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4 Kirche ohne Heiligkeit?
ОглавлениеKirche braucht keinen Heiligenschein. Aber Ausstrahlungskraft sollte sie schon haben. Das ist auch unbestritten – innerhalb und außerhalb der Kirchenmauern. Umstritten ist allerdings, was da näherhin ausstrahlen soll. Doch nicht etwa Heiligkeit im Sinne von Weltfremdheit? Selbst wenn ein Papst wie Benedikt XVI. der zunehmenden Entkirchlichung der Welt eine verstärkte Entweltlichung der Kirche entgegensetzen wollte, stieß er damit schließlich unter vielen Christen nur auf Kopfschütteln88 !
Dabei lässt sich gar nicht bestreiten, dass das Apostolische Glaubensbekenntnis ausdrücklich von der heiligen Kirche spricht – und zwar im Artikel über den Heiligen Geist, in dem dann auch noch von der „Gemeinschaft der Heiligen“ (oder anders übersetzt: am Heiligen) die Rede ist. Demnach – und das bestätigt auch der exegetische Befund im Neuen Testament89 – ist es durchaus angebracht, Kirche und Heiligkeit, Gemeinde und Heiligung in engstem Zusammenhang zu sehen. Manfred Josuttis unterstreicht daher: „In der Kirche kommt es zur Gegenwart des Heiligen in der Gesellschaft.“90
Was aber heißt dann „heilig“ genauer? Religionswissenschaftlich hat der evangelische Theologe Rudolf Otto in seinem berühmten Buch „Das Heilige“ (1917) gezeigt, dass der Begriff des Heiligen eine eigenständige Wertkategorie jenseits von Moral und Dogma bezeichnet: Es geht um numinose, irrationale, also schwer zu beschreibende Erfahrungen von göttlicher Übermacht, Güte und Geborgenheit. In zwei gegensätzliche Richtungen drängen für Otto die grundlegenden Eigenschaften von Heiligem: in die Momente von mysterium tremendum und mysterium fascinans. Das heißt auf Deutsch: Die geheimnisvolle Erfahrung des Heiligen erzeugt Furcht und fasziniert zugleich positiv. Man fühlt sich an Luthers Auslegung der Zehn Gebote im Kleinen Katechismus erinnert: „Wir sollen Gott fürchten und lieben […].“ Nur dass es nach Otto beim Phänomen des Heiligen nicht um ein moralisches Sollen geht, sondern um unmittelbare Begegnung und Erfahrung mit ihren verwandelnden Auswirkungen.
So gesehen ist es verständlich, dass die eher von Vernunft- und Ethikempfehlungen geprägte Religiosität des alten und neuen Kulturprotestantismus mit dem Begriff des Heiligen weniger anfangen kann als traditions- und bekenntnisorientierte Spiritualität. Dabei ist Letztere durchaus in der Gefahr, Heiliges zu sehr mit Moralischem zu verwechseln. Und das irritiert dann umso mehr, als doch eine Grundeinsicht evangelischer Rechtfertigungslehre die Freiheit von Gesetzlichkeit umfasst – nach dem von Paulus zitierten Motto: „Alles ist mir erlaubt“ (1. Kor 6,12 und 10,23). Allerdings schränkt der Apostel diesen Spitzensatz sofort wieder ein durch die Formulierung: „Aber nicht alles dient zum Guten.“ Hiermit wird der Blick vom Interesse des Ego, dem alles erlaubt ist, auf das Wir, auf das Gemeinschaftsinteresse gelenkt. Und dies entspricht dem Liebesgebot, mehr noch: der Liebeserfahrung, die von Gott und seinem Heiligen Geist ausgeht. So meint die Freiheit eines Christenmenschen keineswegs einen blanken Libertinismus, sondern das Geprägtsein durch ein neues, befreiendes Herrschaftsverhältnis: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (3,22f.). Und diese neue Freiheit sollte um keinen Preis wieder verspielt werden – das ist sozusagen ihre Eigengesetzlichkeit: „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich“ (6,12). Darum gilt für Christen nicht mehr das in Buchstaben gefasste Gesetz, für das sie „tot“ sind (Röm 7,6), sondern nunmehr im Zeichen des Evangeliums das „Gesetz des [ heiligen] Geistes“, der lebendig macht (8,2).
Die Heiligkeit, die von daher in der Kirche anzutreffen und jedenfalls zu erwarten sein sollte, war schon zu apostolischen Zeiten eine Selbstverständlichkeit. Sie bedeutet weder eine Vorzeigemoral noch eine gesetzliche Ethik, sondern eine befreite und befreiende Lebensmacht. Die „Heiligen“, wie sich die Christen der ersten Gemeinden durchaus nannten, wollten oder sollten in ihrer selbstbewussten, geistlich begründeten Freiheit nicht Egomanen und Narzissten sein, sondern sich am Allgemeinwohl, an einem allseits förderlichen, empathischen Miteinander orientieren. Damit suchten sie dem heiligen Willen Gottes zu entsprechen – nicht um aus einer Entfremdungssituation sich so dem Göttlichen verdienstvoll anzunähern, sondern bestärkt durch seinen heiligen Geist und aus freier Dankbarkeit für die durch Christus überwundene Entfremdung.
Was aber ist der Wille des heiligen Gottes, wenn die Geheiligten tot sind für das Gesetz? Da Gott selbst im 1. Johannesbrief wiederholt als „Liebe“ definiert wird (4,8.16), könnte man meinen, Liebe schlechthin sei dieser Wille und das eine Gebot überhaupt. Das ist im Prinzip richtig, doch dann ist es bedeutsam, zu bestimmen, was unter Liebe näherhin zu verstehen sein soll. Hier muss klar sein, dass das Subjekt und Objekt solch göttlich geleiteten Liebens nicht das menschlich-fleischliche Ego und seine Ziele sein können. Vielmehr muss es um den innerlich erneuerten Menschen gehen, der vom Heiligen Geist seines Herrn getragen, erleuchtet, motiviert, gelenkt wird. Die hier zum Zuge kommende Liebe lebt aus der Kraft erfahrener und täglich neu zu erfahrender Versöhnung mit dem Heiligen sowie aus tiefer Hoffnung auf göttliche Vollendung. Sie ist daher reinen Herzens (Mt 5,8) und freut sich am Reinen und Guten, ohne in eine gesetzliche Haltung zu verfallen. Im Geist dieser Liebe vollzieht sich die Heiligung der Kirche und ihrer Glieder, und diesen Geist sollte sie gerade um ihrer hohen Rechtfertigungslehre willen ausstrahlen91.
Das impliziert zunächst einmal, dass die auch mitten in der evangelischen Kirche verbreitete Scheu vor dem Begriff des Heiligen reflektiert und ihre Überwindung angestrebt werden sollte. Gerhard Müller fragt mit Recht: „Warum liegt uns das ‚Heilige‘ so fern, dass viele Zeitgenossen es in Steinen oder Bäumen suchen?“92 Der 1945 hingerichtete Theologe Dietrich Bonhoeffer kann hier weiterhelfen und zugleich Vorbild sein93. Lässt nicht sein Eintreten für ein „religionsloses Christentum“ seinen Sinn für Heiligkeit unverdächtig erscheinen?
Sofern Heiligkeit tatsächlich eine gewisse Distanz zur Welt oder zum „Weltlichen“ und Profanen mit sich bringt, bedeutet das eine konstruktive Kritik, ein Näherkommen des Gottesreiches, das durchaus krisis, auf Deutsch: Krise, Gericht für das „alte“ Denken einschließt. Eine immer mehr dem Säkularismus frönende Welt steht dem gewiss ihrerseits kritisch gegenüber. Aber dass Kirche und Welt eines Geistes sein würden, steht laut Bonhoeffer auch nicht zu erwarten. Appelliert doch schon der Apostel Paulus: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm 12,2). Muss indes kulturprotestantisch gefärbtes Denken mit der hier angeratenen Weltfremdheit nicht gewisse Schwierigkeiten haben?
Insofern verwundert es nicht, wenn in der neueren Debatte um Ehe und Familie kulturprotestantische und konservative Positionen94 in der evangelischen Kirche in einen scharfen Konflikt miteinander geraten sind95. 2010 hatte die EKD-Synode ein neues Pfarrergesetz für alle zweiundzwanzig Landeskirchen verabschiedet, mit dem das Pfarrhaus, eine hehre Institution im Protestantismus, potenziell für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften geöffnet werden sollte. Daraufhin unternahmen 2011 acht evangelische Altbischöfe – darunter die Professoren Gerhard Maier, Gerhard Müller und Ulrich Wilckens – einen Generalangriff auf diese Ermöglichung: Sie kritisierten, dass gesellschaftlich veränderte Gewohnheiten und Normen der Lebensführung, die den biblischen Normen der Kirche weithin widersprächen, auch im Bereich unserer Kirchen selbst vielfach nicht mehr ernst genommen würden – „bis hinein in die Lebenspraxis mancher Pfarrer“96.
Die 2013 von der EKD veröffentlichte, heiß umstrittene Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ sollte die bis dahin in Kraft stehende Orientierungshilfe „Mit Spannungen leben“ von 1996 ablösen. Sie hat freilich die Spaltung der Richtungen nur befördert und jedem Bemühen um kirchlichen Konsens einen Bärendienst erwiesen. Ihre Intention, der staatlichen Regelung entsprechend Ehe, Familie und gleichgeschlechtliche Partnerschaften gleichartig zu behandeln, gibt dem gesellschaftlichen Pluralisierungsdruck in Sachen „Lebensformen“ nach97. Begründet wird dies mit einem Vers aus dem ersten Kapitel der Bibel: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Das Nicht-allein-Sein, also In-Beziehung Sein wird hier abstrahiert vom biblisch gemeinten, bipolaren98 Mann-Frau-Verhältnis und gemäß der Ideologie des Genderismus praktisch unabhängig von geschlechtlichen Bestimmungen betrachtet, so dass auch gleichgeschlechtliche Formen des Zusammenlebens dann grundsätzlich als kirchlich akzeptabel gelten, wenn sie nur mit dem ethischen Aspekt der Treue und Verbindlichkeit verknüpft sind. „Das Miteinander in Ehe und Familie ist wichtig, ist aber nicht die einzig mögliche Lebensform“, heißt es vielsagend – unter Anführung des hier wenig passenden Beispiels geistlich begründeter Ehelosigkeit. Und weiter: „Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als ‚Grundton‘ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht.“99
Ob mit diesem alleinigen Merkmal der Entsprechung zur Treue Gottes bereits ernsthaft genug nach dem göttlichen Willen und nach dem Gesamtcharakter der von ihm gesegneten Liebe gefragt ist, lässt sich bestreiten. So verwundert es nicht, dass der Begriff des Heiligen in dieser „Orientierungshilfe“ der EKD nur ein einziges Mal anklingt – im Aufgreifen der paulinischen Aussage, dass Christen auch ihre heidnischen Ehepartner „heiligen“ können. Was die Heilige Schrift maßstäblich zum Themenkomplex darbietet, wird systematisch zurechtgebügelt zu Gunsten einer „zeitgemäßen“ Perspektive. Dass die Ehe biblisch zum Gleichnis des Gottesverhältnisses wird, des Verhältnisses zwischen Christus und der Kirche, passt schwerlich zur gleichgeschlechtlichen Treue-Verbindung. Tatsächlich ist mit dem Erlanger Ethiker Peter Dabrock nüchtern festzuhalten: „Homosexualität wird auf breiter Front in der Bibel abgelehnt.“ Der evangelische Theologieprofessor unterstreicht, Paulus beurteile Homosexualität als „Praktik gottwidriger Haltung“ – an dieser historischen Einschätzung sei nichts zu ändern100. Dabei ist ihm klar, dass sich evangelische Ethik „wie evangelische Theologie überhaupt auf die Bibel als ihre Quelle und Norm verwiesen“ sieht.
Gleichwohl lehnt Dabrock sodann „ein kontextloses Zitieren einzelner alt- und neutestamentlicher Spitzensätze gegen homosexuelle Menschen und Praktiken“ ab. Doch gestattet er sich selbst ein kontextloses Zitieren von Gal 3,28, wonach „in Christus weder Mann noch Frau“ ist. Die hier vom Apostel benannte „Geschlechtslosigkeit“ in Christus ist keineswegs sachlogisch gleichzusetzen mit einer Beliebigkeit in der sexuellen Orientierung – dergleichen hat Paulus sicher nicht gemeint. Sein Reden vom „neuen Sein in Christus“ wird von Dabrock in der betreffenden Frage reduktionistisch nur auf die Treue innerhalb der Partnerschaft und der Gemeinde bezogen, wie das auch in der EKD-Orientierungshilfe geschieht.
Wollte man in diesem Zusammenhang Orientierung bei den Reformatoren suchen, würde man sie finden. So sagt Luther etwa in seiner Schrift „Vom ehelichen Leben“ (1522): „Es ist nicht ein freies Ermessen oder Ratschluss, sondern ein notwendig, natürlich Ding, dass alles, was ein Mann ist, ein Weib haben muss, und was ein Weib ist, muss einen Mann haben.“101 Vierhundert Jahre nach Luther hat sich Bonhoeffer entsprechend geäußert: Der Mensch ist als Mann und Frau geschaffen, und Gott „will, daß wir es ganz sind, er hat unser Mannes- und Frauentum geheiligt […]“102. Doch die neue EKD-Orientierungshilfe ist anders gepolt. Deshalb ordnet sie ihr widersprechende Äußerungen – ob aus der urchristlichen, der reformatorischen oder der Bekennenden Kirche stammend – als zeitbedingt und also durch den kulturellen Fortschritt überholt ein: „Heute wissen wir: Ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als ‚göttliche Stiftung‘ und der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung entspricht weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.“103
Solch liberale Umdeutung der überkommenen Maßstäbe des Heiligen erweist ihren kulturprotestantischen Geist in der eilfertigen Angleichung an heutige gesellschaftliche und staatliche Vorgaben. Frühere EKD-Stellungnahmen waren noch von einer anderen Perspektive geprägt. So hatte die erwähnte ältere EKD-Orientierungshilfe „Mit Spannungen leben“ 1996 festgehalten, es gebe „keine biblischen Aussagen, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen – im Gegenteil“. Das Papier blieb skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, homosexuelle Partnerschaften zu segnen und gleichgeschlechtlich Orientierte ein Pfarramt bekleiden zu lassen. Heutzutage aber können bereits in allen Landeskirchen der EKD solche Personen mit ihrem standesamtlich liierten Partner bzw. ihrer Partnerin offiziell im Pfarrhaus leben und wohnen, wobei sie allerdings noch nicht in allen Landeskirchen besoldungsrechtlich wie Ehepaare behandelt werden und zum Teil bestimmte Zustimmungsbedingungen gelten104. Mittlerweile erlauben auch schon einige Landeskirchen der EKD eine öffentliche Segnung oder gar Trauung von standesamtlich liierten Partnerschaften Gleichgeschlechtlicher in ihren Kirchen, soweit der oder die Ortsgeistliche einverstanden ist105. Wie lange der hier genannte Gewissensvorbehalt für das geistliche Personal aufrechterhalten bleibt – ist das vielleicht nur noch eine Frage der Zeit? Nach welchen Kräften richtet sich hier der Kompass der kirchlichen Orientierung aus?
Zur Umorientierung in der evangelischen Kirche Deutschlands ist es erst durchschlagend seit dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes auf staatlicher Ebene gekommen. Indem das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf das Gleichheitsgebot und auf das Faktum vermehrter nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die sich nach außen von Ehe nicht unterscheiden, zu einer bedarfsorientierten Argumentation gefunden hat, hat es freilich eine höchstrichterliche Kehrtwende gegenüber eigenen früheren Bestimmungen vollzogen106. Warum hat die EKD diese liberale Kehrtwende und die Orientierung am Zeitgeist in „kulturprotestantischer“ Manier und unter exegetisch „künstlichen Verrenkungen“107 mitgemacht, statt unter Hochachtung vor den biblischen und reformatorischen Vorgaben nach einer Orientierung am Heiligen zu fragen? Wollte sie einfach nicht als „homophob“108 diffamiert werden?
Der katholische Bischof Manfred Müller weiß: „Der Plausibilitätsverlust traditioneller Ordnungen und Wertvorstellungen ist ohne die Veränderungen der Glaubensüberzeugungen nicht ausreichend zu verstehen.“109 Man bedenke: Nachdem im 3. Mose-Buch homosexueller Verkehr zwischen Männern explizit als Gräuel für Gott eingestuft ist (18,22; 20,13), war auch für fromme Juden wie Jesus und Paulus völlig klar, dass gleichgeschlechtlicher Verkehr unmöglich als gottgefällig und segenswürdig angesehen werden kann. Der gelehrte Apostel betrachtete homosexuelle Praktiken als Folge einer göttlichen Preisgabe, ja als geradezu exemplarische Verbannung in die Sünde (Röm 1,26–27)110. „Widernatürlicher“ Sexualverkehr entsprach offenkundig nicht seinen Vorstellungen von ‚Schöpfungsordnung‘. Ohne Zweifel hat diese biblische Sicht gleichgeschlechtlichen Verkehrs für sehr lange Zeit zu massiven Benachteiligungen und bedauernswerten Diskriminierungen Homosexueller in Kirche und Gesellschaft geführt. Medizinische und psychologische Beurteilungen fallen in moderner Zeit meist zu Gunsten einer freizügigen Perspektive aus, was mit zu einer Änderung der gesellschaftspolitischen und juristischen Einstellung geführt hat – obgleich Neil E. Whitehead eine einschlägige Epigenetik-Studie mit den Worten kommentiert: „Es gab schon zahllose Versuche – in mindestens 13 unterschiedlichen Forschungsgebieten –, um nachzuweisen, dass Homosexualität biologisch festgelegt sei. Alle sind sie gescheitert.“111 Ob und inwiefern dem christliche Kirche zu folgen hat, bleibt theologisch heftig umstritten, und zwar fast weltweit. Hat hier Kirche Buße zu tun vor der Gesellschaft – oder vor Gott? Wie kann ihre Liebesbotschaft heute glaubwürdig bleiben, wenn die Heilige Schrift gleichgeschlechtliche Liebe eindeutig kritisch beurteilt? Lässt die Freiheit eines Christenmenschen nicht großzügig auch Homosexualität zu, sofern sie in Treue gelebt wird – oder wäre solche Toleranz ein falsches spirituelles Signal im Blick auf ein klar anvisiertes Verständnis von Gottes heiligem Willen?
Diese durchaus schwierigen und komplexen Fragen sind hier zwar nicht weiter auszudiskutieren. Doch eines lässt sich sehr deutlich sagen: Wenn sich liberal Argumentierende auf das zitierte paulinische Statement „Euch ist alles erlaubt“ berufen, müssen sie dabei zweierlei bedenken. Erstens: Die vom Apostel beigefügte Einschränkung „Nicht alles aber ist förderlich“ hat sozusagen das Allgemeinwohl im Blick – und von daher auch den zu allen Zeiten kritisch beurteilten Aspekt der Nichtgenerativität gleichgeschlechtlicher Verbindungen112. Und zweitens: Wer die Meinung vertritt, dass Homosexualität und Heiligkeit trotz des eindeutigen Befunds in der Heiligen Schrift theologisch auf einen Nenner zu bringen seien, der kommt trotzdem nicht umhin, solch „starke“ Haltung in einer Weise einzunehmen, dass dabei Rücksicht auf die vermeintlich „Schwachen“ genommen wird (1. Kor 9,21–22). „Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen“ (Röm 14,1) – dieses Paulus-Wort bedeutet: Die Stärke der angeblich die Sache besser Erkennenden sollte sich darin bewähren, dass sie auch stark genug sind, andere gewissensgebundene Haltungen angemessen zu respektieren113. Gerade so muss sich erweisen, ob innerkirchlich der heilige Geist der Liebe vorherrscht.
Dabei sollte ohnehin klar sein, dass die Frage der Heiligkeit die gesamte Lebensführung betrifft, also keineswegs schwerpunktmäßig mit dem Gebiet des Sexuellen zu tun hat. Vor allem aber sollte evangelische Kirche bei Luther gelernt haben, dass Heiligkeit um Christi willen im tiefsten Grunde ein Geschenk darstellt: Es geht um „eine fremde und doch unsere Heiligkeit“ – dass nämlich Gott alles, was wir tun, nicht als unrein ansehen will, sondern „alles heilig, köstlich und angenehm sein soll“ durch Christus, der „durch sein Leben die ganze Welt heilig macht“114. In genau diesem Sinne ist auch Kirche und jede Gemeinde als heilig anzusehen – bei aller sichtbaren Unvollkommenheit115.