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1 Wie seicht sind die Gewässer des Säkularismus?

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Evangelische Kirche hat sich längst daran gewöhnt, in einer verweltlichten Kultur zu existieren. Rund ein Jahrhundert ist die religionssoziologische Theoriebildung bereits alt: Das sogenannte Säkularisierungstheorem steht für die einst von Max Weber und Ernst Troeltsch angebahnte und später von der Forschung vertiefte Annahme eines notwendigerweise allmählichen Verschwindens der Religion als bestimmender Macht im gesellschaftlichen und individuellen Leben der Moderne. Nachdem aber mittlerweile die Moderne relativiert wurde durch die sogenannte Postmoderne, hat auch das Säkularisierungstheorem an Überzeugungskraft eingebüßt. Namentlich der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks mit seinem staatlich verordneten Atheismus wurde als Indiz für ein neues Erstarken der Religionen weltweit gewertet. In der Wissenschaftsdiskussion kam – auch mit Blick auf die anhaltende Blüte der Esoterik4 – kontrastierend die Rede vom Spiritualisierungstheorem auf. War und ist nicht tatsächlich so etwas wie eine Renaissance des Religiösen rund um den Globus zu beobachten?

Theologisch darf man überzeugt sein, dass die Sinnfrage den Menschen nicht loslassen und zu allen Zeiten religiöses Interesse wachhalten wird. Aber religionswissenschaftlich wird weiterhin anzuzweifeln sein, dass die Säkularisierungstendenz zumindest in westlichen oder westlich beeinflussten Kulturbereichen abgenommen hat und in absehbarer Zeit weiter abnehmen wird5. So betont Ulrich Körtner, das bloße Interesse an religiösen Themen dürfe nicht mit Religiosität verwechselt werden6. Von der fünften EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft aus dem Jahr 2014 berichtet er unter der bezeichnenden Überschrift: „Abschied vom Megatrend Religion“7. Diese Erhebung machte keinen Hehl aus ihrem einschlägigen Befund; sie prognostizierte im Gegenteil: „Fehlende religiöse Erfahrungen, kombiniert mit abnehmendem religiösem Wissen, führen möglicherweise dazu, dass vielen (gerade jüngeren) Menschen ein Leben ohne Religion als selbstverständlich erscheint und dass dementsprechend die Bereitschaft, wiederum eigene Kinder religiös zu erziehen, erkennbar sinkt.“8 Auch Joachim Kunstmann unterstreicht, das Interesse an Religion sei nicht selbst schon Religion: „Gelebte Religion, der persönliche spirituelle Vollzug, Selbstverpflichtung, Glaube und Bekenntnis sind längst zu Randphänomenen des gesellschaftlichen Lebens geworden.“9

Lange hat man im Protestantismus gemeint, die gesellschaftlichen Säkularisierungsmächte regelrecht begrüßen zu müssen. Friedrich Gogarten hat die Säkularisierung nachgerade als eine Folge der christlichen Offenbarung gedeutet, nämlich als Befreiung von kosmischen und mythischen Mächten hin zu nüchterner, im Glauben an den Schöpfer dankbarer Weltlichkeit10. Viele sind ihm darin gefolgt – oft ohne zu bedenken, dass er sehr wohl Säkularisierung im beschriebenen Sinn zu unterscheiden gewusst hat von „Säkularismus“ als einer Ideologie oder nihilistischen Philosophie mit durchaus kritischen Folgen. Noch in unseren Tagen beurteilt etwa Bernhard Lang die Entwicklung positiv: „Die große Mehrheit der Glaubenden orientiert sich heute am naturwissenschaftlichen Weltbild, am kritischen Denken und an der freien Kommunikation der Argumente. Soziologen nennen diesen Prozess meistens die ‚Säkularisation‘ von religiösen Inhalten, aber es könnte sich auch um eine grundlegende Transformation dieser Inhalte und Normen handeln.“11 Ohne Zweifel werden solche Transformationen aus konservativer Sicht eher als Verluste betrachtet. Ob zu Recht, bleibt einerseits eine Glaubensfrage. Andererseits liegt auf der Hand, dass inhaltliche Veränderungen der Glaubenstradition ein bestimmtes substanzielles Minus an gelebter Spiritualität herkömmlicher Art nach sich ziehen. Und das hat Folgen für kirchliches Leben. Max Webers Annahme, dass Modernisierungsprozesse einen kritischen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften hätten, behält insofern ihre Evidenz. Sie wird religionssoziologisch etwa von Bryan Wilson12 und Detlef Pollack13 bestätigt – und durch die seit langem in trauriger Weise einigermaßen stabilen Kirchenaustrittszahlen14 illustriert.

Was aber sind diese Modernisierungs- und Transformationsprozesse bei näherer Betrachtung im Kern? Und wieso sind Modernisierung und Säkularisierung immer noch nahezu gleichbedeutend? Diese Fragen sind gewiss nicht monokausal zu beantworten, sondern verweisen auf komplexe, hier nicht zu erörternde Zusammenhänge. Drei ganz zentrale Faktoren aber springen dabei besonders ins Auge und sind unbedingt nennenswert: erstens die weltanschaulichen Veränderungen durch den naturwissenschaftlichen Fortschritt, zweitens die religiös-weltanschauliche Pluralisierung und drittens die immer rasanter fortschreitende Technisierung als kulturprägende Macht.

Zunächst sei hier auf den zweiten und dritten Faktor eingegangen, im nächsten Abschnitt (I.2) dann eigens auch auf den erstgenannten. Was die sogenannte Pluralisierung angeht, so betrifft sie als religiös-weltanschaulich wirksamer Prozess sowohl Organisationen als auch Haltungen15. Die gegenwärtigen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen und die rasante Ausbreitung des mobilen Internets unterstützen die Entwicklung hin zur religiösen Vielfalt und gegenseitigen Relativierung. Die Zeit der Einheitskulturen ist – vielleicht abgesehen vom Gebiet der Technik! – weitgehend vorbei, auch wenn derzeit manche Gegenbewegungen konservativer und sogar ultrakonservativer Art sich verstärkt wieder auf Vergangenes zurückbeziehen. Oder sollte gerade auch „Multikulti“ als Wunschprinzip einer neuen Einheitskultur gelten?

Der anhaltende Trend zur Pluralisierung betrifft sogar die Individuen als solche. Man spricht von Patchworkidentitäten und liest Bestseller wie den von Richard David Precht: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ (2012) – oder den von Nicholas Carr: „Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?“ (2010). Pluralisierung führt also nicht nur, wie oft zu hören ist, zu einer vermehrten Individualisierung16, sondern sprengt sogar die individuellen Identitäten selbst auf. Damit verändern sich weltanschauliche und religiöse Fragestellungen. Sogar die Sinnfrage scheint mitunter sinnlos zu werden, und die Wahrheitsfrage ist im Kontext des postmodernen Pluralismus gewissermaßen obsolet geworden17.

Solch gesellschaftlich fortgeschriebene Pluralisierung bedeutet für die modernen Kirchen eine bleibende Herausforderung, zumal soziologisch erwiesen ist: Die Kirchenbindung geht „bei hoher religiöser Pluralität zumeist zurück“18. Die EKD versucht hierauf mit einer aus evangelischer Orientierung erwachsenden „Pluralitätsfähigkeit“ zu antworten, die sich nicht nur an theologischen, sondern an demokratisch-politischen und allgemein-ethischen Kriterien orientieren soll19. Wie aber steht es dabei um die theologische Kriterienbildung als solche? Wie viel an evangelischer Substanz ist bereits dem gesellschaftlichen Pluralisierungsdruck zum Opfer gefallen, so dass kirchlich hochgehaltene Tradition eine nur noch wenig belastbare Fassade darstellt20? Man kann jedenfalls vermuten, dass das Pluralisierungsprinzip die evangelischen Kirchen stärker erfasst hat als die katholischen, deren Dogmen- und Lehrgebäude sich als vergleichsweise stabiler erweist.

Nun ließe sich hierzu sagen, es sei nun einmal das Wesen des Pluralismus, dass unterschiedliche, ja gegensätzliche Anschauungen über Gott und die Welt friedlich-schiedlich nebeneinander existieren. Der einstige württembergische Landesbischof Theo Sorg hat in diesem Sinn gemahnt, evangelische Kirche dürfe „das Prinzip einer pluralen, vor dem Evangelium und dem einzelnen Gewissen verantworteten Mehrstimmigkeit als Wesensausdruck protestantischer Theologie, Kirche und Frömmigkeit nicht aufgeben“21. Kommt es also in Gesellschaft und Kirche auf die Fähigkeit an, Pluralismus und Pluralisierung prinzipiell zu bejahen? Michael Welker vertritt gar die Auffassung, Gottes Geist selbst bewirke „einen schöpferischen Pluralismus“, so dass von einem „Pluralismus des Geistes“ die Rede sein könne, der für eine „Differenzen erhaltende Einheit“ spreche22. Dagegen bemerkt Wolfhart Pannenberg: „Der Pluralismus entzieht sich dem Forum von Vernunft und Wahrheit ebenso wie der Fundamentalismus.“23 Insofern kann Pluralismus keineswegs als ein kirchliches Leitprinzip gelten. Zu erinnern ist hier auch an die immer noch hilfreiche Stellungnahme der Arnoldshainer Konferenz zum „Pluralismus in der Kirche“ (1977), in der es heißt: „Für die Kirche ist ein Pluralismus untragbar, der die Notwendigkeit einer Grenze prinzipiell verneint und im Namen evangelischer Freiheit gleichberechtigte Geltung für alle Auffassungen fordert, die sich selbst als christlich verstehen. Solch ein totaler Relativismus ist mit dem Wahrheitsverständnis des Neuen Testaments, in dem das Ja Gottes zum Menschen mit dem Nein zu Verführung und Irrglaube unlöslich verbunden ist, nicht vereinbar. […] Wo alte, zentrale Aussagen christlicher Theologie übergangen, in ihrer Substanz umgedeutet und entleert oder nur oberflächlich interpretiert und rezipiert werden, liegt die Vermutung nahe, die Grenze des Pluralismus sei überschritten.“24

Vielheit ist eine Gegebenheit dieser Welt mit positiven wie negativen Aspekten, sollte also mitnichten pauschal dem heiligen Geist zugeschrieben werden. Der Begriff der Pluralität steht für Vielheit – ohne ideologisch zuspitzende „-ismus“-Endung. Ein Beispiel solcher Pluralität wäre die von politischen Parteien in unserem System: Sie vertreten nebeneinander verschiedene Positionen, Ansprüche und Sichtweisen. Indes – auf dem Gebiet des Religiösen sieht es mit den vielerlei Wahrheitsansprüchen doch noch einmal anders aus als in politischer Hinsicht: Sie pochen nicht selten auf absolute Geltung ihrer zentralen Glaubensinhalte, über die man gewiss miteinander reden kann, die aber für die Glaubenden im Kern kaum ernsthaft zur Diskussion stehen. Theologisch lässt sich insofern Pluralismus zwar als Prinzip eines gesellschaftspolitischen, respektvollen Miteinanders bejahen und einfordern, schwerlich aber als spirituelles oder monistisches Prinzip25. So preist Jesus zwar die Friedfertigen glückselig (Mt 5,9), betont aber hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs mit bildlichen Worten: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (10,34).

Demgemäß ist es um ein friedliches Miteinander innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland tatsächlich allenfalls äußerlich einigermaßen gut bestellt. Wer ihr Innenleben genauer betrachtet, erkennt meist schnell: Es gibt weit auseinanderdriftende Strömungen, die von theologischen Konfliktlagen zeugen und die kirchliche Einheit gefährden. Verständliche Bemühungen um einen innerkirchlichen Pluralismus, der die verschiedenen Parteiungen unter dem Dach der Volkskirche zusammenhält, sind zwar nicht gänzlich erfolglos geblieben. Doch was bislang in Kirchenvorständen, Synoden und Landeskirchenräten nach mehr oder weniger demokratischen Spielregeln an Gemeinsamkeit oder gar Konsens hochgehalten wird, kann über die tiefen Gräben nicht hinwegtäuschen, die sich oft „pluralistisch“ durch die betreffenden Gremien ziehen. Gerade auch die offiziell deklarierte Basis der Geltung der Heiligen Schrift und der kirchlichen Bekenntnisse trägt bei näherer Betrachtung nicht mehr recht: Zu groß sind die Unterschiede zwischen den hermeneutischen Zugängen und den theologischen Deutungen mittlerweile26.

Die evangelische Kirche befindet sich insofern zunehmend in einer Zerreißprobe – aber kaum zwischen „vielerlei“ Kräften, sondern zwischen Hauptrichtungen. So beobachtet aktuell der protestantische Wissenschaftsjournalist Martin Urban: „Zwischen den aufgeklärten ‚Liberalen‘ in der EKD und den christlichen Fundamentalisten innerhalb und außerhalb der Amtskirchen herrscht mittlerweile ein heimlicher Kampf um die Vormacht.“27 Grob skizziert, kann man in diesem Sinne eigentlich von drei divergierenden Strömungen sprechen: von einer konservativen, einer liberalen – und von einer abnehmenden Mitte, die von den beiden Außenflügeln her umkämpft ist und sich eher passiv umwerben lässt. Während der Bemühungen, diese drei Strömungen noch möglichst lange unter einen Hut zu bringen, hat sich in den letzten Jahrzehnten unübersehbar eine gewisse Vorherrschaft des liberalen Flügels herauskristallisiert, und zwar sowohl auf dem Gebiet der Universitätstheologie als auch auf kirchlichem Feld. Ob und inwieweit er Zukunft hat, ist eine Frage für sich28. Gerhard Müller kritisiert jedenfalls „eine ‚stete Selbstliberalisierung‘“, die das, „‘was immer, überall und von allen geglaubt wurde‘, fundamental verändert und dem vermeintlichen Zeitgeschmack anpasst. Kein Wunder, dass bei Banalitäten die Kirchen leer werden.“29

Beide Flügel der evangelischen Kirche, sowohl Konservative30 als auch Liberale31, lassen sich bei Bedarf noch genauer differenzieren, und sie haben ohne Zweifel ihre Teilwahrheiten. So können sich Konservative vor allem auf die Tradition, Liberale primär auf die Vernunft berufen. Innerer Friede eint sie nicht, da ihre Differenzen das Gottesverständnis selbst und das für die evangelische Kirche so zentrale Bibelverständnis betreffen32. Bernhard Lang zufolge gibt es „in den protestantischen Kirchen Gruppen, Bewegungen und Amtsträger, die stark an den Vorgaben der Bibel und des Herrschaftschristentums orientiert sind. Doch die große Mehrheit der evangelischen und der katholischen Kirchenchristen will mit starker Überzeugung die kreative Transformation des christlichen Glaubens und damit die Umformung des alten Herrschaftschristentums zu einem Christentum der persönlichen Verantwortung.“33 Diese Beschreibung ist selbst keineswegs neutral formuliert, sondern entstammt liberaltheologischem Denken. Zutreffend ist jedenfalls der Tatbestand erfasst, dass in der evangelischen Kirche vor allem zwei unterschiedliche Kräfte auseinanderdriften, die neben der passiven, lauen Mitte das „plurale“ Gesamterscheinungsbild prägen.

Diese Situation bringt das Schiff der Kirche zunehmend ins Schlingern. Einerseits muss sie offiziell am Hergebrachten festhalten, andererseits wird teilweise um dessen „Transformation“ in einer Weise gerungen, dass sich die Balken biegen. Ja, Kirche kann und muss sich selbst relativieren; doch nein, mit dem ihr anvertrauten Evangelium darf sie so etwas nicht tun. Dabei gibt es theologische Denkmodelle, die ihr genau dies nahelegen34. In dem Maße, wie sie solchen Forderungen entspricht, verwandelt sie sich in ein Institut für Religionsphilosophie. Will sie authentisch bleiben, so kann sie ihren Auftrag und damit ihren Auftraggeber nicht verraten. In der Konsequenz läuft das Schiff namens Kirche in den seichten Gewässern der säkularisierten Gesellschaft freilich Gefahr, Schaden zu nehmen. Ist Angst davor angebracht? Dorothea Wendebourg kritisiert, dass evangelische Theologie und Kirche mit dem heutigen Pluralisierungsdruck unangemessen umgehen: Es „soll die Auflösung dieser Unerträglichkeit jetzt dadurch bewerkstelligt werden, dass die spezifischen Einsichten der eigenen Tradition abgeschmolzen werden, bis kein fundamentaler Widerspruch anderer zu anderen mehr übrig bleibt. So soll ausgerechnet das Reformationsjubiläum an allen Fronten zur großen Feier ihrer theologischen Harmlosigkeit werden.“35 Aber evangelische Kirche könnte zwischen Reformationsgedenken und Pluralisierungsdruck auch gewinnen – nämlich inmitten von Synkretismen, Relativismen und Nihilismen authentisch bleiben und damit doch wieder mehr Gehör finden für ihre Botschaft36. Die Saat werde nicht überall aufgehen, hat Jesus gesagt, aber wo sie aufgehe, werde sie viel Frucht bringen. Ihm als ihrem „Kapitän“ sollte Kirche bedingungslos vertrauen – und entsprechend verantwortlich handeln.

Ein anderer zentraler Faktor, ja Motor der Säkularisierung ist im Zuge der immer weiter getriebenen Modernisierung die Technisierung: Um ihrer Vorteile willen werden ihre postmodern immer deutlicher reflektierten Nachteile und Risiken meist nach wie vor gern in Kauf genommen. Schon vor über sechzig Jahren hat Hanns Lilje, einer der führenden protestantischen Theologen seiner Zeit, zwar die Weltlichkeit der Welt im Sinne Gogartens als begrüßenswert ausgegeben37, zugleich aber davor gewarnt, dass „der technischen Entwicklung eine fast unheimliche Zwangsläufigkeit“ innewohne – nämlich in Richtung einer „Perfektionierung der Technik“, mit der eine „Kapitulation vor dem Menschenbilde überhaupt“ drohe38.

Vor einem halben Jahrhundert hat der christliche Philosoph Georg Picht bereits beobachtet, allenthalben herrsche der Glaube an die Erschließung der unbegrenzten Möglichkeiten der Technologie vor. Hieraus erkläre sich, dass „die große Mehrzahl vor allem der Naturwissenschaftler auf jeden Zweifel an dem Satz, daß man alles machen soll, was man machen kann, wie Gläubige auf eine Gotteslästerung reagieren“39. Von daher fehle im säkularen Zeitalter eine wissenschaftliche „Theorie von den Zielsetzungen der Wissenschaft“40. Die Utopie, aus der die moderne Wissenschaft ihre Impulse beziehe, sei das Bild einer total rationalisierten Welt, in der eine schrankenlose Technologie der Wissenschaft alles zu machen erlaube, was sie machen könne41. In diesem Kontext seien Forscher primär an der Rationalität ihrer Geldgeber und damit an der Rationalität ihres Betriebes interessiert: „Die Tragweite dieser Feststellung wird erst sichtbar, wenn man sich klarmacht, welche Folgen es hat, daß eine Wissenschaft, die durch das Medium der Technik und der industriellen Produktion die Welt, in der wir leben, beherrscht, sich nicht nur jeder politischen Kontrolle, sondern auch ihrer Selbstkontrolle entzieht.“

Vor rund vierzig Jahren warnte dann auch der evangelische Theologe Erhard Ratz vor dem Trugbild, eines Tages würden „alle Menschen, wo auch immer auf diesem Erdball, zufriedene Konsumenten in einer technischen Zivilisation sein“42. Schon damals wusste er: „Die technische Zivilisation brachte überall dort, wo sie sich durchsetzte, eine tiefgreifende Krise der überkommenen Normen und Werttraditionen.“ Weitsichtig sah er eine technisch regierte „Einheitszivilisation“ voraus.

All diese geradezu prophetisch anmutenden Worte bestätigen sich heutzutage eindrücklich im Hinblick auf die zum Teil recht fragwürdigen Erfolge der sogenannten digitalen Revolution43. Der Prozess der Modernisierung droht in eine Technokratie zu münden, die zum Selbstläufer wird und hierbei wesentliche Freiheitsrechte in Frage stellt – beispielsweise das Recht auf Privatsphäre, das gerade im digitalen Zeitalter Datenschutz einschließen müsste, was jedoch bekanntlich immer weniger der Fall ist44. Es würde zu weit führen, die in etlichen Büchern von Internetexperten, Philosophen und Theologen (auch von mir) vorgetragene Kritik an den Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Revolution hier auszubreiten. Stattdessen sei kurz und bündig Papst Franziskus zitiert, der in seiner Enzyklika Laudato si‘ (2015) mahnt: Wenn sich die Dynamiken der digitalen Medien in eine Allgegenwart verwandelten, komme das nicht der Fähigkeit zu weisem Leben, tiefgründigem Denken und großherziger Liebe zugute. „Die wirkliche Weisheit, die aus der Reflexion, dem Dialog und der großherzigen Begegnung zwischen Personen hervorgeht, erlangt man nicht mit einer bloßen Anhäufung von Daten, die sättigend und benebelnd in einer Art geistiger Umweltverschmutzung endet.“ Franziskus erkennt grundsätzlich, dass das „technokratische Paradigma“ heute derart dominant geworden ist, dass es schwierig wäre, auf seine Mittel zu verzichten, aber noch schwieriger, sie zu gebrauchen, ohne von ihrer Logik beherrscht zu werden. So überlasse man das Leben den technikgeprägten Umständen, die ihrerseits als wesentliche Quelle zur Deutung der Existenz verstanden würden. Hiermit wird die fortschreitende digitale Revolution insgesamt als eine mögliche Ersatzreligion entlarvt45.

Offenkundig hat der Papst erkannt, dass die sich abzeichnende Technokratie mit ihrem geradezu totalitären Zugriff auf fast alle Bereiche des Lebens gerade auch der Spiritualität kaum förderlich sein kann. Das Internet zielt mit einer gewissen inneren Logik, mit einem ihm inhärenten Trend insgesamt auf eine säkulare Utopie – eben auf eine digitale Ersatzreligiosität. Seine Gestaltung von virtueller Wirklichkeit relativiert die geschöpflich-analoge Realität in merkwürdiger Weise. Der Intention nach und zum Teil schon konkret stellt es der religiösen Erlösungshoffnung eine säkulare, technokratisch fundierte Erlösungshoffnung konkurrierend gegenüber – bis hin zur Verheißung digital basierter Unsterblichkeit46. Per Hightech soll auf dem Weg einer stillen, aber radikalen Revolution eine neuartige Heilswelt errichtet werden. Solcher Technizismus treibt die Säkularisierung der Gesellschaft zwangsläufig weiter voran.

Trifft dies zu, so fragt es sich, warum die evangelische Kirche daraus kaum Konsequenzen zieht. Stattdessen ließ die EKD 2014 auf ihrer 11. Synode bekunden: „Als evangelische Kirche gestalten wir den digitalen Wandel mit und vertrauen auch in der digitalen Gesellschaft auf Gottes Begleitung.“47 Das klingt beinahe, als käme Gottvertrauen einem Vertrauen in menschliche Technikhybris gleich. Man fühlt sich angesichts dieser Äußerung an die wichtige reformatorische Einsicht erinnert, auch Konzilien und Synoden48 könnten irren. Anbiederungen an den Zeitgeist49 und eine „Selbstsäkularisation der Kirche“50 sind der verkehrte Weg, der immer mehr sich säkularisierenden Welt zu begegnen. Statt die seichten Gewässer des Säkularismus aktiv anzusteuern, sollte das Schiff der Kirche vielmehr der Welt genau das auszurichten versuchen, was die sich selbst nicht sagen kann. Eine selbstverschuldete Unkirchlichkeit der Kirche (Manfred Josuttis)51 nützt kaum jemandem.

Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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