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Kapitel 1: Tumult am Hafen

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Karl hielt sich hinter einem der umgestürzten Tische verborgen und fühlte seinen Puls rasen. Ein Stück Plane verdeckte die Sicht von oben und gab ihm zusätzliche Sicherheit. Männer und Frauen redeten in Panik wild durcheinander, viele ergriffen die Flucht. Karl hatte keine Ahnung, was aus Kurt und Bobine geworden war. Hoffentlich hatten sie sich irgendwie in Sicherheit bringen können. Neben sich spürte Karl den armselig bekleideten Jungen, dem er diese ganzen Scherereien zu verdanken hatte. Ängstlich hatte er sich an Karl gedrückt. Todesangst schien ihm in die Glieder gekrochen zu sein. Karl spürte den harten Druck von Perlen und anderen Schmuck­gegenständen unter seinen Händen und Knien. Das waren die Sachen, die an dem Stand verkauft wurden – ehe er in dem Tumult umgerissen worden war. Karl hörte die Männer auf Französisch rufen, nervös, bösartig. Er stellte sich lieber nicht vor, wie das Ganze enden würde, falls sie ihn und den Jungen in ihrem provisorischen Versteck aufspüren sollten. Und sicher war dieses Versteck keineswegs. Karls Französisch-Kenntnisse reichten aus um herauszufinden, dass die Männer dabei waren, nach dem Jungen und ihm zu forschen, und das mit ziemlich viel Nachdruck. Die Stimmen kamen bedrohlich näher. Außerdem hörte es sich so an, als würden sie systematisch mit ihren schweren Stiefeln gegen die verschiedenen Tische treten, offenbar weil sie ihr Versteck ahnten. Karl benötigte dringend einen Fluchtweg. Hinter ihm, nur wenige Meter und ein paar Stände entfernt, verlief die Kaimauer. Sollte er einfach ins Wasser springen? Durch eine Ritze in der Tischplatte, die ihn verdeckte, sah er plötzlich einen schwarzen Stiefel bedrohlich näher kommen. Im selben Augenblick hörte er ein lautes Krachen, spürte er einen dröhnenden Schmerz an der Stirn. Das gibt eine Beule, dachte er noch. Im Nu hatte er sich hochgerappelt und nahm die Beine in die Hand. »Viens! Vite!«, rief er nur, für mehr Anweisungen blieb keine Zeit. Der Junge lief ihm hinterher. Sie ließen die letzten Stände hinter sich, rempelten noch ein paar Passanten um und stürzten sich ohne lange zu überlegen mit einem lauten Schrei in das Hafenbecken. Karl tauchte unter eine der vielen Segelyachten, die dort vor Anker lagen und deren hohe, weiße Masten das Bild bestimmten. Er war froh, dass er heute Morgen keine lange Hose angezogen hatte. Die hätte ihn jetzt unter Wasser nur behindert. Hinter dem Boot tauchte er auf. Er hatte keine freie Sicht auf den Kai, aber er hörte lautes Geschrei. Wahrscheinlich waren die Männer unschlüssig, was zu tun war, und schrien sich daher gegenseitig an. Dann hörte er ein lautes Platschen. Zumindest einer der Männer hatte offenbar die Verfolgung aufgenommen. Plötzlich zuckte Karl zusammen. Jemand stieß unter Wasser an sein Bein und schien es packen zu wollen. Instinktiv trat er nach hinten aus und schwamm sofort davon. Erst als er zwischen zwei Segelbooten wieder auftauchte und neben sich den Jungen vom Markt entdeckte, war ihm klar, dass er unter Wasser keine Feindberührung gehabt hatte. Karl fiel gerade nichts anderes ein, als dass er nicht einmal den Namen des jungen Burschen kannte, der ihm das alles hier eingebrockt hatte. Und obwohl das kaum der geeignete Moment sein konnte um sich bekannt zu machen, fragte er ihn in seinem schlechten Französisch danach. »Hamid«, kam die atemlose Antwort. »Karl!«, antwortete Karl, nahm die linke Hand kurz aus dem Wasser und deutete auf sich. Für mehr Vertraulichkeit blieb den Jungen keine Zeit. Denn fast gleichzeitig sahen sie von unten einen Schatten auf sich zu rasen. Wie auf Kommando tauchten sie in verschiedene Richtungen ab. Karl schoss durch die kühlen Fluten, als ginge es um sein Leben, und – wer weiß – vielleicht war es ja auch so. Im grünlichen Meerwasser sah er eine Ankerkette vor sich auftauchen. Er spürte, dass seine Lungen vorm Zerplatzen waren, und bewegte sich Richtung Wasseroberfläche. Aber er kam nicht oben an, denn der Griff, den er diesmal an seinem Bein spürte, war ein alles andere als freundschaftlicher. Jetzt hatten sie ihn! Jeder andere Junge wäre in Panik verfallen. Karl jedoch wusste und hatte es schon tausendmal erlebt: Ruhe bewahren, Panikattacken vermeiden, ein Stoßgebet zum Himmel – und irgendeine Lösung würde sich auftun. Und genau diese ein, zwei Sekunden Bewegungslosigkeit hatten die Aufmerksamkeit seines Gegners geschwächt. Karl strampelte instinktiv mit den Beinen und konnte so noch ein paar Meter vorankommen, ehe der Feind ihn wieder zu packen versuchte. Doch jetzt war Karl nah genug an der Ankerkette des Schiffs über ihm um danach greifen zu können. Er zog seinen Körper an die Kette, lehnte sich an sie und hatte nun einen Widerstand im Rücken, der es ihm ermöglichte, kraftvoll nach seinem Gegner zu treten. Mehrfach trat er den unheimlichen Angreifer, den er in der grünen Brühe nur schemenhaft erkennen konnte, gegen Arme, Bauch und Gesicht. Er zwang ihn damit, von seinem Opfer abzulassen und zurückzu­weichen. »Danke, Gott!«, dachte Karl noch, während er sich von der Ankerkette abstieß, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Dann tauchte er auf. Endlich Luft!

An einem Schiffsrumpf entlang schwamm er auf die Kaimauer zu, an der zum Glück an dieser Stelle ein paar Stufen eingelassen waren. Erschöpft zog er sich an ihnen aus dem Wasser und stapfte hinauf. Rechts von ihm stand ein Denkmal mit der Büste eines berühmten Komponisten. Aber für Kunst hatte Karl jetzt keine Zeit. Er passierte ein altes Hafengebäude, das heute einem Fast-food-Restaurant, einem Souvenir-Laden und einer Eisdiele Raum bot. Vor ihm erstreckte sich ein Platz mit einigen geparkten Wagen. Im Hintergrund dehnte sich, leicht ansteigend, die Stadt mit den vielen historischen Gebäuden aus, die sich, zumeist in Pastell-Farbtönen, der Sonne entgegen reckten, darunter das alles überragende Hôtel-Dieu, das in seiner Majestät die anderen Häuser von hinten zu umarmen schien.

Ein paar Touristen blickten den Jungen verwundert an, gingen dann aber gleichgültig weiter. Das Geschrei auf der anderen Seite des Hafengebäudes, wo der Markt zu Hause war, schien sie mehr zu interessieren. Außerdem war das schon der zweite nasse Junge, der ihnen auf diesem Platz am Hafenbecken entgegenkam. Denn keine hundert Meter vor ihm, kurz davor die belebte Hafenstraße zu überqueren, befand sich Hamid. Er hatte eine deutlich sichtbare Wasserspur hinterlassen, der Karl nur nachzugehen brauchte. Aber nicht nur er. Und während Karl noch an den Verfolger dachte, der sich in diesem Augenblick hinter ihm aus dem Wasser zog, sah er dessen Komplizen, den Stämmigen mit dem Schmuddel-T-Shirt, bereits aus der Richtung, in der der Markt lag, die Straße entlang auf Hamid zu rennen. »Hamid! Attention!«, rief er über den belebten Platz und begann gleichzeitig Hamid im Laufschritt hinterherzueilen. Hamid wandte sich um und sah sofort die doppelte Gefahr: den Mann, der von rechts auf ihn zukam, und den Mann, der vom Hafenbecken kommend Karl hinterherlief. Ohne zu überlegen stürzte er sich in den lärmenden Verkehr auf der Straße vor ihm. Er löste damit ein wütendes Hupkonzert aus, kam aber heil auf der anderen Seite an. Er preschte in eine Straße, die leicht bergan zu einem Platz mit einer Kirche führte. Ihr Turm ragte weithin sichtbar aus dem Häusermeer heraus. Als sein wütender Verfolger es ihm gleichtun wollte, wurde er von einem der Autos erfasst. Der Fahrer, ungeduldig geworden, hatte nach der Verkehrsstörung, die Hamid verursacht hatte, die verlorene Zeit wettmachen wollen und heftig beschleunigt. Der Mann flog über die Kühlerhaube und fiel seitlich wieder herunter. Als er sich aufgerappelt und die andere Straßenseite erreicht hatte, war Hamid in der Menschenmenge verschwunden. Er wandte sich um zu seinem Kumpan, der in diesem Augenblick Karl erreichte, ihn brutal am Kragen packte und zur Rede stellte. Er nahm offenbar an, dass er ihn zu Hamid führen könne, weil er augenscheinlich mit ihm befreundet war. Karl stellte sich dumm, was ihm angesichts seiner beschränkten Französisch-Kenntnisse nicht schwer fiel. »Filons!«, rief ihm sein Kumpel von der anderen Straßenseite aus zu. Dass das auf Deutsch so viel bedeutete wie: »Hauen wir ab!«, konnte man auch ohne Fremdsprachenkenntnisse erraten, denn der Stämmige gestikulierte wild und zeigte in Richtung Innenstadt. Er hatte nämlich gesehen, was der Mann, der Karl wütend gegenüberstand, so schnell nicht registriert hatte: dass eine offensichtlich aufgebrachte Meute von Händlern, unter ihnen Kurt und Bobine, vom Markt her auf sie zugeeilt kam. Irgendwo in der Ferne ließ sich jetzt auch das eigenwillige französische Martinshorn hören. Und plötzlich war der Mann, der Karl eben noch bedroht hatte, verschwunden.

»Mensch, Karl!«, rief Kurt sichtlich erleichtert. Bobine war vor Schreck ganz blass geworden. Beide kamen eilig auf Karl zugeschritten und hielten das Abenteuer für überstanden. Doch Karl sagte nur: »Kommt mit!«, gab ihnen einen Wink und ging mit ihnen zur nächsten Ampel, damit sie die mehrspurige Straße gefahrlos überqueren konnten. Die aufgebrachten Franzosen sahen, dass sie nicht mehr viel gegen die Unruhestifter ausrichten konnten, und zogen es vor, ihre umgestürzten Tische wieder in Ordnung zu bringen und der Polizei, die unterdessen am Marktplatz eingetroffen war, ein paar Erklärungen zu geben.

»Was ist denn los, Karl?«, wollte Kurt wissen, als sie die andere Seite erreicht hatten.

»Wir müssen ins Hotel zurück«, meinte Bobine. »Du bist klitschnass!«

»Ich will erst wissen, wo Hamid abgeblieben ist«, erklärte Karl.

»Hamid?«, hakte Kurt nach.

»Ja, so heißt der Junge, den die beiden Banditen gejagt haben.«

»Und wahrscheinlich immer noch jagen«, ergänzte Bobine besorgt. »Trotzdem musst du jetzt erst mal verschnaufen. Da vorne ist eine Bank.« Sie meinte eine Parkbank wenige Meter vor ihnen am Rand der breiten, palmbeschatteten Promenade. Karl ließ sich nicht lange bitten und setzte sich. Links und rechts von ihm nahmen seine Freunde Platz. Endlich konnte Karl ausruhen und zu sich kommen, verschnaufen, verarbeiten. Was war geschehen?

Es war der erste Tag ihres als Höhepunkt der Sommerferien geplanten Urlaubs in Südfrankreich. Karls Vater, ein begnadeter Ingenieur, war von seiner Hockey Beacher Firma nach Südfrankreich geschickt worden, um am Stadtrand von Marseille die Endmontage einer Müllver­brennungs­anlage zu überwachen, deren Computer­steuerung er selbst entworfen hatte. Und das hieß: Urlaub auf Firmenkosten – zumindest für Karl. Denn Südfrankreich, das war die Côte d’Azur, das waren Sommer, Sonne, Strand und mehr. Für dieses Mehr und um das alles so richtig genießen zu können brauchte Karl allerdings seine Freunde. Er hatte nämlich keine Lust sich allein in Marseille zu langweilen, weil sein viel beschäftigter Vater ständig auf Achse war. Denn so war es ja eigentlich immer. Also hatte er gefragt, ob Kurt und Bobine, seine beiden besten Freunde, nicht auch mitreisen konnten. Es musste doch möglich sein, wenn die Firma ihrem besten Mitarbeiter die Strapazen einer langen Reise zumutete, noch ein zweites Hotelzimmer herauszuschlagen. Und selbst wenn die Firma sich quer gestellt hätte, am Finanziellen wäre die Sache gewiss nicht gescheitert. Dafür hätte der angesehene Professor Kramer, wie andere Leute Karls Vater anredeten, schon gesorgt. Der Maestro der Maschinentechnik, der vor einiger Zeit die Praxis in einem expan­dierenden Unternehmen der Lehre und Forschung am Technical College of Hockey Beach vorgezogen hatte, nagte schließlich nicht am Hungertuch. Die im Süden von Stuttgart gelegene Exklave der Vereinigten Staaten von Amerika, eine Art schwäbisches Hollywood, das schon so herausragende Talente wie den Regisseur und Geisterseher Wild Fred Hitchcock (der hartnäckig sich haltenden anderslautenden Beteuerungen zum Trotz nie ein Kinderbuch geschrieben hat), das Polit-Schwergewicht Ronald Trampel, die Opern-Diva Barbara Streusalz und die Charakter­darstellerin Sandra Bulldog, ihren Kollegen George Klugie und dessen Kollegen Bert Kitt oder auch den Tennisstar André Schlawatti hervorgebracht hatte (verehelicht mit dem deutschen Fräulein­wunder Estefania Herzog), sie war auch die Heimat der drei Freunde. Die Bewohner von Hockey Beach konnten sich dank der Gnade des Schicksals, hier und nicht anderswo zur Welt gekommen zu sein, zugleich als US-Bürger und als Deutsche fühlen. Die Wahrheit war natürlich, dass Karl, Kurt und Robert alias Bobine ihre eigentlichen Erfolge der deutschen Sprache verdankten. Schließlich gab es in Hockey Beach, das seinen Namen dem zur Exklave gehörigen gleichnamigen Sandstrand (»The Real Hockey Beach«) am Bodensee verdankte, einem Touristenmekka, das, ähnlich wie Bremerhaven, viel populärer ist als der Hauptort, zu dem es gehört, schließlich, um zum Thema zurückzukommen, gab es in Hockey Beach (»Main Hockey«) ein deutschsprachiges Gymnasium, das alle drei mit großem Erfolg besuchten. Dort hatte es sich auch zugetragen, dass Robert seinen beiden Freunden eines Tages seine wahre Identität enthüllte. Während es sich hierbei also um eine sozusagen spektakuläre Enthüllung handelte, war Robert, der sich seit diesem Tag mit »Bobine« anreden ließ und auf die Ansprache »Robert« oder »Robbi« so reagierte, als stünde noch jemand anders neben ihm, der damit gemeint sein müsste, glich sein Erscheinungsbild an jenem denkwürdigen Tag eher einer Verhüllung. Robert trug eine Perücke mit langem blondem Haar (in quirligen Locken, die unwillkürlich an eine Plastikpuppe der Marke Marnell erinnerten), duftige rosa Kopftücher, die er wie ein nordafrikanischer Tuareg zig Mal um den Hals gewickelt hatte, eine dazu passende rosa Bluse und eine Hose wie Sandra Bulldog in ihrem großen Filmhit »Speed Dating mit Mr. Riefs«. Sein Erscheinungsbild hatte sich seither auch nur unwesentlich gebessert. Lediglich der gefühlt dreizehn Meter lange rosa Seidenschal war eines Tages verschwunden. Böse Zungen behaupteten, Fünftklässler (die noch keine Unterweisung in Sexual- und Genderkunde empfangen hatten und es daher nicht besser wissen konnten) hätten Bobine das Utensil geklaut, um sie zu ärgern, es später in 88 Teile zerschnitten und in Textiles Werken zu Topflappen, Augenklappen, Baseballkappen und ähnlichem Zeug umgeschneidert. Ein albernes Gerücht, hatte Karl angenommen, bis er eines Tages einen Mitschüler dabei ertappt hatte, wie er ein halbseidenes, rosa schimmerndes Lätzchen um den Hals wickelte, ehe er seine üppige Pausen­mahlzeit zu sich nahm. Karl hatte dann allerdings davon abgesehen, den Entlarvten zu verpfeifen. Denn er wusste aus leidiger Erfahrung, was einer solchen Anklage folgen würde: Bobine würde sich ob ihrer neu entdeckten Weiblichkeit, die nun allen, die Wert darauf legten, noch einmal neu zu Bewusstsein kam, abermals einer Reihe von Anfeindungen ausgesetzt sehen und tagelang als »Boby-Baby« verspottet werden, übrigens nicht nur von Fünftklässlern, sondern auch von Sechs- bis Zwölfklässlern, die es entweder an der nötigen Reife vermissen ließen oder den Gender­unterricht einfach geschwänzt hatten.

All diese Ereignisse lagen inzwischen aber schon einige Monate zurück. Und jetzt wollte Karl an etwas anderes denken. Denn sie befanden sich im Urlaub. Da waren sie also – Karl, sein bester Freund Kurt und Bobine, der Junge, der ein Mädchen war (oder sich jedenfalls so fühlte) und eigentlich Robert hieß – in einem schicken Hotel im Süden von Marseille, gar nicht weit von der malerischen Côte d’Azur. Die heiße Mittel­meersonne hatte sie früh aus dem Bett geworfen und gegen elf hatten sie sich aufgemacht ein bisschen die Stadt zu erkunden. Und dabei hatte es sie naturgemäß Richtung Altstadt, Richtung Meer getrieben. Das Wasser – und den Fisch – konnte man ja förmlich riechen in dem Viertel, in dem ihr Hotel lag. Sie waren also Richtung Hafen flaniert und dann war Bobine auf die ersten Stände dieses fast schon orientalisch anmutenden Marktes gestoßen. Teilweise kam man sich tatsächlich vor wie auf einem arabischen Basar, so eng war die Gassenführung zwischen den Tischen und Ständen, so heiß und schwül die Atmosphäre unter den Sonnenschirmen und provisorischen Überdachungen. Auch die Menschen, die hier die verschiedensten Sachen feilboten, von Obst und Gemüse bis hin zu afrikanischen Holzfiguren und wertvollen Schmuckstücken, hatten nicht selten einen fremdländischen Einschlag. Viele waren vermutlich Einwanderer aus Nordafrika, aus Algerien und Marokko und anderen einstmals französischen Kolonien. Bobine hatte auf dem Markt unwillkürlich die Führung übernommen, denn sie sprach fließend und praktisch akzentfrei Französisch, weil sie als Kind ein paar Jahre in Frankreich gelebt hatte. (Selbiges galt übrigens, dank ihres Diplomatenvaters, für England und Spanien mit den entsprechenden Auswirkungen auf Bobines Verständigungsfähigkeit.) Für Karl und Kurt hatte das zur Folge, dass sie ständig an irgendwelchen langweiligen Schmuck- oder Modeständen auszuharren hatten, die sie nicht die Bohne interessierten. Die beiden Jungs taten gerade mal wieder ihre Ungeduld kund, indem sie mit den Fingern auf dem Verkaufstisch herum­zutrommeln begannen, vor dem Bobine in ihrer Geldbörse wühlte, als plötzlich Unruhe aufkam. Ein kleiner Junge, Hamid, wie sie inzwischen wussten, drängelte sich durch die Menschenmenge zwischen den Ständen und sorgte so für Unmut unter den Passanten. Der wurde bald noch größer, denn als Hamid an den drei Freunden vorbei war, sahen sie auch schon die Köpfe seiner beiden Verfolger in der Menge auftauchen und rasch näher kommen. Der Hintere rief laut: »Au voleur!«, was den Verdacht nahe legte, dass Hamid ein Taschendieb war, der auf frischer Tat ertappt worden war. Beide hatten ein südländisches Aussehen und gehörten vermutlich ebenfalls der großen Schar von Einwanderern an, die für das Erscheinungsbild von Marseille so typisch waren. Der Vordere war schwer und stämmig und miserabel rasiert. Er trug ein völlig verdrecktes T-Shirt, das mal weiß gewesen sein musste. Der Mann hinter ihm war klein und drahtig und verkörperte mit seinem aufgekrempelten Karo-Hemd und der Angeber-Sonnenbrille offen­sichtlich den Coolen im Bunde.

Kurz nach dieser Begegnung hörten Karl und seine Freunde es laut scheppern. Ganz in ihrer Nähe musste ein Stand umgekippt sein. Sie gesellten sich zu den Schaulustigen, die der Zwischenfall rasch gefunden hatte, und konnten mit ansehen, wie die beiden Männer Hamid zu packen und fortzuschleifen versuchten, wogegen der sich mit Händen und Füßen wehrte. In dem Tumult waren zwei Stände links und rechts umgestoßen worden, was bei den betroffenen Händlern für laute Unmutsbekundungen sorgte. Hamid biss dem Stämmigen, der ihn von hinten gepackt hatte, in den Arm und trat nach dem Coolen vor ihm. Der Coole stürzte nach hinten, fiel auf einen weiteren Tisch und riss diesen mit sich zu Boden. Äpfel, Pfirsiche, Nektarinen und Tomaten kullerten in rauen Mengen über den Weg. Ihre Besitzerin schrie Zeter und Mordio. Als der Coole aufstehen wollte, zerdrückte er mit der rechten Hand seine Hundert-Euro-Sonnenbrille, die ihm beim Sturz von der Nase gefallen war. Mit einem Fluchen schleuderte er die zerstörte Sonnenbrille durch die Gegend. Dabei verlor er erneut das Gleichgewicht und landete mit dem Hintern auf zwei Tomaten und drei reifen Pfirsichen, die er auf diese Weise zu einem ungenießbaren Mus zermantschte. Man durfte wohl davon ausgehen, dass sich seine Laune jetzt nicht mehr verschlechtern konnte. Als daraufhin der Stämmige begann wütend auf Hamid einzuschlagen, hielt es Karl nicht länger in der Menge der Zuschauer. Er preschte vor, stellte sich schützend vor Hamid, der gerade einer weiteren Ohrfeige auszuweichen versuchte, und rief: »Arrêtez, c’est un petit...«, was so viel heißt wie: »Sofort aufhören, er ist doch nur ein kleiner...« Und schon verließen Karl seine nicht gerade glorreichen Französisch-Kenntnisse und er bat Bobine für ihn zu dolmetschen. Gerade als er sich zu ihr umgedreht hatte, traf ihn ein heftiger Hieb im Nacken. Karl stürzte zu Boden. Bobine schrie auf. Hamid nutzte die allgemeine Verwirrung zur Flucht und kroch unter dem nächsten Tisch, der noch stand, hindurch um im Marktgetümmel unterzutauchen. Doch er kam nicht weit. Der Coole, der eben gestürzt war und noch am Boden lag, hielt ihn am Fuß fest. Karl, der inzwischen wieder aufgestanden war, hatte es mit friedlichen Mitteln versucht. Jetzt hieß es handeln. Er trat dem Mann, der am Boden lag, auf den Arm, so dass Hamid wieder frei kam. Hamid kroch unter drei, vier Tischen hindurch und Karl folgte ihm, während Kurt und Bobine ihnen verzweifelt nachriefen. Karl fand sich zwischen stinkenden Abfällen, überraschten Füßen und abgegriffenen Kisten wieder. Er sah nur noch Beine: Tischbeine, Stuhlbeine und Menschenbeine. Immer wieder stieß er mit etwas zusammen, meistens waren es Menschenbeine. Hamid vor ihm hatte es allerdings noch viel schwerer. Er musste schließlich für beide den Weg durch diesen Markt-Untergrund bahnen. Schließlich gelangten sie zur nächsten Marktpassage. Hamid richtete sich vor den völlig verblüfften Augen einer molligen französischen Gemüsehändlerin auf und Karl folgte ihm, was die arme Marktfrau fast die Besinnung gekostet hätte. Zum Glück hatte ihre Nachbarin eine frisch angeschnittene Knoblauchzehe zur Hand, die sie ihr unter die Nase hielt um der drohenden Ohnmacht zuvorzukommen. Hamid und Karl hatten gerade noch Zeit die beiden aufgebrachten Männer brüllend um die Ecke pesen zu sehen, ehe sie sich wieder ins Getümmel stürzten. Hamid wählte diesmal den direktesten Weg der Flucht. Er stieg unter großem Oh und Ah der Umstehenden auf den nächstbesten Tisch, kletterte auf den Sonnenschirm über ihm und brach mit ihm zusammen. Der Sonnenschirm stürzte mit einem Knirschen in das Zeltdach des Nachbarstandes und es gab einen Riesen-Aufruhr. Viele Menschen flohen in Panik, rissen dabei weitere Stände um und versetzten auf diese Weise wieder andere in Unruhe, so dass schließlich ein heilloses Durcheinander herrschte, begleitet von den wüstesten französischen Schimpfwörtern, die schon deshalb an dieser Stelle nicht wiederholt werden können, weil sie schlicht unübersetzbar sind.

Niemand konnte nun mehr genau sagen, was wo gestanden hatte. Karl, der sofort in die Schneise getreten war, die der umgestürzte Sonnenschirm gebildet hatte, war gerade noch ins Auge gesprungen, wie sich Hamid nach links abzusetzen versuchte, und eilte ihm nach. Hinter einem umgestürzten Tisch, der zusätzlich durch ein abgerissenes Stück Plane verdeckt wurde, hatten schließlich beide Unterschlupf gefunden – zumindest für eine kurze Weile.

»Ich habe Angst«, sagte Karl, der Schuhe, Socken und sein nasses T-Shirt ausgezogen und ausgewrungen hatte. Jetzt, nachdem die Sonne ihn ein wenig getrocknet und gewärmt hatte, zog er sich wieder an.

»Man sieht’s. Du zitterst am ganzen Leib«, erwiderte Bobine.

»Ach, das ist nur, weil ich frier’«, sagte Karl. »Aber das trocknet schon wieder. Nein, was ich meine, ist: Ich habe Angst um Hamid. Was wird mit ihm passieren, wenn die Männer ihn doch noch zu fassen kriegen?«

»Der ist längst auf und davon«, meinte Kurt.

»Möglich. Trotzdem können wir noch nicht ins Hotel zurück. Nicht ohne Hamid! Ich will wissen, was er angestellt hat, dass die beiden Irren hinter ihm her sind wie der Teufel hinter der armen Seele. Da stimmt doch was nicht.«

»Ich vermute, das ist ein ganz gewöhnlicher Taschendieb«, sagte Kurt. »Einer, der sich illegal hier aufhält – ob mit oder ohne Eltern – und mit Diebstahl über die Runden zu kommen versucht.«

»Na gut, nehmen wir mal an, das ist so. Aber warum rufen die Bestohlenen dann nicht einfach die Polizei und die Sache ist geritzt? Stattdessen veranstalten die so einen Affenzirkus und bringen sich womöglich noch selber in den Knast.«

»Südländisches Temperament. Vielleicht sind einfach die Nerven mit ihnen durchgegangen«, meinte Bobine.

»Nee, nee, Leute. Ich sage euch: Da steckt mehr dahinter.«

»Vielleicht hat er was geklaut, was die Männer unbedingt brauchen, was aber illegal ist, und deswegen wollen die keine Polizei.«

»Gar nicht mal schlecht kombiniert, Kurt. Aber eines dürfte klar sein.«

»Nämlich?«

»Dass wir auf keinen Fall länger untätig hier herumsitzen können. Mir ist nämlich mächtig kalt! Meine Hose ist immer noch pitschnass.«

Mit diesen Worten erhob sich Karl von der Bank und nahm Hamids Fährte wieder auf. Er bog in die Straße ein, in der er den Jungen zuletzt gesehen hatte. Die Straße stieg, gesäumt von mehrgeschossigen Jugendstil-Häusern, leicht an und nach ein paar Hundert Metern erreichten sie einen kleinen Platz mit einer alten Kirche. »Wir sollten mal einen Blick da reinwerfen«, schlug Karl vor.

»Willst du beten?«, erkundigte sich Kurt.

»Ach, ein kleines Dankgebet, dass ich noch lebe, kann sicher nicht schaden. Aber dafür brauche ich keine Kirche.«

»Mir wär’s manchmal lieber«, entgegnete Bobine schnippisch, »er packt dich bei den Schultern und hält dich davon ab, immer so waghalsige Sachen zu machen.«

»Also, wozu jetzt in die Kirche? Was hast du vor?«

»Stellt euch mal vor, ihr seid auf der Flucht vor solchen miesen Typen, wie wir sie eben erlebt haben. Ihr seid völlig fertig und könnt nicht mehr. Fällt euch etwas ein, wo ihr vielleicht versuchen würdet euch in Sicherheit zu bringen, wenn ihr zufällig daran vorbeikämt?«

»Eine –«

»– Kirche?«

Durch das große Portal betraten die drei Freunde das im gotischen Stil errichtete Gotteshaus. Eine endlose Reihe von Holzbänken vor einem bunt leuchtenden Altarraum empfing sie, als sie in die andachtsvolle Stille und Kühle des Kirchenschiffs traten. Alle Fenster links und rechts und hinter dem Altar schillerten, vom Tageslicht beschienen, in den bunten Farben der Glasmalerei. Links und rechts des Mittelgangs, durch den Bobine schritt, gab es ein paar betende Menschen, aber von Hamid war nichts zu sehen. Kurt ging den linken, Karl den rechten Gang ab und sie alle blickten suchend in die Reihen der Bänke, an denen sie vorbeikamen. Karl näherte sich nun dem Beichtstuhl, der rechts von ihm lag. Einem Impuls folgend betrat er den für den Pfarrer vorgesehenen Teil des Beichtstuhls und zog den Vorhang zu. Er spürte, dass jenseits der hölzernen Trennwand mit dem halb durchsichtigen Gitter jemand angstvoll atmete. »Hamid?«, fragte er leise.

Die drei ?!? Nervensägen!?!

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