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Blasenexperten

»China, also die ganze chinesische Wirtschaft, das ist doch nur eine einzige gigantische Blase. Und wenn die platzt ...«

Der ältere Herr am Nebentisch spricht in dramatischem Ton auf ein vergleichsweise etwas jüngeres Gegenüber ein, einen Mann Mitte 50, der die Bedeutsamkeitsbeschallung offensichtlich nicht als übermäßig beglückend empfindet, aber in einer Art Höflichkeitsstarre verharrt. Bevor er erfahren muss, was passieren wird, wenn die riesige chinesische Blase platzt, klingelt sein Telefon, das er, erleichterten Antlitzes, aus seiner Tasche zerrt. Sehend, wer ihn anruft, maskiert er sich mit einem Lächeln und flüstert über den Tisch: »Pardon, das ist meine Frau, ich muss da rangehn.«

Das fahle, gleichsam käsfußene Gesicht des Experten für das chinesische Blasenplatzen zeigt den unfrohen Ausdruck eines Mannes beim Interruptus. Die Worte des Welterklärers stehen im Gefühlsstau und hupen. Sie wollen ans Ziel und dürfen nicht; das sorgt für sichtlichen Unmut.

Kaum hat der Beschwallempfänger das eheliche Telefonat beendet, da schießt der Blasenmann schon wieder vor. Redundanz ist für ihn kein Kriterium, also auch kein Hinderungsgrund. »Also wenn diese ganze gigantische chinesische Wirtschaftsblase platzt«, hebt er erneut an, als das Telefon seines Zwangszuhörers abermals klingelt. »Nochmal meine Frau«, flüstert er wieder, hebt das Telefon ans Ohr und dreht sich seitlich weg.

Dem Blasenspezialisten hängt ein halber Satz aus dem Mund, auf der anderen Hälfte kaut er herum, sie quillt ihm geradezu aus den Augen. Er wendet sich mir zu; an wen er seine Expertise loswird, scheint ihm mittlerweile egal zu sein, Hauptsache, er bringt sie an den Mann.

Eine Zeitung kann Leben retten und Frieden spenden. Ich hebe sie vom Tisch hoch, schlage sie auf und bringe sie ins Gesichtsfeld zwischen den Blasenkopf und mich. Wenn Blasen platzen, wird es für gewöhnlich sehr nass, und es riecht dann auch nicht gut. Mich aber wird keine platzende chinesische Blase bespluddern und benetzen, und kein urinaler Dunst wird meine Nase schänden.

Eine ältere Dame tritt an den Nebentisch, an dem der Ehemann sich offenbar entschlossen hat, das Telefonat mit seiner Frau noch ein wenig auszudehnen. »Komm, Manfred«, sagt die Dame zu dem Mann mit der halben Blase im Mund, »wir müssen jetzt wirklich zum Geburtstag.«

Endlich verstehe ich: Blase ist ein anderes Wort für Familie. Wenn man sagt, dass die ganze Blase zu Besuch kommt, ist damit die Verwandtschaft gemeint. Hat der Mann chinesische Verwandte, und fürchtet er, auf der Familienfeier, die in einer Wirtschaft stattfindet, könne irgendjemandem aus der ganzen Blase der Kragen platzen, wie das bei Familienfeiern ja vorkommt? So wird es sein; und ist es nicht schön, wie die Sprache als solche uns immer wieder auf die Sprünge hilft?

Ich luge über den Zeitungsrand; der Blasentheoretiker ist rhetorisch nicht zu Potte gekommen und sieht entsprechend unbefriedigt aus. Seiner Frau muss er nicht mehr sagen, was auf die Welt zukommt, wenn die ganze chinesische Blase erst geplatzt ist, denn seine Frau kann das garantiert auswendig aufsagen, was sie aber, gepriesen sei sie, nicht tut.

Sie ziehen von dannen, ich winke dem Kellner, denn mir ist die geheimnisvolle Botschaft wieder eingefallen, die an Tankstellen zu lesen ist: Blasenfrei zapfen.

Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv

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