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III. Die Toten und die Überlebenden
ОглавлениеEs ist nur wenige Jahrzehnte her – man schrieb das Jahr 1942, als sich der polnische Widerstandskämpfer Jan Kozielewski unter seinem Tarnnamen Jan Karski vom besetzten Polen aus auf den Weg machte, der ihn bis in die USA führte. Seine Aufgabe: die polnische Exilregierung und die Regierungen Großbritanniens und der USA über die Hölle des Warschauer Ghettos und den Massenmord an Juden und der polnischen Intelligenzija in den Konzentrationslagern zu informieren. Beim Treffen mit dem amerikanischen Richter Felix Frankfurter, selbst Jude, fiel jener Satz, der Karski auf das schwerste traf. Nach seinem Bericht sagte Frankfurter: „Mr. Karski, jemand wie ich, der zu jemanden wie Ihnen spricht, muß ganz offen sein. So sage ich, ich kann nicht glauben, was Sie mir erzählt haben.“ Auf einen Einwand des anwesenden polnischen Botschafters, antwortete Frankfurter: „Herr Botschafter, ich habe nicht gesagt, dass dieser junge Mann lügt. Ich sagte, ich sei unfähig zu glauben, was er mir erzählt hat.“
Jan Karski konnte damals aus verständlichen Gründen nicht ein einziges Foto oder Dokument vorlegen, das seinen Bericht belegen konnte, denn die unfassbare Wirklichkeit des Krieges und der Konzentrationslager konnte erst mit deren Befreiung und dem Ende des II. Weltkrieges durch Augenzeugen, Fotografien und filmische Dokumente öffentlich gemacht werden.
Die nachfolgenden Kriege konnten dank Kriegsfotografen wie Robert Capa oder David Douglas Duncan u. v. a. zeitgleich dokumentiert werden, wie auch durch die zahlreichen Wochenschauen in Ost und West. Dokumentarfilmer gingen in die Krisenregionen, um wie die Fotografen unter Einsatz ihres Lebens authentisches Material zu schaffen.
Schon damals wurde die Suche nach der dem wahren Gesicht des jeweiligen Krieges aus politischen Gründen diesseits und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ nicht nur eingeschränkt, sondern zensiert und manipuliert. Ein Beispiel dafür findet sich bei David D. Duncan. Er zeigt eine Fünf-Cent-Briefmarke aus der Zeit des Koreakrieges, die eine Gruppe GI’s auf einer Straße auf dem Vormarsch abbildet Heldenhaft und edel sollten diese Soldaten wirken. Duncan stellt der Briefmarke sein Originalfoto gegenüber: darauf sind am Straßenrand neben den marschierenden „Helden“ die Leichen mehrerer Koreaner zu sehen.
Mit Fernsehen und Internet wuchs die Bilderflut zu den Schauplätzen von Kriegen und Bürgerkriegen ins Unermessliche. Mit Handys aufgenommen oder gefilmt, dokumentieren sie nicht nur die Kämpfe sondern ebenso das Sterben von Soldaten, Frauen und Kindern in schrecklichen Momentaufnahmen.
Für die im Folgenden dokumentierten Kriege brauchte ich kein Nachschlagewerk. Sie alle gehören zu meinen Erinnerungen, zu denen neben aktuellen Berichten, Büchern, Filmen auch fotografische Dokumente gehören: Die Aufnahmen, die den gefesselten Lumumba mit zwei Gefährten zeigen, die von einer Soldateska auf einen Lastwagen gestoßen werden; die kaum oder gar nicht bekleideten vietnamesischen Kinder, die versuchen, sich nach einem Napalmangriff in Sicherheit zu bringen, verfolgt von einer Meute US-amerikanischer Fotografen und Kameramänner; eine Aufnahme aus der Zeit des Bürgerkrieges in Bangladesch – ein Flussbett, wahrscheinlich der Ganges, voller nackter Leichen, die von ihren Mördern ins Wasser geworfen wurden, auch hier Männer, Frauen und Kinder... und unzählige andere Dokumente von Krieg und Tod.
Als am 10. Dezember 2012 der Friedensnobelpreis an die EU für ihren „Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa“ überreicht bekam, wurde gern und häufig von einer 60jährigen Friedensperiode des europäischen Kontinents gesprochen und geschrieben. Geschichtskundige waren ob der Begründung des norwegischen Nobelkomitees mehr als erstaunt, da es die genannten Verdienste um den angeblich 60jährigen Frieden so nicht gegeben hat. Dafür waren aber wenigstens Politiker und Apologeten des Neoliberalismus beglückt über das, was ihnen da attestiert wurde…
Die Legende von der 60jährigen Friedensperiode klingt ja sehr schön; einer sachlichen Überprüfung hält sie nicht stand, weil sie ein unfrommer Selbstbetrug ist.
Zum ersten deshalb, weil zwischen dem (tatsächlichen!) Ende des II. Weltkrieges auf europäischem Boden und dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Jugoslawien 1991 eben nur 41 Jahre liegen – denn erst 1950 endete der griechische Bürgerkrieg zwischen dem bürgerlichen Widerstand, ELAM, und der Organisation des kommunistischen Widerstandes, ELAS, mit dem Sieg der von britischen und US-amerikanischen Streitkräften unterstützten ELAM.
Blutige Bürgerkriege gab es nach Kriegsende in Polen (hier siegten die Kommunisten), in der Ukraine und in den baltischen Staaten, als nationalistischen Gruppierungen wie auch Kollaborateure, die den deutschen Eroberern auch als Mordgehilfen zur Seite gestanden hatten, einen Partisanenkrieg gegen die Rote Armee führten, bis sie vernichtet worden waren.
Zum zweiten deshalb, weil Frankreich bis 1962 zwei blutige Kolonialkriege führte: Bis 1954 in Indochina, bis zum Fall der letzten französischen Festung von Dien Bien Phu, und bis 1962 in Algerien, als Frankreich seine letzte große Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen musste. Ein Krieg, der die französische Nation spaltete. Gegner dieses Krieges, nicht zuletzt Wissenschaftler und Künstler, wurden verfolgt, hunderte von Büchern, Filmen und publizistischen Arbeiten fielen der Zensur zu Opfer. Es waren zwei Kriege, die, formal gesehen, nicht in Europa ausgetragen wurden, aber trotzdem – alles andere wäre zynisch – die Legende von der 60jährigen Friedensperiode widerlegen.
Auch der Nordirlandkonflikt, der 1969 wieder aufflammte und erst 1998 beendet werden konnte, führte zu einem permanenten Kriegszustand. Von den so hoch gepriesenen 60 Jahren bleiben letztlich ganze sieben Jahre ohne militärische Konflikte. (Eigentlich nur sechs, weil 1968 die Armeen der Warschauer Vertragsstaaten in die ČSSR einmarschierten. Aber wenn man es formal betrachtet, geschah das außerhalb der EU.)
Zum dritten deshalb, weil die Mitgliedsstaaten der EU keine eigenen Verdienste an dieser Friedensperiode hatten. Dass Europa nach 1945 keinen neuen Krieg auf seinem Territorium erleben musste, lag ausschließlich daran, dass die beiden Großmächte USA und UdSSR im Zeichen des „Kalten Krieges“ und der „Nuklearen Abschreckung“ eine direkte Konfrontation nicht riskierten; dafür gab es einige der so genannten „Stellvertreter-Kriege“, wie in Vietnam.
Dass Europa vom großen Krieg mit einem nuklearen Inferno verschont blieb – schließlich wären die Armeen aller NATO-Staaten und der „Warschauer Vertrags“-Staaten in diesen gezogen – verdankt der Kontinent auch zwei Offizieren, die viel riskierten, aber letztlich – glücklicher Zufall – als die richtigen Militärs in entscheidenden Momenten am richtigen Platz waren.
Zwei „Tauben“ unter den „Falken“
Dass es sich um zwei Offiziere der sowjetischen Armee handelt, mag einerseits dem Zufall geschuldet sein, kann aber andererseits in weitem Sinne damit in Verbindung gebracht werden, dass die USA um vieles häufiger direkte und indirekte Interventionskriege führte als die Sowjetunion.
Es gab also – auch solche Widersprüche gibt es – zwei Militärs, die den Friedensnobelpreis mehr verdient hätten, als mancher andere Preisträger.
Der eine, Wassili Archipow, war während der Kubakrise leitender Offizier auf einem mit Nuklearwaffen ausgerüsteten U-Boot, das vor Kuba im Einsatz war, als es von einem US-Kriegsschiff zum Auftauchen gezwungen wurde. Für diesen Fall galt der Befehl, die Atomraketen Richtung USA abzufeuern. Archipow gelang es, den Politoffizier Maslennikow auf seine Seite zu ziehen, während der Kommandant des U-Bootes glaubte, es sei schon Krieg, und feuern lassen wollte. Das wäre aber nur bei einem einstimmigen Beschluss möglich gewesen. Das U-Boot tauchte also auf, und die US-Marine verzichtete auf das Aufbringen des Bootes, sodass sie nicht feststellen musste, dass dieses mit Nuklearwaffen ausgerüstet war.*
Der zweite Offizier war der Oberstleutnant Stanislaw Petrow. In der Zeit der Präsidentschaft Reagans verschärften sich die Spannungen zwischen den beiden Großmächten immens. Das lag weniger an Reagans Definition vom „Reich des Bösen“, als vielmehr daran, dass Marine und Luftwaffe der USA sowohl im Nordmeer als auch vor Wladiwostok Manöver durchführten, mit denen die sowjetische Aufklärung „getestet“ werden sollte. In Moskau wuchs die Besorgnis, dass es sich um die Vorbereitung eines Angriffes der USA handeln könnte. Ausgerechnet in dieser angespannten Situation erschienen auf dem Satellitenbild zuerst eine, danach noch weitere US-Atom-Raketen, die sich auf die Sowjetunion zu bewegten. Petrow wusste, dass für eine derartige Lage der Befehl zum atomaren Gegenschlag galt. Was ihn zweifeln ließ, war die geringe Zahl der anfliegenden Atomraketen. Aus eigenem Entschluss und mit hohem Risiko meldete er der militärischen Führung einen Fehlalarm und blieb bei seiner Einschätzung. Der Gegenschlag, der das atomare Inferno ausgelöst hätte, wurde deshalb nicht eingeleitet. Am Morgen darauf erhielt Petrow dann die endgültige Bestätigung, dass ein Fehler des Überwachungssatelliten den falschen Alarm ausgelöst hatte. Angesichts der ohnehin äußerst kritischen Situation muss man davon ausgehen, dass – bei einer Meldung, dass US-Raketen im Anflug seien – der Befehl zum Gegenschlag unvermeidlich gegeben worden wäre.
Beide Männer nahmen ein hohes persönliches Risiko auf sich. Archipow hätte vor ein Militärgericht gestellt werden können und Petrow gab – im Unterschied zu vielen anderen – die Verantwortung nicht „nach oben“ weiter, sondern entschied in seiner kaum vorstellbaren Extremsituation aus eigener Verantwortung.
Nachrichten von Kriegsschauplätzen oder: Der Abschied von Clausewitz
Seit 1945 hat sich die Kriegsführung stetig und radikal verändert. Aus den Kriegen mit operativer Führung und relativ klaren Fronten, sind längst Kriege ohne Fronten geworden. Erstmals in dieser krassen Form im Indochina- und im Vietnamkrieg. Vietminh und Vietcong operierten unsichtbar, sie trugen oftmals keine Uniformen, schlugen zu und verschwanden im undurchdringlichen Regenwald.
In den zahllosen Bürgerkriegen kämpfen reguläre Armeen und paramilitärische Verbände, Milizen und Bürgerwehren, deren Kriegsführung nicht allein auf den Sieg über den militärischen Gegner ausgerichtet ist, sondern gleichermaßen auf die Vernichtung seiner Anhänger, also Stammesangehöriger oder religiöser Gemeinschaften. Diese Massaker unter der Zivilbevölkerung, an wehrlosen Frauen, Kindern, Männern, sind Teil der Kriegsführung geworden.
Gänzlich andere Kriegsschauplätze ohne Fronten sind seit Jahrzehnten die Städte, in denen Kommandos von Terroristen oder so genannte Selbstmordattentäter Bomben zünden, Gebäude erstürmen und wahllos Zivilisten töten…
Seit Jahren preisen Militärs und unbedarfte Politiker angeblich „intelligente“ Waffen, die mit tödlicher Sicherheit ihre Ziele träfen. So, als würden diese Waffen „saubere“ Kriege ermöglichen. In Wahrheit ist genau das Gegenteil zutreffend. Kam im I. Weltkrieg auf acht gefallene Soldaten ein getöteter Zivilist (im II: Weltkrieg kamen noch vier Soldaten auf einen toten Zivilisten) so ist das Verhältnis heute – im Zeichen „intelligenter“ Waffen – genau entgegengesetzt: auf einen gefallenen Soldaten kommen nunmehr acht getötete Zivilisten.
Einen weiteren tiefgreifenden Wandel erfuhren auch die Ziele von Kriegen. Die letzten großen Eroberungskriege führte Deutschland im II. Weltkrieg in Europa und Japan im Pazifik. Insbesondere der NS-Staat verband bereits seine Eroberungsfeldzüge mit einem Weltanschauungskrieg, der sich gegen die europäischen Juden und gegen die slawischen „Untermenschen“ richtete.
Auch wenn es in den Kriegen der zurückliegenden Jahrzehnte um Macht, Einflusssphären, Sicherung von Rohstoffquellen u. a. ging, so wurden sie primär als Weltanschauungskriege begründet und geführt, deren Ziel nicht die Besetzung fremder Territorien war. Der Einsatz von hochtechnologischen und immer teureren Waffensystemen ließ die Kosten solcher Kriege ins Unermessliche steigen. Gewinne machte naturgemäß vor allem die Rüstungsindustrie. Alle Versuche, in diesen Kriegen den jeweiligen Gegner vollständig zu unterwerfen, waren bislang zum Scheitern verurteilt.
Die Mehrzahl der Bürgerkriege der zurückliegenden Jahrzehnte waren erbitterte „Verteilungskämpfe“. Selten ging es um eine progressive Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Es war oft der existentielle Mangel an Versorgungsgütern, Verarmung breiter Schichten, Hungersnöte und Krankheiten, die, da es nirgends für alle reichte, zum Bürgerkrieg führten, sowie die diktatorische Herrschaft einer Bevölkerungsgruppe über alle anderen. Siegten die Aufständischen, so entstand in der Regel eine neue Diktatur, deren „Herrscher“ und ihre Anhänger sich jegliche Privilegien zusprachen und diese zur persönlichen Bereicherung nutzten, wie die Herrschenden zuvor. Gab es keinen „Sieger“, dann zogen sich diese Bürgerkriege über Jahre hin, bis das ganze Land zerstört und entvölkert war.
Nach der Niederlage begann der Horror für die Zivilbevölkerung der Besiegten – die Sieger mordeten und brandschatzten mit hemmungsloser Brutalität und Gier nach allem, was sie an Beute an sich reißen konnten.
Am Ende des II. Weltkrieges im Pazifik wurde die Welt durch die Zerstörung Hiroshimas am 6. und Nagasakis am 8. August 1945 durch Atombomben erschüttert. Der erstmalige und bislang einzige Einsatz einer neuen Massenvernichtungswaffe von ungeheurer Zerstörungskraft, die noch Jahrzehnte danach jährlich Opfer forderte.
Angesichts von Abertausenden toten oder verstrahlten Einwohnern beider Städte ist es erschreckend und abstoßend, wenn in einer deutschen Zeitschrift* unter der obskuren Rubrik „Die dunklen Geheimnisse der Geschichte“ eine in wesentlichen Passagen zynische Rechtfertigung unter der unsinnigen Fragestellung „Bewahrten die Atombomben auf Japan die Welt vor dem Untergang?“ publiziert wird.
Unter Berufung auf einen Militärhistoriker namens Richard B. Frank werden folgende Überlegungen angestellt: Japan kapitulierte nach dem Abwurf der Atombomben. Infolgedessen wurde verhindert, dass die Weiterführung des Krieges Hunderttausende von Toten – darunter auch 800.000 US-Soldaten – auf dem Schlachtfeld zur Folge gehabt hätte. Und man kommt schließlich zu dem Schluss, dass der Krieg noch weitere fünf Jahre angedauert hätte, mit weiteren Millionen Toten. Diese Begründungen, mit denen die Toten von Hiroshima und Nagasaki als notwendig begründet und gleichermaßen marginalisiert werden, sind nichts anderes als absurde Spekulationen zur Rechtfertigung der Abwürfe beider Atombomben. Da bewusst von einer Darstellung der realen militärischen und politischen Weltlage „abgesehen“ wird, sind sie nichts anderes als eine substanzlose und zynisch anmutende Abstraktion. Da Hitlerdeutschland am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, stand Japan endgültig allein. Dass die Sowjetunion bereitstand, an der Seite der USA in den Pazifikkrieg einzugreifen, war bekannt. Ob die Amerikaner vorsätzlich die Atombomben einsetzten, bevor die Sowjetunion am 8. August 1945 Japan den Krieg erklärte, kann bis heute nicht beantwortet werden; auszuschließen ist es keineswegs. Gesetzt den Fall, die japanische Armee hätte noch über die vermutete Kampfkraft verfügt, warum nutzte die militärische Führung die Zerstörung Hiroshimas nicht zu einem von Hass getragenen Gegenschlag? Harakiri hatte in Japan eine lange Tradition. Umso größer ist dagegen die Wahrscheinlichkeit, dass Japan schon zu diesem Zeitpunkt zur Kapitulation bereit war. Und schließlich wird ein gravierendes Problem völlig außer Acht gelassen: Wäre es wirklich um die Kapitulation Japans gegangen, warum wurde nur zwei Tage später eine zweite Bombe abgeworfen, statt abzuwarten, wie Japan reagieren würde? Weder Hiroshima noch Nagasaki waren militärstrategisch wichtige Ziele…Mit solchen „Deutungen“ wie weiter oben dargelegt kann man allerdings – und das allein sollte zählen – jeden Abwurf einer Atom- oder Wasserstoffbombe rechtfertigen. Allerdings würde das heute zu dem im Text beschworenen Weltuntergangsszenario führen.
Auch hier gilt, was schon immer galt: Gibt man Militärs neue Waffen, dann werden sie diese bedenkenlos einsetzen, um den „Feind“ zu besiegen.
*
1953 begann der Koreakrieg, als das kommunistische Nordkorea mit Unterstützung Chinas Südkorea angriff und zu großen Teilen besetzte. Mit dem Mandat der UNO griffen die USA und weitere Staaten auf der Seite Südkoreas ein und beendeten in einem blutigen Kampf diesen Krieg zu Gunsten Südkoreas. Was bestehen blieb, war die Teilung Koreas bis heute. Kaum Beachtung fand dagegen das erbarmungslose, für die nordkoreanische Zivilbevölkerung folgenschwere Flächenbombardement des Nordens mit dem ersten Einsatz von Napalmbomben, die unvorstellbare Schäden sowohl bei der Zerstörung der Hütten auf dem Lande als auch in den Städten anrichteten und die Ernten vernichteten. Nach heutigen Erkenntnissen wurde mehr als ein Viertel der nordkoreanischen Zivilbevölkerung zu Opfern dieser Flächenbombardements.
Um die Dimension dieses Sterbens deutlich zu machen: um im II. Weltkrieg einen ebenso großen Verlust unter der Zivilbevölkerung anzurichten, hätten durch die Luftangriffe der Alliierten 20 Millionen Deutsche ums Leben kommen müssen.
Wer heute die Zustände des von Diktatoren beherrschten Nordkoreas kritisch oder gar fassungslos verurteilt, sollte bedenken, dass es sich um ein schwer traumatisiertes Volk handelt, dessen drei Diktatoren genau das skrupellos ausnutzen. Nicht zufällig gelten die Tiraden der Vergeltung den USA, denn genau das verfängt bei den Opfern von damals und bei ihren Nachfahren und führt zu einer, von außen gesehen, scheinbar absurden Instrumentalisierung.
Im Vietnamkrieg wiederholten die USA den Einsatz von Napalm. Durch pausenlose Flächenbombardements und den Einsatz von Giftgasen wurden Südvietnams Dörfer und die Landwirtschaft systematisch vernichtet, die Böden kontaminiert, sodass noch lange nach Kriegsende Menschen starben und Missgeburten zum Alltag gehörten. Als die USA 1974 den Krieg als Verlierer beendeten, hatten weit über eine Millionen vietnamesischer Zivilisten den Tod gefunden. Es war ein Krieg, der so grausam und mitleidlos geführt wurde, dass viele der heimkehrenden US-Soldaten schwer traumatisiert waren. Vietnam, das war auch der erste totale Krieg ohne Fronten, aber nicht der letzte. Im Gegenteil.
*
Nach dem Ende der Kolonialherrschaft in Afrika sprach man von den jungen Nationalstaaten. Ein verhängnisvoller Glaube. Denn ihre Grenzen waren die künstlichen Grenzziehungen der Kolonialzeit und trennten ethnische und religiöse Gruppen oder Stämme, die nun in zwei oder mehr der neuen Staaten lebten – eine der Ursachen für die bis heute konflikthaltigen Spannungen, Verfolgungen und Bürgerkriege in afrikanischen Staaten wie auch massenhaftes Elend, Existenz bedrohende Armut, innere Kämpfe um Macht und Besitz, die von mörderischer Gewalt gegen alle und jeden begleitet sind
1960 fand im Kongo, zuvor belgische Kolonie, die erste Parlamentswahl statt. Die neugewählte Regierung unter Patrice Lumumba entschied sich für eine Verstaatlichung der in ausländischer Hand befindlichen Industrieanlagen. Der Kongo galt damals als das Land mit den meisten natürlichen Reichtümern des Kontinents. Deshalb war dieser Schritt für die einstige Kolonialmacht nicht hinnehmbar. Mit Hilfe der CIA und politischer Gegner Lumumbas im Kongo wurde er entmachtet, mit zwei Gefährten verhaftet, gefoltert und im Beisein belgischer Offiziere erschossen. Am folgenden Tag wurde sein Leichnam wieder ausgegraben und mit Säure zersetzt und „verstreut“. Es war ein unmissverständliches Signal des Kapitals. Der Kongo war – wie schon gesagt – ein an Bodenschätzen und Industrieanlagen reiches Land. Schon lange ist das seither von Bürgerkriegen und Machtkämpfen zerrissene Land eines der Ärmsten in Afrika.
Nigeria und Biafra, der Sudan, Äthiopien, Mozambique, Ruanda, Somalia, Mali, Zentralafrika – Länder, in denen entweder Konflikte zwischen unterschiedlichen Volksgruppen oder aggressive, radikalisierte islamische Gruppierungen immer neue Bürgerkriege auslösen, die zu mörderischen Machtkämpfen und Vernichtungsfeldzügen werden, zu Massakern unter der Zivilbevölkerung, wo Millionen Menschen zu flüchten versuchen vor den todbringenden Formationen mit und ohne Uniform…
Lateinamerika oder: Der wahre Wert westlicher Menschenrechte
Der Subkontinent war nach 1945 ein Eldorado US-amerikanischer Firmenimperien, die (mit Unterstützung einheimischer Latifundienbesitzer) geradezu modellhaft die Ausbeutung der Bauern und der Arbeiter in der Weiterverarbeitung betrieben. Da die Länder aber über eine längere nationalstaatliche Geschichte verfügten, traf die Herrschaft der US-Monopole auf Kritik und Widerstand von Seiten der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter wie auch der Landarbeiter, der Intelligenz und der Kunst- und Kulturschaffenden. Dort, wo sich diese Kräfte vereinigten (unter Mitwirkung der meist kleinen kommunistischen Parteien), ihre Forderungen erhoben und damit auf die Straße gingen, geschah immer das Gleiche. Ob Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien oder kleinere Staaten von Bolivien bis El Salvador: Wuchs der Widerstand, den die bürgerlichen Regierungen nicht zerschlagen konnten oder wollten, dann war umgehend – mit dem stillen Segen oder mit Hilfe der CIA – eine Militärjunta „bereit“ die Macht zu übernehmen und diese mit größtmöglicher Brutalität zu sichern. Die „Todesschwadronen“ und die mörderischen Geheimdienste wurden zum Synonym dieser Diktaturen, willkürliche Verhaftungen, Folter und spurloses Verschwinden von Inhaftierten gehörten zum Alltag.
Mit allen Diktatoren – ob Stroeßner, Duvallier oder Pinochet –, die in ihren Ländern als „Bollwerke gegen den Kommunismus“ skrupellos, korrupt und mörderisch agierten, fühlten sich die USA, der „Hort der Freiheit“, über Jahrzehnte eng verbunden. Und so waren die alltägliche und radikale Missachtung der Menschenrechte auch für die westeuropäischen Demokratien völlig bedeutungslos. Heute will sich in der freien Welt der Industrienationen kaum jemand an die Mitschuld allein durch das Schweigen erinnern. Der Kampf gegen den Kommunismus rechtfertigte jedes Mittel. Dabei waren schließlich auch nicht wenige Angehörige des Klerus der katholischen Kirche, die sich dem mit ihrer „Theologie der Befreiung“ entgegenstellten.* Und niemand benennt die Zahl der Toten und für immer Verschwundenen oder das mörderische Schuldkonto der CIA.
Der Widerstand formierte sich in Guerillakämpfern wie den Sandinisten in Nicaragua oder einer Gruppierung wie „Der leuchtende Pfad“. In Kolumbien herrschten seit den 50er Jahren ein ständiger – nur zeitweise unterbrochener – Bürgerkrieg und ein blutiger Kampf der Drogenkartelle.
Nach 1990 schienen sich die politischen Bedingungen in Lateinamerika zu verändern, war doch die Gefahr kommunistischer „Infiltration“ gebannt und Diktaturen „nicht mehr notwendig“. Dafür sahen sich einige Staaten einer neuen Gefährdung des inneren Friedens ausgesetzt: Drogenkartelle und ihr alltäglicher Krieg untereinander und gegen die Staatsmacht führten zu Destabilisierung, Mord, Korruption. Drogenkriege machten aus einem Staat wie Mexico, einst ein ungewöhnliches Beispiel für Liberalität, kulturelle und künstlerische Vielfalt, ein Land, dessen Bürger im permanenten Ausnahmezustand überleben müssen.
Exkurs Naher Osten
Keine andere Region war nach 1945 (bis heute) derart von Konflikten – Kriegen und Bürgerkriegen – geprägt wie der Nahe Osten. Der Gründung des Staates Israel 1948, dem eine Massenflucht arabischer Einwohner Palästinas vorausging, folgte ein massiver Angriff der arabischen Staaten mit dem Ziel, den israelischen Staat zu vernichten. Weitere Kriege folgen 1956, 1967, 1973, in denen die israelische Armee siegt und bestimmte Regionen besetzte. Ungelöst bleibt das Problem der palästinensischen Flüchtlinge (bis heute). 1964 wird die PLO gegründet und unter Führung Jassir Arafats die „Al-Fatah“. Es entstehen weitere organisierte militante Gruppen, die sich als Fedajin bezeichnen. Ständige militärische und zunehmend terroristische Aktionen prägen die Folgezeit. 1979 kommt es zum Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten; die militanten Palästinenser werden aus Jordanien vertrieben, Israel besetzt ganz Jerusalem. Es sind die Jahre des Terrors der „Al-Fatah“ und anderer Gruppen. Der Libanon wird zum Schauplatz von Bürgerkrieg und Machtkämpfen zwischen christlichen Milizen und Palästinensern, das Land wird zerstört…Anfang der 90er Jahre scheiterten die bis dahin erfolgversprechenden Friedensbemühungen zwischen Arafat, Peres und Rabin, die vom US-Präsidenten Clinton mitgestaltet wurden, als Itzak Rabin nach einer Friedenskundgebung am 4. November 1993 in Israel ermordet wurde. Mit dem Machtwechsel 1979 im Iran, als die Herrschaft des Schahs beendet wurde und eine islamische Republik unter Führung des Ayatollah Khomeini entstand, erhielt Israel einen neuen mächtigen Gegner.
Ein haltbarer Friedensschluss und die Schaffung eines Palästinenserstaates scheinen in noch weitere Ferne gerückt …
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Waren es einst die Briten, so sind es seit Jahrzehnten die USA, die in der erdölreichen Region dominierten. Bis 1979 konnten sie sich auf drei der großen Staaten stützen. Zum einen auf den Iran mit seiner überwiegend schiitischen Bevölkerung, zum anderen auf den Irak, in dem Saddam Hussein, eine diktatorische Herrschaft der sunnitischen Minderheit über die schiitische Bevölkerungsmehrheit sicherte und schließlich auf Saudi-Arabien, ein sunnitisches Königreich, ein repressiver Staat, in dem die Wahhabiten als extremistische religiöse Gruppierung für die Sicherung feudaler Machtverhältnisse stehen. Die Feindschaft zwischen Schiiten und Sunniten gehört zur Geschichte des Islam.
1979 verloren die USA mit der Machtergreifung der Ayatollahs im Iran ihren einzigen schiitischen „Partner“ und sahen sich mit einem zunehmenden Anti-Amerikanismus konfrontiert, der sich weiter verschärfte, als sie den Irak unter Saddam Hussein dazu „bewegten“, den Iran militärisch besiegen zu wollen. Der Krieg begann 1980 und endete nach furchtbaren Verlusten in den Wüstengebieten 1988. Ausgerechnet in Saudi-Arabien, dem letztlich einzig verbliebenen Bündnispartner der USA, wurde in diesen Jahren ein terroristisches Netzwerk gegründet, das „El Quaida“ genannt wurde und sich in einer Vielzahl von Gruppen und Gruppierungen über die Welt ausbreitete. Mit Selbstmordattentaten und Bombenanschlägen auf Militäreinrichtungen und öffentliche Gebäude versuchen religiös motivierte Fanatiker und manipulierte junge Männer Angst und Schrecken zu verbreiten und für islamische „Gottesstaaten“ zu kämpfen. Als Saddam Hussein nach dem gescheiterten Irankrieg Kuwait besetzte, griff sein einstiger Bündnispartner, die USA, unterstützt von Truppen anderer NATO-Staaten ein, befreiten mit einem Mandat der UN Kuwait und stießen nach Bagdad vor, zogen sich dann aber zurück. Der Irak wurde weiter als Gefahr für den Weltfrieden gesehen und mit Sanktionen belegt, die – wie immer – vor allem die Bevölkerung trafen. Dann folgte der 11. September 2001 mit der Zerstörung der Twintowers in New York. Die Bush (jr.)-Administration entschied sich für einen Militärschlag gegen den Irak mit dem Ziel, Saddam Hussein zu entmachten, dem Irak die Demokratie zu bringen, Husseins BC-Waffenarsenale zu vernichten und „El Quaida“ zu zerschlagen. Das Resultat: Hussein wurde gehängt, BC-Waffen nicht gefunden; ebenso ging der Schlag gegen “El Quaida“ ins Leere, die, von Hussein bekämpft, im Irak nicht existent war. Und die Zielsetzung, dem Irak die Demokratie bringen zu wollen verlor sich sehr schnell im Wüstensand. Dafür begann ein bis heute andauernder Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten…
Das alles muss im Zusammenhang mit dem Desaster der USA in Afghanistan gesehen werden, als nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee die Widerstandsgruppen der Mudjahedin mit modernsten Waffen versorgt wurden. Als die Sowjetunion ihre Armee zurückzog, sah sich die US-Administration außerstande, die blutigen Machtkämpfe der verschiedenen Gruppen zu verhindern, die ganz Afghanistan verwüsteten. Als schließlich die Taleban mit ihrer radikalen Auslegung des Koran die Oberhand gewannen, sahen sich die USA und weitere NATO-Staaten in der Pflicht, deren Herrschaft zu beenden, nicht zuletzt auch deshalb, weil „El Quaida“ in Afghanistan wie in Pakistan eine Operationsbasis aufgebaut hatte. Irgendwann werden die Soldaten des westlichen Bündnisses Afghanistan verlassen, ohne die Macht der Taleban gebrochen zu haben.
Was den langandauernden schrecklichen Bürgerkrieg in Syrien betrifft, ist es notwendig, an den Ursprung dieses Konflikts zu erinnern: Mit der Machtergreifung Hafiz Al-Assads 1971 wurde die religiöse Minderheit der Alawiten zum Träger der politischen Macht gegenüber der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit. Der Aufstand gegen den Assad-Sohn, der als friedlicher Massenprotest begann, wird von Sunniten geführt. Mit Assad kämpfen deshalb die Alawiten nicht nur um ihr politisches Überleben. Die Hoffnung des Westens auf einen demokratischen Wandel werden sich als „Selbsttäuschung“ erweisen, denn es war und ist unwahrscheinlich, dass das Ziel der tief gespaltenen Opposition ein demokratisches Syrien ist. Dagegen spricht auch die Präsenz von Kämpfern aus dem Lager der Dschihadisten und anderer radikalisierter Gruppen, die in Syrien, oder aus dem, was dann noch geblieben sein wird, einen Gottesstaat errichten wollen. Dass von der Opposition immer wieder der Demokratiebegriff ins Spiel gebracht, ist ohne wirkliche Bedeutung. Wenn man sich der Gunst des Westens versichern will, weiß jede Opposition längst, dass man Demokratie als Ziel verkünden muss.
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Und Asien? Das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien und die Dreiteilung des Landes in Indien als hinduistischen Staat, sowie in Ost-und Westpakistan als islamische Staaten führt zu wechselseitigen Massakern an den andersgläubigen Minderheiten, die zu flüchten versuchen. Mahatma Ghandi wird, als er sich gegen diese Welle der Gewalt stellt, von einem fanatisierten Glaubensgenossen ermordet. Schon 1947 kommt es zum ersten Kaschmir-Konflikt, der niemals wirklich bereinigt werden kann. Als sich Ostpakistan ab 1971 politisch unter dem Namen Bangladesch selbständig macht, führen Machtkämpfe und blutige Unruhen zu Millionen Toten und über 10 Millionen Flüchtlingen.
In Kambodscha kamen 1976 die Roten Khmer unter Führung Pol Pots an die Macht und errichteten ein Schreckensregime mit dem „Ziel“, Kambodscha radikal umzugestalten. Nahezu zwei Millionen, über ein Drittel der Gesamtbevölkerung, wurden ermordet. Erst 1979 mit dem Einmarsch vietnamesischer Truppen und kambodschanischer Rebellen endete der Terror*.
Indonesien wird 1965, als die kommunistische Herrschaft Sukarnos durch das Militär beendet wird, zum Schauplatz einer blutigen Abrechnung mit den Anhängern der PKI Sukarnos und aller irgendwie Verdächtigen. Hunderttausende werden ermordet oder in Straflager verbracht… Andere Staaten wie Birma, Malaysia oder Laos sollen an dieser Stelle genannt werden.
Und nach wie vor schwelt der Konflikt zwischen den Atommächten Indien und Pakistan…
Wenn Machthaber Mörder in und ohne Uniform, Folterknechte und Menschenjäger brauchen, dann werden sie bis heute mehr als genug finden. Man gibt ihnen die Waffen und Folterwerkzeuge, sie sind an keine Gesetze gebunden, es gilt nur der Befehl zur Vernichtung aller „Gegner“. Macht man Menschen zu gesetzlosen Herren über Leben und Tod, dann zeigt sich deren Macht ausschließlich im Tod der ihnen Ausgelieferten.
Zerfall eines Imperiums und ein neues Zeitalter des Aufbruchs zu den alten Ufern
Als 1991 die kommunistische Herrschaft im so genannten Ostblock, bestehend aus der UdSSR, Polen, der ČSSR und der DDR, Ungarn, Bulgarien und – mit „Sonderstatus“ – Rumänien, beendet wurde, löste sich der Vielvölkerstaat Sowjetunion auf und die beiden deutschen Staaten vereinigten sich mit dem Beitritt der DDR zur BRD.
Die USA und die mit ihr verbündeten Staaten hatten sich im Jahrzehnte andauernden Ost-West-Konflikt als die ökonomisch stärkste Machtgruppierung der Welt behauptet. Der „Kalte Krieg“ war zu Ende. Kam nunmehr Frieden für die Menschheit?
Genau das geschah – entgegen allen Hoffnungen – nicht. Vielmehr wurde die Politik der USA im Laufe der Jahre aggressiver und – angesichts der Gefahr des zunehmenden weltweit operierenden Terrorismus mit seinen Netzwerken – immer gewaltbereiter. Offenkundig hatte die westliche Welt angesichts des Sieges über das kommunistische System ein entscheidendes Problem nicht wahrnehmen wollen. Denn mit dem Ende des Kommunismus blieben sie mit ihrer globalen Verantwortung die nunmehr einzige Macht, die über die Kraft verfügte, internationale Konflikte zu lösen, militärische Konfrontationen einzudämmen oder zu beenden. China war inzwischen auf dem Weg zur wirtschaftlichen Großmacht und Russland sah sich durch Osterweiterung von EU und NATO bis an seine Landesgrenzen in seinen Sicherheitsinteressen missachtet.
Als Beleg dafür, dass es vor und ebenso wenig nach dem Ende der sozialistischen Staatengemeinschaft seit 1945 keine Woche, kaum keinen Tag gegeben hat, wo Frieden auf der Welt war, folgt eine zweigeteilte Übersicht ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Bis 1990/ 91 | |
1945 (September) | Kapitulation Japans (Ende des II. Weltkrieges) |
1948 | Erster Nahostkrieg, als ein Bündnis arabischer Staaten den neugegründeten Staat Israel angreift, um |
ihn zu vernichten; weitere Kriege – wie der Sechstagekrieg, Jom-Kippur-Krieg – folgten | |
1951 | Ende des Bürgerkrieges in Griechenland |
1953 | Koreakrieg |
1954 | Ende des Indochinakrieges Frankreichs |
1956 bis 1962 | Algerienkrieg Frankreichs |
1967 – 1970 | Bürgerkrieg in Nigeria (Biafra) |
1956 – 1973 | Vietnamkrieg (USA und Verbündete, u. a. Australien und Neuseeland) (Der Krieg in Indochina bzw. Vietnam begann mit der japanischen Besetzung im II. Weltkrieg und der Befreiung durch die US-Army im Bündnis mit dem kommunistischen Widerstand der Viet-Minh und war endgültig nach dem Kambodschakrieg 1979 beendet. Mit wenigen Unterbrechungen zog sich der Krieg über 35 Jahre hin. Zuletzt kämpften die Enkel der Generation der Kämpfer der Viet-Minh.) |
1973 | Militärputsch in Chile |
1975 – 1978 | Bürgerkrieg in Angola |
1975 bis 1988 | Bürgerkrieg in Nicaragua |
1977 bis 1979 | Vietnam besetzt Kambodscha und beendet die Diktatur der „Roten Khmer“ unter Pol Pot, in der Zeit seiner Herrschaft wurden zwei von fünf Millionen Kambodschanern umgebracht |
1978 – 1979 | Bürgerkrieg in Zaire |
1979 – 1990 | Syrisch-libanesischer Krieg und Bürgerkrieg im Libanon |
1980 – 1988 | Erster Golfkrieg Irak und Iran |
1980 – 1988 | Bürgerkrieg in Ruanda |
1979 – 1987 | Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion, Bewaffnung der Mudjahedin durch die USA |
1983 | Krieg Libyen gegen den Tschad |
Nach 1990/ 91 | |
1990 | der Irak besetzt Kuweit, es folgt |
1991 | der zweite Golfkrieg, in dem die USA mit ihren europäischen Verbündeten mit einem Mandat der UNO die irakische Armee besiegt, Kuwait befreit und sich nach diesen Siegen wieder aus dem Irak zurückzieht. |
1991 – 1995 | Bürgerkrieg in Jugoslawien |
1992 – | Bürgerkrieg in Tadschikistan |
1992 – | 1996 Bürgerkrieg in Afghanistan, Machtergreifung der Taliban |
1994 | Genozid in Ruanda |
1996 – 2000 | Israelisch-libanesischer Konflikt |
2001 – | Beginn des Krieges gegen die Taliban in Afghanistan durch die USA und ihren europäischen Verbündeten |
2003 – 2010 | Dritter Golfkrieg; die USA und ein Teil der europäischen NATO-Staaten besiegen den Irak und beenden die Herrschaft Saddam Husseins; alle Begründungen für diesen Krieg erwiesen sich als erlogen; nach dem Abzug der US-Army verschärft sich der Bürgerkrieg und dauert noch immer an |
2010 | Eskalation der Massenproteste in Syrien zum Bürgerkrieg |
2013 | Bürgerkriege in Mali und Südsudan |
Diese Permanenz von Kriegen dürfte inzwischen weit mehr Tote gefordert haben, als der Zweite Weltkrieg mit über 50 Millionen.
Ich muss zugeben, dass es mich noch immer aufs Neue fassungslos macht, wenn irgendwo auf der Welt unschuldige Männer, Frauen und Kinder umgebracht werden, als Opfer von Machtkämpfen, von regulären Soldaten, Freischärlern, Marodeuren oder Terroristen, die bedenkenlos rauben, morden, foltern oder vergewaltigen und dafür nicht einmal mehr Befehle als „Rechtfertigung“ brauchen…
Ein „Kainsmal“ des XX. Jahrhunderts
Wie werden eigentlich normale Menschen zu Massenmördern? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte von Massenmorden. Am Beginn dürften die kolonialen Vernichtungskriege gegen Hereros, Hottentotten, Buren und der Genozid an den Armeniern in der Türkei stehen, an dem sich auch Abertausende von Zivilisten beteiligten, mit unvorstellbarer Grausamkeit. In den 20er und 30er Jahren wurden in den Jahren des Stalinschen Terrors in der Sowjetunion wahrscheinlich 20 Millionen Menschen, Bürger der UdSSR, ermordet.
Dann kam der Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht. Der Antisemitismus wurde Staatsdoktrin ebenso das Ziel, die europäischen Juden zu vernichten. Massenerschießungen weit hinter der Front – vor allem in der Sowjetunion, Massentransporte aus allen besetzten Ländern in die Massenvernichtungslager Auschwitz, Majdanek, Sobibor und andere wurden mit teuflischer Präzision geplant und durchgeführt und endeten in den Gaskammern.
Die das vorrangig taten, waren keine mit dem Töten vertrauten Soldaten, sondern unter der Führung der SS gehörten zu den Massenmördern Polizeiangehörige, Ordnungspolizisten, die Wachmannschaften der Konzentrationslager, Juristen, die Verstöße gegen Verordnungen und Verbote des NS-Staates mit Verurteilung zur Haft im Konzentrationslager „ahndeten“. Millionen – Männer, Frauen, Kinder – wurden vor Massengräbern erschossen, Millionen erstickten in den Gaskammern, wurden erschlagen oder starben an Hunger und Krankheiten. Es waren keineswegs ausgesuchte Sadisten, die in dieser Mordmaschinerie dienten. Die wenigsten von ihnen haben Reue gezeigt oder sich schuldig gefühlt, was die Prozesse gegen die Mörder von Auschwitz und Majdanek bewiesen.
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In ihren Konsequenzen ungeheuerliche Vorgänge wie der Massenmord an den europäischen Juden und der „Große Terror“ in der Sowjetunion haben bewiesen, dass die tatsächlich Unschuldigen – gleich ob Juden, einfache Bürger – hilflos, ohnmächtig und unfähig zur Verteidigung oder zum Widerstand waren. Man kann – um einen einigermaßen zutreffenden Begriff für dieses Verhalten zu formulieren – von einer besonderen Ausprägung einer „Paralysierung“ von aus Millionen Menschen bestehenden Gruppen sprechen, die zu Schuldigen erklärt und verfolgt werden, aber außerstande sind, ihre Schuld zu begreifen, weil diese in Wahrheit nie gegeben war. Die europäischen Juden und andere Verfolgte, ausgeliefert den Massenmördern in Uniform und Zivil, wurden in ganz Europa zusammengetrieben, in Viehwaggons verladen und unter unmenschlichen Bedingungen auf ihre oft lange für viele bereits todbringende Reise nach Auschwitz oder in andere Konzentrationslager geschickt, wo sie der Tod in den Gaskammern, durch Sklavenarbeit, Totschlag, Hunger oder Krankheit erwartete – Männer, Frauen, Kinder jeden Alters. Ihre vorgebliche Schuld, mit der jener Massenmord begründet wurde, war, dass sie Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle waren. Kaum einer von ihnen hatte sich dem NS-Regime in irgendeiner Weise widersetzt. Um einen Grund für ihr Sterben zu erkennen, hätten sie ja die rassistischen „Begründungen“ ihrer Mörder annehmen müssen. Da ihnen das natürlich unmöglich gewesen ist, waren sie ihren Mördern in zweifacher Weise völlig ausgeliefert.
Der Aufstand der Juden des „Warschauer Ghettos“ vom 19. Mai 1943 kann nicht als Widerspruch dazu gesehen werden. Nach Monaten des Sterbens im Ghetto und den Transporten der Bewohner in die Vernichtungslager, beschlossen die Verbliebenen, sich zur Wehr zu setzen, wobei ihnen völlig klar war, dass sie, die ohnehin dem Tode Geweihten, mit ihrem bewaffneten Widerstand nur ihrem Sterben einen gänzlich anderen Sinn zu geben vermochten.
Die nach Millionen zählenden Gruppen der Opfer des Terrors unter Stalin waren dagegen den Verhaftungen, Folterungen und Massenhinrichtungen oder der Haft in den Gulags vollständig ausgeliefert. Schuldlos, aber hilflos auch deshalb, weil niemand wusste, ob, wann und warum er verhaftet werden würde. Hatte er nur die „falschen“ Bekannten, wurde er Opfer einer Denunziation oder wurde er einfach nur auf eine Liste gesetzt, weil er ein „Verdächtiger“ war, der in das „Schema“ der zu beseitigenden „Volksfeinde“ passte…
Die Unschuldigen mit den blutigen Händen
Das Verhalten der Täter steht im krassen Gegensatz zur Wehrlosigkeit ihrer Opfer. Zwar schrieb Goebbels in seinen Tagebüchern – im Wissen, was den NS-Staat wirklich ausmachte: „Wenn wir den Krieg verlieren, dann Gnade uns Gott.“, doch auf Gottes Gnade wollten sich aber weder die Generäle der Wehrmacht noch die Massenmörder in SS-Uniform und ihre zahllosen Mittäter verlassen. Bereits ab 1943 wurden im Generalstab der Wehrmacht Strategien entwickelt, um sich nach dem Krieg als redliche Soldaten, die nur ihren Befehlen gehorcht hätten, zu präsentieren. Insbesondere in SS-Führungskreisen wurden Vermögen ins neutrale Ausland verbracht und Fluchtpläne entwickelt. Man war auf den „Tag X“ vorbereitet. Schuldgefühle oder Reue waren angesichts des organisierten Schweigens gefährlich und ohnehin selten, selbst während der „Nürnberger Prozesse“.
Wirklich Unschuldige können definitiv keine Strategie zu ihrer Verteidigung entwickeln, weil es unmöglich ist, sich für etwas zu verteidigen, was man nicht getan hat. Demgegenüber haben wirklich Schuldige mehr als genug Gründe und „Möglichkeiten“, Strategien zu entwickeln, Zeugnisse ihrer Verbrechen verschwinden zu lassen und sich gegenseitig zu „entlasten“.
Während einige der exponierten Führungskräfte als überführte Kriegsverbrecher hingerichtet oder zu langen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, waren die Eichmanns, Barbies und Mengeles untergetaucht, um dann mit vielen ihrer Mittäter mit Unterstützung aus dem Vatikan über die so genannte „Rattenlinie“ nach Südamerika oder Vorderasien zu gelangen, wo sie über Jahrzehnte unbehelligt lebten.
Der „Kalte Krieg“ hatte begonnen und die westlichen Staaten trafen eine schwerwiegende Richtungsentscheidung: Da der Antikommunismus gesetzt war – angesichts der Furcht des freien Westens vor der kommunistischen Großmacht Sowjetunion – entschied man sich gegen eine politische Formel „Antikommunismus und Antifaschismus“, sondern formulierte eine Alternative „Antikommunismus oder Antifaschismus“ und eliminierte somit den Antifaschismus als politische Verpflichtung. Das hatte u. a. zur Folge, dass in der BRD die Nazi-Eliten rehabilitiert und wieder in ihre einstigen Funktionen „eingesetzt“ wurden – in Wirtschaft, Justiz, Diplomatischem Dienst, Bundeswehr und Politik.
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In der Sowjetunion beharrten die politisch Hauptverantwortlichen neben Stalin, also Molotow, Woroschilow und ihre „Genossen“ bis an ihr Lebensende darauf, dass der „Große Terror“ berechtigt und notwendig, also rechtens gewesen wäre. Da in dieser Zeit auch die NKWD-Verantwortlichen und ihre Folterknechte auf Stalins Befehl liquidiert wurden, verblieben nur diejenigen, die unter Berija ihr mörderisches Tun betrieben hatten, am Leben, das sie, im Alter mit angemessenen Pensionen wohlversorgt, in Ruhe verbringen konnten. Berija selbst wurde nicht etwa als Verbrecher gegenüber den sowjetischen Bürgern hingerichtet, sondern als ausländischer Agent…
Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, enthält aber genügend Beispiele für die Vernichtung ganzer Völker und bedeutender Kulturen – der Maya und Inka in Südamerika im Zeichen des Kreuzes oder der Indianer Nordamerikas… Damals rühmten sich die Sieger ihrer Taten, manche ihrer Nachkommen tun dies auch heute noch; an Begründungen ist – wie stets – kein Mangel.
Bis heute einzigartig handelte Nelson Mandela, der durch seine außergewöhnliche, integere Persönlichkeit und die Glaubwürdigkeit seiner Worte erreichte, dass es nach dem Ende der Apartheid zu einer Aussöhnung zwischen der bis dahin herrschenden rassistischen, weißen Oberschicht und den über Jahrzehnte ausgebeuteten, diskriminierten und rechtlosen Farbigen in Südafrika kam. Ein säkulares und bislang beispielloses Ereignis, von dem wahrscheinlich Millionen hoffen, dass es sich wiederholen könne.