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Geleitwort von Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Müller1
ОглавлениеVon Streit in der Gemeinde spricht der Apostel Paulus in seinem ersten Brief nach Korinth. Gruppen hatten sich dort gebildet. Sie kamen nicht miteinander aus. Fetzen flogen. Unter anderem rief die Frage, ob Heiden sich beschneiden lassen müssen, wenn sie Christen werden wollen, massive und schmerzhafte Diskussionen hervor, wie wir aus dem Brief des Apostels an die Galater wissen. Dabei ging es darum, ob an die jüdische Tradition angeknüpft werden muss – oder ob mit Jesus von Nazareth eine neue Zuwendung Gottes an alle Menschen erfolgt ist, die den Verzicht darauf ermöglicht, ja sogar fordert. Das Ganze endete damals mit einem Kompromiss, der durch ein – wie wir es nennen – Konzil der Apostel festgelegt wurde (nachzulesen in Apostelgeschichte 15). Es menschelte also von Anfang an in der Kirche, bei den von dem Dreieinen Gott aus allem Volk Herausgerufenen. Dazu hat beigetragen, dass die theologische Überlieferung, die auf Jesus zurückging, vielfältig war und unterschiedlich verstanden wurde.
Die von Gott geheiligten Christinnen und Christen haben sich mit Streitereien aber nicht zufriedengegeben. Sie haben immer wieder versucht, Falsches, das eingebracht worden war, wieder auszumerzen und zum Zentralen zurückzukehren: zu der frohen Botschaft von der Gnade, Güte und Treue Gottes. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Denn die Verwurzelung in der eigenen Kultur, in der persönlichen Sprache und in dem Unbewussten, das wir mit uns herumtragen, ist tief. Im Lauf der Geschichte kam es zu einer Hellenisierung wie auch zu einer Germanisierung des Christentums, die erhebliche Unterschiede zwischen christlichen Gemeinden zur Folge hatte. Umso wichtiger war es, sich immer wieder zurückzubesinnen auf die Heilige Schrift und – je länger, desto mehr – auf die frühen Zeugen, die in den ersten Jahrhunderten auf die Apostel folgten.
Werner Thiede geht von den Zwistigkeiten innerhalb des deutschen Protestantismus unserer Tage aus. Könnte hier eine neue Qualität des Verlustes der Mitte erfolgt sein? Am schwierigsten sind dabei die Fehler, die wir gar nicht als solche erkennen. Und haben wir vielleicht sogar die Richtung verloren? Wir bewegen uns zwar. Aber wohin eigentlich? Haben wir ein Ziel? Verbesserungsvorschläge gibt es in Hülle und Fülle. Seit langer Zeit. Aber sie greifen nicht wirklich. Woran liegt das? Verstehen wir andere Menschen nicht mehr, obwohl sie unsere Sprache sprechen? Sind wir befangen? Sind wir zu anspruchsvoll? Träumen wir noch den Traum vom Bildungsbürgertum, das unsere Kirchenräume füllt? Gehen wir einem Chaos entgegen, das selbst die größten Computer nicht mehr werden berechnen können?
In Thiedes Buch begegnet uns Reformeifer. Er ist beseelt von dem Wunsch, dass wir in einer globalisierten Welt nicht unseren eigenen Standort vergessen. Zwischen Traditionalisten und Liberalen macht er eine laue Mitte aus, die sich kaum mehr zurechtfindet. Sensibel hört er nach allen Richtungen. Seine Zitate und seine Zusammenfassungen von Meinungen anderer weist er gut wissenschaftlich nach. Wohin der Leser und die Leserin auch immer tendieren – sie finden Belege, die ihre eigene Neigung verstärken.
Thiede persönlich aber verschweigt nicht, von woher er Hilfe erwartet: von der Heiligen Schrift und von der reformatorischen Theologie. Vor allem bei Martin Luther findet er Hinweise auf Hilfe, die wir dringend nötig haben. Aber auch bei Philipp Melanchthon, Ulrich Zwingli und Johannes Calvin schaut er nach. Wer Verständnis für alles hat und dadurch zu keiner eigenen Meinung mehr kommt, dem kann durch diese Lektüre vielleicht weniger geholfen werden. Wer jedoch substanzielle, weiterführende Hinweise sucht, wird fündig.
Kann man allerdings heute noch auf Menschen hören, die vor fünfhundert Jahren gelebt haben? Haben wir nicht die Bibel als ein von Menschen vor langer Zeit geschriebenes Buch zu lesen gelernt, das nicht nur zitiert, sondern auch verstanden werden will? Werner Thiede berücksichtigt, dass wir die Aufklärung hinter uns haben. Mit ihr müssen und können wir leben. Das weiß er. Auch er will aufklären. Das klare Wort scheut er nicht. Er zitiert auch die Worte von Menschen, deren Auffassung er nicht teilt. Toleranz ist in der multikulturellen und multireligiösen Welt gefragt. Aber eigene Meinung auch! Wer nur nachspricht, was alle sagen, wird nicht gehört. Ist das nicht die größte Gefahr unserer Kirche? Haben wir noch etwas Besonderes mitzuteilen, etwas, das uns offenbar gemacht werden musste, weil wir von uns aus nie darauf gekommen wären? Der Verfasser weist nicht nur auf die Probleme hin, in und mit denen wir leben,sondern er bekennt sich zu klaren theologischen und ethischen Positionen. Zur Aufklärung kommt hier das Bekenntnis hinzu.
Als vor einem halben Jahrtausend die Reformation begann, machte Martin Luther seine Kritik an der damaligen Kirche als Hochschullehrer in Gestalt von 95 Thesen öffentlich. Diese Behauptungssätze sollten durch akademische Diskussionen einer Prüfung unterzogen werden. Viele dieser Thesen sind im Elfenbeinturm der Wissenschaft sanft entschlafen. Der Professor und Mönch sandte sie aber auch an seinen Bischof und an seinen Erzbischof. Von diesem, Albrecht von Mainz, zugleich Erzbischof von Magdeburg, erhielt er keine Antwort. Der gab Luthers Thesen lieber vorsorglich nach Rom weiter. Aber viele junge Menschen entdeckten in ihnen einen frischen Wind, auf den sie lange gewartet hatten. Luthers Thesen erfreuten vor allem die jüngeren Humanisten, die dem Schlachtruf folgten: „Zurück zu den Quellen!“ Damit war die Antike gemeint. Aber auch die großen Theologen der ersten Jahrhunderte wurden von ihnen studiert.
Zu dem Jahr 2017, das uns an den Beginn der Reformation erinnert, passt sehr gut Thiedes Anliegen, im Wirrwarr der vielen schier unüberschaubaren Meinungen für Klarheit zu sorgen. Der Pfarrer und Systematische Theologe macht es dem eiligen Leser leicht, indem er selber in 95 Thesen den Ertrag seiner Arbeit zusammenfasst und Perspektiven skizziert. Die Zahl weist natürlich ihrerseits symbolisch zurück auf das reformatorische Grundanliegen. Wer das Buch mit diesem Schlussteil zu lesen beginnt, dürfte und sollte dadurch auch neugierig werden auf die vertiefenden Ausführungen der beiden Hauptteile. Die Menschen des Jahres 1517 hatten es da etwas schwerer: Luther lieferte erst 1518 einen deutschen Kommentar zu seinen lateinisch formulierten Thesen von 1517.
Erlangen, 1. Advent 2016 | Gerhard Müller |