass „die an alle Völker ergehende Verkündigung des Evangeliums den Christen zu einem besseren Christen und den Buddhisten zu einem besseren Buddhisten macht“41. In einem solchen Klima ist namentlich der Gedanke an Judenmission – zumal in Deutschland nach dem Holocaust – obsolet geworden42. Und in Sachen Weltmission sieht Katharina Kunter schon lange den Umbruch gekommen: „Heil“ werde nur noch schwergewichtig als Befreiung aus bestimmten politischen und sozialen Unrechtssituationen interpretiert – und Mission nicht mehr als „Weltmission, sondern als Erneuerung der Kirchen nach innen hinein und in ihren zwischenkirchlichen Beziehungen“43. Bezeichnend sind auch neuere Äußerungen des Neuendettelsauer Missionstheologen Dieter Becker: Er hält es für „unabdingbar, dass wir uns nicht auf ausgetretenen Pfaden bewegen und an alte Denkmodelle klammern“; vielmehr seien „wir zu Revisionen unserer Theologie genötigt“44. Unser Glaube selbst verändere sich heutzutage, er befinde sich in einem „Transformationsprozess“, und das bedinge auch eine Nötigung zur (missions-)theologischen Konzeptänderung. So meint Becker etwa, der Geist Gottes mache willig, religiöse Grenzen zu überschreiten – und gerade auf diese Weise geschehe „das, was wir die Mission Gottes nennen“. Dabei weiß Becker genau, dass auch gerade „die ‚Multiperspektivität‘, von der die pluralistische Religionstheologie ausgeht, kulturell bedingt ist […]. Der Pluralismus wird zum absoluten Dogma gemacht, und andere Absolutheitsansprüche werden nicht toleriert.“45 Doch auch die „Dogmen“ liberal-theologischer Gesinnung haben ihre Absolutheitsansprüche. Im Zeichen ihrer Vorherrschaft in Theologie und Kirche kann der Missionsbefehl Jesu schwerlich in authentischer Weise umgesetzt werden46.

In selten gewordener Deutlichkeit erinnert indessen Hans-Hermann Pompe vom EKD-Zentrum für Mission in der Region47 an die praktische Notwendigkeit der Besinnung auf den Kernauftrag des Auferstandenen: „Eine unmissionarische Gemeinde ist so absurd wie ein ständig geschlossenes Postamt: Sie verfehlt ihren Auftrag.“ Alle Kirchen seien beauftragt, die Botschaft von Gottes unbedingter Liebe weiterzugeben. „Wo wir das vergessen, wird das Evangelium selber für uns zum Störfaktor: Es lässt sich nicht um Mission verkürzen.“48 Demnach geht es weniger um Missionswerke, missionarische Arbeitsgemeinschaften49 und Evangelisationszelte50 als vielmehr um missionarische Gemeinden vor Ort. Genau das hat Karl Barth unter Evangelisation verstanden: „die Ausrichtung der Botschaft in der näheren Umgebung der Gemeinde“51. Mit Pompe gesprochen: „Die Gemeinde ist die Kinderstube für neue Christen, die Ausbildungsstätte für das Leben in der Nachfolge, das Asyl der Unterdrückten. Sie trägt die höchste Auszeichnung dieser Welt: In ihr als seinem Leid ist der Erlöser gegenwärtig.“ Nur wo evangelische Kirchengemeinden das begreifen und demgemäß missionarisch-evangelistisch über ihre „öffentlichen“ Sonntagsgottesdienste und ihre notwendigen Bildungswerke52 hinausdenken, wird Kirche wieder wachsen können53.

Sowohl kirchenleitende Organe als auch Pfarrerinnen und Pfarrer müssen zusammen mit ihren Mitarbeitenden neu lernen, Gemeindeaufbau vom Missionsauftrag her zu denken54. Demgemäß gilt es dafür Sorge zu tragen, dass dieser Auftrag immer wieder ins Bewusstsein gerufen und die Identifikation mit den Inhalten der christlichen Grundbotschaft gefördert wird. Gelingen kann dies nur, wenn der Spagat zwischen dem auch heute zu verantwortenden kirchlichen Bekenntnis zu Jesus Christus und von liberaler Seite empfohlenen theologischen „Transformationsprozessen“ nicht länger überdehnt wird.

Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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