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IV. Man wird nicht als Soldat geboren

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Es ist schon sehr lange her, dass ich – zum ersten, aber nicht zum letzten Mal – eine Fotodokumentation über den 1.Weltkrieg mit dem Titel „Kamerad im Westen“ in die Hand nahm. Zuerst fand ich Fotos vom Kriegsbeginn: Verlesung der Kriegserklärung in Berlin, Soldatenverbände auf den Straßen, begleitet von einer jubelnden Menschenmenge, oder in Eisenbahnwaggons, die mit kühnen Sprüchen, „Auf nach Paris“ etwa, beschrieben waren. Die folgenden Fotografien dokumentierten die Realität dieses Krieges, wie ihn der Soldat tagtäglich erlebte oder wie er auf dem „Feld der Ehre“ starb.

Ein Foto, aufgenommen aus einem deutschen Schützengraben, zeigt anstürmende französische Soldaten, die im Maschinengewehrfeuer vor den Stacheldrahtverhauen niedergemäht werden. Wie später gesehene Filmaufnahmen bestätigten, kletterten die jeweiligen Angreifer bei einem solchen Sturmangriff aus ihren Gräben und marschierten in Schützenketten, zumeist ohne jegliche Deckung, auf die gegnerischen Gräben zu, wo sie, wenn sie nah genug waren, reihenweise niedergeschossen wurden. Über Monate und Jahre ging das im Stellungskrieg nach diesem Muster. Hunderttausende starben oder wurden verwundet, manche von ihnen von Kameraden oder Sanitätern gerettet. „Geländegewinne“ blieben die Ausnahme. Und das alles nur, weil irgendwo, weit entfernt von der Front, in den Generalstäben wieder mal ein Sturmangriff geplant und befohlen wurde. Wie muss den Soldaten zumute gewesen sein, wenn sie auf Befehl losmarschierten, den fast sicheren Tod vor Augen?

Warum ist es immer aufs Neue möglich, Abertausende Menschen zu einer mörderischen Soldateska zu deformieren?

Wie bringt man einen Menschen, der freiwillig oder per Gesetz zum Soldaten geworden ist, dazu, bedenkenlos, ja sogar mit Stolz zu töten? Auch nach 1945 geschah genau das irgendwo auf der Welt täglich. Von wegen „Frieden auf Erden“ – Hunderttausende wurden zu Mördern in Uniform – und Millionen Soldaten und Millionen Zivilisten wurden ihre Opfer.

Die radikalste Methode wurde in der Zeit der Antike in Sparta durchgesetzt. Alle Knaben wurden noch im Kindesalter aus ihren Familien genommen und kaserniert. Über Jahre lebten sie unter kärglichen Bedingungen, wurden abgehärtet und im Gebrauch der Waffen geschult, bis sie als junge Männer, wenn sie alle „Proben“ bestanden hatten, in das spartanische Heer wechselten. Das Kriegshandwerk zu beherrschen war neben der politischen Führung die einzige Aufgabe der Männer, bis sie zu alt dafür wurden. Totaler kann man Menschen kaum zu Kriegern machen, für die Kampf und Töten selbstverständlich und der einzig zählende Sinn ihres Seins sind.

Angesichts der Formierung und Ausbildung von Kindersoldaten, die seit Jahrzehnten in den Kriegen afrikanischer Diktaturen eingesetzt werden, muss man feststellen, dass die Aktualität von der Geschichte in schrecklichster Weise eingeholt wurde: 10 bis 12Jährige, aufs Töten gedrillt, die mit ihren Maschinenpistolen auf Befehl auf jeden schießen, selbst auf die eigenen Eltern oder Verwandten.

Tötungsbereite und gewalttätige Soldaten fanden sich zu allen Zeiten überall mehr als genug, ebenso Folterknechte und skrupellose Mörder im Dienste von Diktatoren, die jede Bewegung, die es wagte, das Ende der Tyrannei zu fordern, vernichteten.

Als 1096 u. Z. die Ritter Europas – von Papst Urban II. aufgerufen – zum ersten Kreuzzug aufbrachen, sollten sie angeblich den freien Zugang der Christen zu den „Heiligen Stätten“ in Jerusalem wiederherstellen. Ob dieser tatsächlich gefährdet war, ist bis heute umstritten. Als die Heerscharen der Ritter 1099 Jerusalem erstürmt hatten, schützten sie nicht etwa diese Stätten, sondern richteten ein furchtbares Blutbad unter den Einwohnern der Stadt an, bevor sie ihre Wallfahrt zur Kirche des heiligen Grabes antraten. Was hätten Jesus oder Johannes der Täufer bei Anblick dieses Gemetzels empfunden, das ihr Verständnis des christlichen Glaubens geradezu pervertierte? Die enge Verbindung von Kreuz und Schwert war mit den „Kreuzzügen“ noch lange nicht vorbei. Neuen „Auftrieb“ erhielt sie, nach dem Columbus Amerika entdeckt hatte. Mit Cortez und Pizarro begann 1519 die Eroberung und mit ihr radikal und mörderisch die Christianisierung Lateinamerikas und setzte sich bis ins 19. Jahrhundert fort.

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Ob sich diese Wandlung vom Zivilisten zum mordenden Soldaten vollzieht, ist nachweislich keine Frage von höherer geistiger Bildung oder kultureller Entwicklung*. Ob Oradour sur Glane oder Lidiče, der Befehl genügte, die Ausführung offenbarte ein Höchstmaß an unmenschlicher Kaltherzigkeit. Gab es für diese Massaker noch einen Befehl, so war ein solcher Jahrzehnte später nicht einmal mehr notwendig, als eine Gruppe amerikanischer GI’s unter Führung des Lieutenant Colonels Frank A. Barker das südvietnamesische Dorf My Lai besetzte, weil es im Verdacht stand, Stützpunkt des Vietcong zu sein. Obwohl keine Vietcong-Kämpfer im Dorf zu finden waren, brachten diese Soldaten fast alle der über 400 Einwohner des Dorfes, vor allem Frauen und Kinder, um; erst nachdem ein US-Hubschrauberpilot ihnen gedroht hatte, sie von seinen MG-Schützen erschießen zu lassen, wenn sie ihr Massaker nicht beenden würden, sahen sie davon ab, auch noch die letzten 11 Überlebenden umzubringen. Für diese Soldaten genügte der Umstand, dass es Vietnamesen waren, um sie als Feinde einzuordnen, um sie nach Aufforderung ihres Offiziers umzubringen. Und genau das ist bis heute jederzeit und allerorts möglich und geschieht beinah täglich. Der verantwortliche Offizier für den Einsatz, William Calley, wurde, nachdem ein amerikanischer Journalist das Verbrechen recherchiert und eine Zeitung gefunden hatte, die seinen Bericht veröffentlichte, zwar zu lebenslanger Haft verurteilt, die aber dann in „Hausarrest“ umgewandelt wurde, bis er wenig später von Nixon begnadigt wurde. Ein Wort der Reue ist nicht überliefert. Damals war das weltweite Entsetzen groß, aber, wie sich bald zeigte, ohne jede Langzeitwirkung.

Mit den „Pentagon Protokollen“, die „wikileads“ öffentlich machte, genauer aus dem, was davon im „SPIEGEL“ (Ausgabe 30/ 2010 und Ausgabe 43/ 2010) publik gemacht wurde, musste man aber endgültig erkennen, dass in den Armeen der führenden westlichen Demokratien Soldaten dienen, die bereit sind, mit aller Härte Krieg zu führen, Gefangene zu misshandeln und von Geheimdiensten Verdächtigte über Wochen und Monate zu foltern. Ob Demokratie oder Diktatur, ob Geheimdienste oder geheime Organisationen – Kriege gelten als Rechtfertigung für all diese menschenverachtenden Mittel und für jeden Befehl, sie einzusetzen.

Auf der einen Seite also religiös begründeter Fanatismus und systematisch trainierte Brutalität gegen jeden, der als Feind oder Verräter gilt – und junge Männer werden dadurch derartig instrumentalisiert, dass sie sich selbst in die Luft sprengen, nur um andere – ihnen völlig unbekannte – Menschen, zumeist Zivilisten, also auch Frauen und Kinder, zu vernichten.

Auf der anderen Seite junge Amerikaner, die mit einer gnadenlos harten Ausbildung systematisch deformiert werden, bis sie bereit sind, jeden Befehl auszuführen und die ihren Stolz daraus beziehen, dass sie jeden Befehl, auch den Mord an Zivilisten, gewissenhaft durchführen. Bekanntlich beruhte die Kampfkraft der sowjetischen Armee auf einer ebenso gnadenlos harten Ausbildung.

Versucht man sich zu erklären, welche Antriebe gegeben sein müssen, damit bedenkenlos – auch fern vom Kriegsschauplatz – gemordet wird, dann ergibt sich ein bestimmter Rahmen, der in Variationen genau dahin führt. Außer Waffen, als „Werkzeuge“ des Tötens, sind ein autoritärer Führer oder Befehlshaber, ein als Begründung dienendes Feindbild, die Aussicht auf „Belohnung“ und ein pervertierter Glaube an die eigene Überlegenheit die wohl entscheidenden Voraussetzungen für solches Handeln. Der Wechsel vom normalen Zivilisten zum tötenden Soldaten oder zum mordenden Angehörigen einer paramilitärischen Formation vollzieht sich offenkundig um vieles schneller, als man bereit ist zu glauben. Die Bürgerkriege im einstigen Jugoslawien haben mitten in Europa bewiesen, wie unvorstellbar schnell es gehen kann, dass aus Zivilisten Soldaten werden, die morden, plündern, vergewaltigen und sich an Massenhinrichtungen geradezu begeistert beteiligen. Monate zuvor waren sie oft Nachbarn ihrer Opfer…

Es wäre ein gefährlicher Selbstbetrug, wenn man glauben würde, dass selbst demokratisch verfasste Staaten nicht davon betroffen werden könnten.

Dass inzwischen die posttraumatischen Störungen nach Kriegseinsätzen seit dem Vietnamkrieg massiv zugenommen haben, liegt wahrscheinlich weitaus weniger daran, was der Soldat selbst im Krieg getan hat, sondern vor allem daran, dass der Krieg gegen einen unsichtbaren Feind, der aus dem Nichts zuschlägt und nie wirklich rechtzeitig zu erkennen ist, zu einer immer unerträglicheren psychischen Belastung führt.

Abenddämmerung im Westen

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