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Vorwort

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„Die wirkliche Kirche ist die sichtbare Kirche, in der allein wir der wahren Kirche begegnen, die aber zugleich um der geglaubten Kirche willen immer wieder entschiedener Kritik bedarf.“2

Wolfgang Huber

Einst hat der christliche Philosoph Blaise Pascal die Kirche mit einem sturmumtosten Schiff verglichen, auf dem man vergnügt die Gewissheit haben kann, dass es keinesfalls untergehen wird3. Solch fromme Gewissheit bezieht sich freilich auf die Kirche als Ganze, nicht aber auf einzelne ihrer Teile. Wie steht es um den Kurs der evangelischen Kirche heute? Berechtigt er nicht gerade diejenigen, denen sie am Herzen liegt, zu immer mehr Besorgnis?

Mein Buchtitel mündet in ein Fragezeichen. Es geht um Besinnung, um neue Nachdenklichkeit, in diesem Sinn um einen Debattenbeitrag inmitten der evangelischen Kirche, der ich überzeugt angehöre. Etwas unzufrieden war ich mit ihr allerdings schon als Siebzehnjähriger: Damals begann ich in dem Bewusstsein, Pfarrer werden zu wollen, mein erstes Buch zu schreiben unter dem Titel „Gemeinde des Herrn“. Jener frühe Versuch blieb notgedrungen Fragment. Über vier Jahrzehnte später durfte ich nun – nach vielen anderen Büchern – dieses wurzelhafte Herzensanliegen wieder aufnehmen; das fünfhundertjährige Reformationsjubiläum drängte mich dazu.

Für zahllose Evangelische ist das große Jubiläum Anlass zum Jubeln, zum Feiern, aber auch zum Innehalten. Was Ende Oktober 1517 geschah, hat bald zur Ausbildung einer eigenen Konfessionskirche geführt – und damit die römisch-katholische Kirche selbst in vielen Ländern zu einer Art Konfessionskirche degradiert. Die erfolgte Kirchentrennung spaltete die Gesellschaft insgesamt und führte zeitweise sogar zu Religionskriegen. Sie hatte damit in der Folge ihren Anteil an der Relativierung von Religion überhaupt. Das zeichnete sich seit dem Aufklärungszeitalter ab. Immanuel Kant versuchte damals, Religion in Religionsphilosophie zu übersetzen. Sein Programm wirkte auf die protestantische Kirche zurück und trug zur Entstehung des sogenannten Neuprotestantismus bei4. Dessen Ausformungen prägen noch unsere Gegenwart mit. Ihm gegenüber beharren viele konservative Protestanten auch heute auf Schrift und Bekenntnis.

Während die beträchtlichen Austrittszahlen seit vielen Jahren im deutschen Sprachraum nahezu konstant bleiben, deutet sich immer mehr an: Die evangelische Kirche könnte auf eine Zerreißprobe zugehen. Insofern ist das Reformationsjubiläum für sie eigentlich kaum Anlass zum Jubeln, wohl aber zur Besinnung auf ihre Identität. Und dies umso mehr, als der religiös-weltanschauliche Pluralismus unserer Zeit – selbst ein spätes Kind der konfessionellen Spaltung samt der „Aufklärung“ – eine allenthalben spürbare, gegenwärtig sich immer noch verstärkende Säkularisierung zur Folge hat. Die wirkt ihrerseits auf die Kirchen der Reformation zurück. Bei allem Positiven, das man einer zunehmenden Verweltlichung der Kultur abgewinnen mag, muss man doch sehen, dass sie kirchlichem Leben in mancher Hinsicht zunehmend den Boden entzieht. Die anhaltend hohen Austrittszahlen sind nur einer von vielen Belegen dafür. Hat sich die evangelische Kirche zu naiv-freundlich auf das Phänomen der Säkularisierung eingestellt? Hat ihre aufgeschlossene Anpassung an „aufklärerische“ Kritik für sie doch auch immer spürbarere Schattenseiten? Haben die Mahnungen konservativer Protestanten vielleicht mehr Recht, als den liberalen lieb sein mag?

Heutzutage fallen die Wertungen und Einschätzungen der Reformation recht unterschiedlich aus: teils eher positiv, teils eher kritisch. Katholiken, Philosophen, Historiker, Agnostiker, Sektierer, Politiker jedweder Couleur – sie alle haben von außen unterschiedliche Blickwinkel auf die Ursprünge und Geschichte der Reformation5 und damit direkt oder indirekt auch auf das Phänomen „evangelische Kirche“ in seiner heutigen Bandbreite. Das Reformationsjubiläum mag für manche dieser Beobachter Anlass zum Überprüfen ihrer Wahrnehmung sein. Vor allem aber besteht innerhalb der evangelischen Christenheit aller Grund zu kritischer Selbstvergewisserung – nicht nur, aber doch auch wegen des schon genannten kontinuierlichen Absinkens des Pegelstands bei den Mitgliederzahlen6.

Diese Einsicht zeigte sich 2015 im Zuge einer informellen Umfrage vor der Konstituierung der neuen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Alte und neue Kirchenparlamentarier waren gefragt worden, in welchen Fachausschüssen sie gern mitmachen würden. Immerhin 76 der 120 Synodalen waren an einem neuen Ausschuss mit dem Arbeitstitel „Fragen der innerkirchlichen Entwicklung“ interessiert. Dagegen meldeten sich nur wenige für die bereits existierenden Ausschüsse zu europäischer Politik und Umweltschutz. Schärft sich das Bewusstsein, dass „Kirche für andere“ nur eine solche Kirche sein kann, die von ihrem Auftrag und vor allem von ihrem Auftraggeber wirklich überzeugt ist?

Dass Christus der eigentliche Kapitän auf dem Schiff namens Kirche ist, scheint nicht allen in der Besatzung hinreichend klar zu sein. Geprägt hat das Bild von der Kirche als Schiff der lateinische Kirchenvater Tertullian unter Rückgriff auf neutestamentliche Geschichten sowie auf den Römer Cicero. Dieser hatte den Staat als Schiff mit vielen Mitwirkenden, klarer Hierarchie und an der Spitze dem Lenker, dem Kapitän beschrieben. War nun bei Tertullian mit Letzterem im Bilde Christus gemeint oder vielleicht der Gemeindebischof? Das biblisch erwähnte Schifflein, in dem Jesus und seine Jünger auf dem See Genezareth fuhren, dürfte für den Kirchenvater maßgeblich gewesen sein, weshalb an Christus als den Herrn der Kirche zu denken wäre. Auf diese Selbstverständlichkeit sollte sich jede Besinnung richten, die anlässlich des Reformationsgedenkens zurück und nach vorne blickt.

Das vorliegende Buch möchte sowohl einer erhellenden Binnen- als auch einer klärenden Außenperspektive auf die evangelische Kirche dienlich sein. Es versucht näher einzuführen in die geschichtlichen und sachlichen Gründe, die zur Entwicklung protestantischer Kirchen geführt haben. Freilich kann ein Sach- und Debattenbuch wie das vorliegende die sich aufdrängenden Fragen und Probleme unmöglich erschöpfend behandeln. Es wird darum notgedrungen hinter manchen Erwartungen zurückbleiben, wollte aber dennoch gewagt sein, um hoffentlich Hilfreiches zu unterbreiten – primär mit Blick auf das Ursprungsland der Reformation.

In Dankbarkeit für mancherlei Unterstützung widme ich dieses Buch Herrn Oberkirchenrat Helmut Völkel (München). Zu danken habe ich auch Herrn Dr. Thomas Brockmann für die kompetente Lektorierung – und nicht zuletzt Herrn Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Müller für sein freundliches Geleitwort. Außerdem danke ich meinem Sohn Johannes für Hilfen bei der Literaturbeschaffung.

Am Reformationstag 2016 Werner Thiede
Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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