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Parkfestsonntag

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André Hellmer stand vor dem Spiegel. Er hatte sich extra einen lebensgroßen gekauft, damit er sich ganz betrachten konnte. So einen hatte er schon immer gehabt, auch vorher. Es gab vorher und nachher, ganz klar, das würde es immer geben. Seit einem halben Jahr war er jetzt ein ganzer Mann, auch körperlich. Es war eine harte Zeit gewesen.

Schon immer hatte Andrea, wie er früher geheißen hatte, gewusst, dass etwas mit »ihr« nicht gestimmt hatte. Dass »sie« anders gewesen war als die anderen Mädchen. »Sie« war nie eine von ihnen gewesen, gefühlt. »Sie« hatte sich schon immer besser mit den Jungs verstanden, sich »Cars« und »Transformers« statt Disneys »Eiskönigin« angeschaut. In der Pubertät hatte »sie« sich die Haare raspelkurz geschnitten und war in Schlabberpullis und weiten Hosen herumgelaufen. Schnell hatte »sie« in der Schule »ihren« Stand gehabt, und erstaunlicherweise hatten die meisten »sie« so akzeptiert, wie »sie« eben war. Der Tobi war ihr da immer eine große Hilfe gewesen, schon damals auf der Realschule, und er hatte denjenigen, die »sie« dumm angemacht hatten, Schläge angedroht oder ihnen wirklich mal die Fresse poliert. Denn dazu war »sie« tatsächlich selbst zu schwach gewesen – körperlich hatte »sie« nicht mithalten können mit den Jungs. Und deshalb war »sie« dem Tobi immer dankbar gewesen, nur einmal, neulich, da hatte er sich echt was geleistet, das ging gar nicht. Aber egal.

André war eher klein, mit nicht allzu breiten Schultern. Aber das würde sich jetzt ändern, er nahm fleißig seine Hormone. Nach und nach, seit seinem endgültigen Entschluss vor drei Jahren. Er hatte beobachtet, wie seine Stimme tiefer geworden war, wie ein Bart zu sprossen begonnen hatte, den er hegte und pflegte, bis er ein perfekt getrimmter Vollbart war. Die Brüste waren kleiner geworden, und dann hatte er die finalen Operationen machen lassen. Und er war froh darum, denn seither war er, was »sie« schon immer hatte sein wollen – ein Mann. Nicht mehr Andrea, sondern André. André drehte sich zur Seite und strich über die Uniform, die perfekt saß und wirklich, wirklich gut aussah. Männlich! Er setzte den Federhelm auf, die roten Federn wallten in einem fließenden Busch über sein dunkles Haar, bildeten einen hübschen Kontrast. Wieder drehte er sich frontal. Gut sah er aus, so konnte er gehen, so konnte er sich mit den anderen treffen, mit ihnen mithalten.

Simone Reißig war noch im Bett. Sie liebte es, sonntags ewig lang liegen zu bleiben. Tobi schlief immer bei ihr. Auf ihren Füßen, um genau zu sein. Und er schlief immer so lange, bis sie aufwachte und sich bewegte. Dann erhob er sich, streckte sich und wanderte die Bettdecke nach oben, um ihr Ohr abzulecken. Simone kicherte meistens ein bisschen und streichelte dem Kater, der eigentlich Felix hieß, über den Kopf. Das Tier schmiegte sich in ihre Hand, der Schädel passte genau in die Höhlung. Simone hatte Felix nach der Trennung umbenannt in »Tobi«, denn auf diese Weise konnte sie immer noch seinen Namen sagen.

Tobi sprang mit einem Satz vom Bett, um in der Küche etwas zu trinken. Etwas enttäuscht drehte sich Simone wieder um, angelte nach ihrem Handy und tat, was sie jeden Morgen tat: ihre letzte Nachricht erneut schicken und nachsehen, ob sie diesmal ankam. Denn die Nachrichten kamen nicht mehr an, seitdem er sie blockiert hatte. Das machte sie wütend, ein bisschen. Ach was, unglaublich wütend. Was fiel dem ein! Er hatte sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hatte, das war nur fair. Er hatte ihr jedes Gespräch verweigert. Das war nicht in Ordnung. Es fraß sie auf. Sie konnte nichts anderes mehr denken als … ach. Sie wechselte zu Clix-Mix und scrollte die Belanglosigkeiten durch, die ihre »Freunde« gepostet hatten. Schönen Sonntag, dazu ein Bild von einem knuffigen, debil treudoof dreinblickenden Bärchen mit Herzchen. Habe soeben einen Kuchen gebacken, lautete ein Post, der 67 Likes bekommen hatte. Bin total glücklich mit meinem … – schnell scrollte sie weiter. Like, wenn du mich magst, bat eine Freundin, und sie scrollte weiter, ohne zu liken. Lecker Low-Carb-Frühstück, warb ein Kerl, den sie seit Neuestem auf der Freundesliste hatte, den sie aber im Verdacht hatte, dass er ihr nur irgendwelche Abnehmpülverchen andrehen wollte. Nächster Post: Klicke auf deine Geburtsnuss, und wir verraten dir, was für ein Liebestyp du bist. Simones Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen. Aha, die Geburtsnuss! Das wurde ja immer abstruser. Sie betrachtete das Bild: Es gab die Haselnuss, die Macadamianuss, die Erdnuss, die Pekannuss, die Cashewnuss, die Walnuss, die Edelkastanie, die Hanfnuss, die Steinnuss, die Wassernuss, die Eichel und die Buchecker. Als im März Geborene war sie die Erdnuss, die sie nicht einmal mochte, war ja klar. Simone klickte trotzdem auf die Erdnuss. Loggte sich wie gewohnt auf der Seite ein, und es war ihr egal, dass dabei womöglich dubiose Marktforscher all ihre Daten abzogen. Simone, du bist ein liebevoller und gütiger Mensch. Allerdings kann es vorkommen, dass du deinen Partner mit deiner Liebe erdrückst. Die Menschen kommen nicht mit der Gewalt deiner Liebe klar. Lerne deshalb, loszulassen, wenn dich jemand zurückstößt. Es wird bald jemand kommen, der deine Liebe will und auch verdient. Simone schluckte. Verdient! Und will! Sie warf das Handy mit einer schnellen Bewegung in das Wasserglas, das auf ihrem Nachttischchen stand. Es machte eigentlich nichts aus, denn das Gerät war wasserdicht. Und trotzdem verschaffte es ihr Genugtuung. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf, um Tobi zu füttern.

Die Johanneskirche war eines der ältesten Gebäude Crailsheims. Das große, für eine mehrheitlich gotische Kirche sehr schwer wirkende Bauwerk stand wirklich mitten in der Stadt und war nachgerade unspektakulär in ein Grundstück der Fußgängerzone eingebettet. Vielmehr musste man eigentlich sagen, dass die Fußgängerzone um die Kirche herumgebaut worden war, denn der erste Bauabschnitt des Gotteshauses war bereits 1398 begonnen worden. Stand man vor der Kirche, so empfand man sie als würdiges, mächtiges Gebäude. Durch schwere Holztüren waren an diesem Sonntag die Gläubigen hereingeströmt, deutlich mehr als sonst. Denn es handelte sich am Parkfestsonntag nicht nur um die übliche Gemeinde, sondern auch noch um die Mitglieder der Bürgerwache und ihre Familien, zudem um die Mitglieder der jeweiligen Abordnungen befreundeter Bürgerwehren. All diese Menschen füllten die hölzernen Bänke der drei Kirchenschiffe, sodass eine durchaus beachtliche Gemeinde zusammenkam. Neben dem Altar hatten sich die Fahnenträger aller Bürgerwachen aufgestellt. Der Fahnenträger wurde jeweils von zwei Fahnenbegleitern und teilweise von einem Kommandanten flankiert.

Pfarrer Langsam, ein großer, hagerer Mann mit grauer Stoppelfrisur und Brille, stand in seinem Talar auf der Kanzel und hatte zunächst die Abordnungen der Bürgergarde Esslingen, der Haller Sieder, der Bürgerwache Ehingen, der Bürgerwehr Schwabach, der Bürgerwehr Lauchheim, des Historischen Schützencorps Bad Mergentheim, der Bürgergarde Ellwangen und der Bürgergarde Hüttlingen begrüßt. Proppenvoll war der Altarraum, was für die meisten Gläubigen ungewohnt war. Dann hatte Pfarrer Langsam eine Bibelstelle verlesen. »Johannes der Täufer hörte im Gefängnis vom Wirken des Messias und schickte einige seiner Jünger zu ihm. Er ließ ihn fragen: ›Bist du wirklich der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?‹«, zitierte er gerade noch einmal. »Liebe Gemeinde«, machte er weiter, und seine Stimme hallte von der hohen Kirchendecke wider. »Lasst Jesus sein, wie er sein möchte! Er ist ein lieber, ein gütiger Jesus, der die Menschen liebt! Er ist womöglich moderner, als wir denken. Er lässt sich nicht in spießige Muster pressen. Er war ein Vorreiter, ein Pionier! Jesus …«

»Es reicht!«, kam eine Stimme aus der Gemeinde.

Der Pfarrer suchte irritiert nach dem Störenfried, sein Blick schweifte unsicher umher, streifte den einen oder anderen. Dann beschloss er offensichtlich, einfach weiterzupredigen.

»Jesus ist …«

»Jesus!«, rief es wieder aus der Gemeinde, und diesmal sprang der Rufer auf.

Alle Augen wandten sich ihm zu, es war ein kleiner, schmächtiger Mann mit dunklem, strähnigem Haupthaar. Einige verdrehten die Augen, denn den Zwischenrufer kannte man schon.

»Paul. Bitte!«, tadelte der Pfarrer mit mildem Lächeln.

»Hogg dii nou und halt dei Gosch«, befahl der Banknachbar des Angesprochenen und fasste ihn am Arm.

Paul machte sich brüsk los und trat aus der Bank heraus. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, proklamierte er.

Pfarrer Langsam verdrehte nur innerlich die Augen, noch hatte er sich gut im Griff. Auch Paul war eines seiner Schäfchen, auch der.

»Jesus hätte euch Kriegsgeschmeiß aus dem Tempel geworfen! So, wie er die Händler rausgeworfen hat. Denn mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht!«

»Hier wird keiner ermordet, mein lieber Paul«, berichtigte der Pfarrer von der Kanzel herab, »und jetzt setz dich bitte wieder.«

Paul dachte kurz nach, schüttelte dann trotzig den Kopf und marschierte nach vorne, wo er Anstalten machte, die Fahnen und Standarten der Abordnungen umzurangeln. Er visierte den Schellenbaumträger der Bürgerwache an, der während des ganzen Gottesdienstes schon unbeweglich hinter seinem riesenhaften Instrument stand, die weiß behandschuhten Hände auf den silbernen Metallhörnern abgelegt.

Tobias Baumann fixierte den Angriffslustigen, überlegte wohl gerade, wie ihm beizukommen sei, und die Mitglieder der entsprechenden Bürgerwehren tauschten unsichere Blicke, denn man konnte ja in der Kirche kaum eine handfeste Schlägerei anfangen.

»Paul!«, gellte es in diesem Moment von der Kanzel. »Bitte benimm dich. Wir sind alle Brüder im Geiste!« Pfarrer Langsam eilte die Stufen der Kanzel hinunter, lief zu dem Übereifrigen und baute sich zwischen ihm und den Standarten auf. »Setz dich wieder hin, Bruder. Bitte! Störe den heiligen Gottesdienst nicht.«

Paul schluckte, die Autorität des Pfarrers schien zu wirken, zumindest im ersten Moment. Nach einer Schrecksekunde jedoch breitete er die Arme aus, als wären es Engelsflügel, und mit in Richtung der Fahnen ausgestreckten Zeigefingern rief er: »Eine Mördergrube! Habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis!« Er drehte sich um, schritt durch die Reihen und verließ hocherhobenen Hauptes das Gotteshaus, begleitet vom zischenden Gemurmel der Gemeinde.

Und Pfarrer Langsam erklomm wieder die Kanzel und ließ in die Predigt einfließen, dass der gute Bruder Paul das noch lernen müsse, dass die Dinge manchmal anders lägen, als er geglaubt habe, und dass auch Jesus manchmal eben ein anderer sei. Aber er fügte noch hinzu, dass der Paul in vielen Dingen auch ein Vorbild sei. »Und nun, lasset uns beten«, schloss er seine Predigt, und Christian Blumenstock ließ ein zackiges »Helm ab zum Gebet!« durch den Kirchenraum schallen, dem alle Mitglieder der anwesenden Bürgerwehren augenblicklich Folge leisteten.

Helles Sonnenlicht fiel durch die Wipfel der Bäume und malte gelbgrüne Flecken auf die Wiese des Spitalparks. Die Luft hatte noch Spuren jener morgendlichen Restkühle, die verhießen, dass es ein schöner, klarer Sommertag werden würde.

»Ein ganz tolles Kleid hast du da an, Lisa!«, lobte Doris, Heikos Mutter.

Lisa lächelte und bedankte sich.

»Gell, Werner?«, fuhr Doris fort und versetzte ihrem Mann einen kleinen Klaps auf den Oberarm.

Heikos Vater brummte. »Ja, gut!«, meinte er dann, was wohl höchstes Lob oder auch Gleichgültigkeit beziehungsweise irgendwas dazwischen ausdrücken sollte.

»Heiko, du kannst wirklich froh sein, dass du so eine hübsche Freundin hast! Sicherlich sind ganz viele andere Kerle hinter ihr her, pass bloß auf, dass die dir nicht ausgespannt wird!«, frotzelte Doris, und Heiko sparte sich eine Antwort. Seine Mutter lag ihm beständig in den Ohren, dass er der Lisa endlich einen Antrag machen sollte. Dabei war er erstens noch nicht einmal vierzig. Zweitens war Heiraten grundsätzlich ungut. Und drittens brauchte man doch keinen Trauschein, um glücklich zu sein. Aber Lisa sah heute schon besonders gut aus, das musste Heiko zugeben. Sie trug ein Kleid, das obenrum eng war und unten weiter. Rot mit weißen Punkten. Ihre Haare waren offen, und sie hatte einen roten Lippenstift aufgetragen.

»Du weißt, dass ich in diesem Leben noch Enkel will!«, maulte Doris und wurde damit konkreter.

»Ruhe jetzt!«, befahl Werner, »Nicht schon wieder dieses Thema!«

Er und Heiko grinsten sich verschwörerisch zu, und Lisa tat, als hätte sie nichts gehört.

»So, jetzt holen wir uns erst mal ein Bier«, beschloss Heiko.

»Für mich eine Apfelschorle, bitte«, bestellte Lisa, und Doris schloss sich ihr an.

»So frühmorgens muss man sich nicht besaufen«, tadelte sie.

Heiko grinste entwaffnend. »Ach. Ist ja nicht andauernd. Nur am Parkfest.«

»Wie süß«, fand Doris und wies auf die Bühne, wo kleine Mädchen in rosafarbenen Tutus elegant auf Zehenspitzen Ballett tanzten. »Da, so eine hätte ich auch gern, eine Enkelin, oder einen Jungen, mir egal«, fuhr Doris fort.

»Bisch etz ruich«, zischte Werner.

Lisa folgte Doris’ Blick zur Bühne. Soeben verbeugten sich die kleinen Tänzerinnen elegant und senkten dabei ihre Köpfchen, auf denen große und kleinere Dutts wie Kronen saßen.

»Wirklich niedlich«, pflichtete sie bei und schenkte Doris ein undeutbares Lächeln.

Svetlana Blumenstock stand in der Schlange vor dem Eisstand und entdeckte Ezgi hinter sich, die Frau von Tobi Baumann.

»Na, auch Lust auf ein Eis?«, begann sie im Small-Talk-Modus und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden Haares aus dem Gesicht. Ezgi sah gut aus in ihrer Uniform. Die Frau des Kommandanten musterte die junge Türkin, die eine der wenigen Frauen in der Kompanie war. Das dunkle, perfekt glatte Haar. Das hübsche Gesicht mit den braunen Augen und den vollen Lippen. Die schöne Figur, den ziemlich flachen Bauch. »Kein Wunder, bei dem Wetter«, fuhr sie fort.

Ezgi lächelte. »Ja, es ist verdammt heiß, ich tu nach dem Auftritt auch die Jacke runter.«

»Da bin ich froh, dass ich heute nicht so rumlaufen muss«, versetzte Svetlana.

»Für Sie?«, erklang eine Stimme vor ihr aus dem Wagen des »Bauernhofeises« von Familie Lang.

»Erdbeer und Vanille, bitte«, bestellte Svetlana mit einem strahlenden Lächeln. Darauf hatte sie wirklich, wirklich Lust, und das war wunderbar sommerlich.

»Hi, Tobi«, grüßte Barbara und schnalzte anerkennend mit der Zunge.

»Hey, Babsi!«, grinste Tobias und zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Na, alles okay?«, fragte sie und ließ sich neben ihn auf die Bierbank fallen, sehr nahe, unnötig nahe, denn eigentlich war die Bank ansonsten leer. Das war nicht so schlimm, denn Ezgi war gerade ein Eis kaufen gegangen und würde davon nichts merken.

Babsi brachte ihre vollen Lippen an Tobis Ohr und wisperte: »Du siehst heute so scharf aus, ich steh total auf dich!«

Tobi schluckte, wobei sein Adamsapfel energisch hüpfte. »Sou«, machte er, das konnte ja Gott sei Dank alles bedeuten.

Babsi blickte sich verstohlen um und ließ dann ihre rechte Hand wie zufällig seinen Oberschenkel entlanggleiten. »Ich steh voll auf deine Uniform … Herr Wachtmeister«, fuhr sie grinsend fort und setzte gurrend hinzu: »Ich hätte so Bock drauf, jetzt mit dir im Musikkämmerle eine Nummer zu schieben.«

»Babsi!«, entfuhr es Tobias Baumann. Nun, die Idee war ja grundsätzlich gut, denn die Babsi mit ihrem frechen roten Bob, ihrer milchweißen Haut, ihren katzengrünen Augen und der perfekten Figur war definitiv eine Erscheinung. Aber da hätte wohl die Ezgi was dagegen, und er ja eigentlich auch, denn er liebte die Ezgi schon, und die Babsi war ja …

»Da bist du, Babsi! Ich hab dich gesucht!«, tönte es in diesem Augenblick von hinten.

Tobi Baumann brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, um wen es sich handelte – es war Max Steller, Babsis Freund. Unauffällig zog die Babsi ihre Hand zurück, und Tobi hoffte inständig, dass der Max das nicht gesehen hatte.

Ein Grinsen stahl sich auf ihre pinkfarben geschminkten Lippen, bevor sie sich umdrehte und flötete: »Max, mein Held!« Sie stand auf, schlang die Arme um seinen massigen, muskulösen Körper und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Tobi fasste sich salutierend an die Stirn, und Max erwiderte den Gruß, allerdings ohne ein Lächeln.

Bernd Seiler hielt sich an seinem Hefeweizen fest. Es war Crailsheimer Engel-Bräu, absolut widerlich und kein Vergleich zum Haller Löwenbräu. Immerhin war es Bier, technisch gesehen, und das hatte er heute bitter nötig. Denn er war ausgewählt worden für die Parkfest-Abordnung der Haller Sieder. Das konnte man sich bloß schönsaufen. Wenigstens war Timo mitgekommen, sein Kumpel, der gar nicht bei den Siedern war und jetzt bei der Siedersabordnung am Tisch saß. Aus Solidarität. Er musste jedoch in einer Stunde wieder gehen, Familientreffen in Hessental. Also total lieb von dem, eigentlich. Solidarisch. Und er wäre ihm wirklich dankbar gewesen, wenn es nicht seit einigen Wochen ein Problem zwischen ihnen gegeben hätte. Ein Problem, von dem der Timo womöglich gar nichts wusste, weil er so unsensibel wie ein Mammut war. Der Timo war nämlich seit Anfang Juli mit der Tina zusammen, und die saß jetzt auch dabei. Bei den insgesamt drei Siedern, auf der Bierbank vor dieser seltsamen improvisierten Bühne, von wo aus gleich das ganztägig ablaufende und überaus nervtötende Uff-tata losgehen würde. Bernd nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Ärmel der Siederskleidung über den Mund, weil ihm Schaum an der Oberlippe kleben geblieben war.

Die Tina. Die Tina hatte so getan, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass er sie auch gut gefunden hatte, und sich für den Timo entschieden. Der hatte noch alle Haare und wirkte in allen Dingen deutlich dynamischer. Außerdem arbeitete er nicht bloß als kleiner Beamter bei der Stadt, sondern war aufstrebender Junior-Chef in einer Haller Firma. Der Timo kann nichts dafür, sagte Bernd sich, es ist unfair, wenn du einen Hass auf ihn hast. Immerhin sind sie mitgekommen aufs Parkfest. Und wir sind Freunde seit der Grundschule. Er würde sich damit abfinden müssen, dass die beiden zusammen waren. Tina und Timo, hörte sich doch super an, fast wie Tina und Tini. Würde sich ausnehmend gut machen auf Hochzeitseinladungen.

»Die Horaffen haben’s echt nicht drauf«, meinte Tina gerade, wohl, um ihn irgendwie aufzuheitern. Womöglich merkte sie doch, was Sache war, klar merkte sie das. Alle Frauen wussten, wer hinter ihnen her war, insgeheim. Und die meisten hielten sich ihre Verehrer warm, denn die waren gut fürs Ego. Eine Gemeinheit eigentlich. Aber die war auch nicht wirklich schuld, die Tina.

Bernd zwang sich zu einem Grinsen, nickte und trank noch einen Schluck.

In Bernds Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass irgendwie das dumme Geschwätz von dem Horaffen auf dem Kuchen- und Brunnenfest eine Rolle gespielt hatte. Dort saß der Gedanke, blieb da, ging nicht mehr weg. Niemals würde er vergessen, wie die Tina damals fein gelächelt hatte, so unmerklich irgendwie. Aber dennoch – das Lächeln war da gewesen. Sie hatte das alles ganz witzig gefunden. Zumindest unbewusst. Und vielleicht darüber nachgedacht und das dann vielleicht genauso gesehen. Dass er ein bedauernswerter, dicklicher Kerl war, der noch bei seiner Mutter wohnte und es im Bett nicht draufhatte.

Längst hatte er ihn entdeckt in der Menge. Er trug Uniform, und an seinem Arm hing gerade eine hübsche uniformierte Schwarzhaarige, die der Tina gar nicht so unähnlich war, rein von der Optik her. Bernd Seiler hob das Bierglas und trank die Hälfte, die noch übrig war, in einem Zug aus. Der Baumanns Tobi hatte sich den Falschen zum Verarschen ausgesucht. Der würde das noch bereuen.

Ezgi blickte sich suchend um, ihre Eiswaffel in der Hand. Der Tobi hatte sich schon mal hinsetzen wollen, um einen Platz für sie beide zu suchen. Wo war er denn jetzt? Ach, dahinten, da saß er, in der Nähe des »Weinstandes«, landläufig als »Bar« bezeichnet, an dem außer Wein Spirituosen aller Art ausgeschenkt wurden. Sie rückte ihre Uniformjacke zurecht, es war unglaublich heiß. Sobald es ginge, würde sie das Teil ausziehen. Den Helm mit den grün gefärbten Gänsefedern hatte sie bereits abgenommen und trug ihn lässig unter dem linken Arm, in der Rechten hielt sie ihre Eiswaffel. Sie steuerte auf ihren Tobi zu, bei dem Freddy mit seiner Freundin Kathrin Platz genommen hatte – soweit Ezgi wusste, waren die beiden noch nicht allzu lange zusammen. Ezgi musste sich zu einem Grinsen zwingen, Kathrin war eine blöde, überkandidelte Tussi. Aber was soll’s, für Small Talk würde es ausreichen. Sie ließ sich auf der Bank nieder, küsste ihren Tobias flüchtig und lächelte den beiden anderen so freundlich wie möglich zu.

»Traumhaftes Wetter, nicht?«, begann sie und leckte an ihrem Eis – Schokolade und Pfirsich.

»Ja, total«, freute sich die goldblonde, blauäugige Kathrin und wunderte sich augenblicklich: »Ach, du bist in der Kompanie?«

Ezgis Lächeln verkrampfte. »Ja. Warum nicht?«

Kathrin druckste herum, bevor sie hervorbrachte: »Dürfen Frauen das auch?«

Fred lachte dröhnend und ließ eine seiner Pranken auf Ezgis linke Schulter niedersausen. »Die Ezgi war eines unserer ersten Flintenweiber. Und eine Trefferquote hat die, das sag ich dir, besser als jeder Kerl!«

Ezgi schnalzte mit der Zunge und sandte Fred einen tadelnden, aber augenzwinkernden Blick, bevor sie Kathrin aufklärte: »Frauen dürfen auch zur Kompanie. Wieso denn auch nicht?«

»Und das macht dir Spaß, diese Ballerei? Und wie heißt du noch mal?«, fragte Kathrin zurück und nippte elegant an einem Glas Weißwein, das vor ihr stand und schon beinahe leer war.

Ezgi leckte Eis, bevor sie antwortete. »Ezgi. Das ist ein türkischer Name. Und weißt du was? Klar macht mir das Spaß, wir Dschihadisten bringen gern Leute um die Ecke, das weißt du doch!«

»So hab ich das doch gar nicht …«, begann Kathrin.

Ezgi besann sich. »Entschuldige. Ich bin da ein bisschen ein gebranntes Kind, das musst du verstehen. Und ziemlich empfindlich. Crailsheim ist meine Heimatstadt, und ich finde es wichtig, die Traditionen zu erhalten. Und da ich leider total unmusikalisch bin und auch zu ungeschickt für die Majoretten, bin ich eben in die Kompanie eingetreten.«

Tobias Baumann erhob sich. Er spürte die Halbe. Verdammt, er wurde alt. Früher hätte er die locker weggesteckt. Er war vernünftig, eine, nicht mehr, und dazu ein Gulasch, das brachte ja auch was beim Nüchternbleiben. Eine war die Obergrenze, denn immerhin musste er noch den Schellenbaum tragen. In 20 Minuten war sein Zug dran, es war an der Zeit, sein Instrument zu holen. Ganz schön schwer war das Teil, aber er war ja kräftig.

»Bis nachher«, raunte er, drückte seiner Ezgi einen Kuss auf die Wange und nickte den anderen grüßend zu.

Dann kletterte er aus der Bank und wandte sich links von der Bühne am Bauernhofeisstand vorbei zu den Gebäuden der VHS. Hier, in einer kleinen Kammer, lagerte der Schellenbaum, wohlverschlossen. Tobias ging die paar Schritte zum Gebäude, steckte den Schlüssel ins Schloss und wunderte sich kurz, dass das Aufschließen nicht wie gewohnt funktionierte, irgendwas blockierte das Schloss. Schließlich wurde ihm klar, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war – komisch. Mit gerunzelter Stirn drückte er die Klinke herunter und tastete nach dem Lichtschalter. Ein elektrisches Summen ertönte, die Leuchtstoffröhren flackerten und das Licht ging an. Puh, gut, es sah nicht so aus, als würde etwas fehlen. Glück gehabt. Er würde nachher dem Kommandanten melden, dass nicht abgeschlossen gewesen war, so was war nachlässig und durfte sich nicht wiederholen. Dahinten an der Wand stand der zwei Meter hohe Schellenbaum, in einem kühlen Silberton leuchtete er im Licht der Glühlampen. Perfekt poliert war das Metall. Ein goldener Adler breitete schützend die Flügel über die gelb-schwarze Schellenbaumfahne mit der Aufschrift »Bürgerwache Crailsheim« und dem Wappen der Stadt aus. Vier goldene Adlerköpfe waren an den Enden der beiden metallenen Schwingen befestigt, an denen die Glöckchen und silbernen sechszackigen Sterne befestigt waren. In der Mitte prangte ein sonnenartiges Emblem, das von den Mitgliedern der Bürgerwache scherzhaft »Monstranz« genannt wurde. Und von den Schnäbeln der Adler hingen vier Rosshaarschweife in den Stadtfarben Gelb und Schwarz herunter. Tobias Baumann trat zu seinem Instrument. Er zog sich die Uniformjacke zurecht, entfernte ein Stäubchen auf seinem Revers und bewunderte kurz das Rosshaar. Sanft ließ er die feinen Haare durch seine Finger gleiten. Dann fasste er den Schellenbaum mit beiden Händen am Stab.

Im selben Moment durchfuhr Starkstrom seinen Körper. Der Schellenbaumträger war außerstande, den Schellenbaum loszulassen, auch wenn das der einzige, verzweifelte Gedanke war, der sein Hirn durchzuckte, immer und immer wieder, erfolglos. Seine Muskeln waren verkrampft, er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Stattdessen wurde sein Körper in unkontrollierten Zuckungen geschüttelt. Ihm war so heiß, so unglaublich heiß, er fürchtete, dass er kochte. Womöglich kochte er auch, sein Blut, sein Hirn siedete, ach was, konnte das sein? War das möglich? Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Sein Blick wurde trüb. Die Augäpfel traten hervor, geweitet, entsetzt. Ein letztes Mal setzte er all seine Willenskraft ein, um das verdammte Ding loszulassen, vergeblich. Es war das Letzte, was er in seinem Leben in Angriff nahm. Sein Kreislauf kapitulierte, und sein Herz hörte von einer Sekunde auf die andere auf zu schlagen. Noch kurz verharrte sein Körper in aufrechter Haltung, dann fiel er zusammen mit dem Schellenbaum, der ihn getötet hatte, wie ein Brett nach hinten um, und das Klingeln der Glöckchen wäre ohrenbetäubend gewesen, wenn draußen nicht gerade der Musikzug die Himmelfahrts-Polka gespielt hätte.

»Seid ihr komplett?«, fragte Christian in die Runde und ließ den Blick über den Spielmannszug schweifen. Gleich würde nach dem Kinder-Nachwuchsballett der Musikzug fertig gespielt haben, dann wäre der Spielmannszug dran.

»Der Schellenbaum fehlt«, stellte der Tambourmajor fest, und Christian starrte entgeistert auf das vordere Ende des Zuges. Natürlich! Wie hatte ihm das entgehen können!

»Wo ist denn der Tobi? Ich hab ihn doch vorhin gesehen?«

Allgemeines Achselzucken, dann meinte einer: »Der ist vorhin in Richtung Kämmerle gelaufen.«

Applaus brandete auf für den Musikzug.

»Wir sind jetzt dran!«, zischte irgendjemand, und Christian hörte erstarrt, wie Walter Lilienfelder, der in diesem Jahr noch einmal als Moderator fungierte, den Spielmannszug ankündigte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Truppe ohne den Schellenbaum auftreten zu lassen. Aber nein, das ging nicht. Das brächte alles durcheinander.

»Das geht nicht«, sagte er laut zu Philipp, dem Zugführer, der wie ein Mondkalb dastand und offenbar nicht vorhatte, irgendwie tätig zu werden. Christian Blumenstock setzte sich in Bewegung, in Richtung des VHS-Kämmerles. Köpfe drehten sich nach ihm um, kaum dass er die Kameraden passiert hatte. Gleichzeitig zeichnete sich Sorge auf dem hageren Gesicht ab. Dem Tobi würde doch nichts passiert sein?

»Vielleicht ist ihm schlecht geworden«, vermutete jemand, an dem er vorbeikam.

Ja. Vielleicht. Christian beschleunigte seinen Schritt. Das sah dem Tobi nicht ähnlich, so gar nicht! Der war nervig, intrigant, oft einfach nur doof und manchmal ein Hallodri, aber in solchen Dingen absolut zuverlässig. Auf der Bühne war es ruhig geworden, das Publikum, das oft sowieso nur mit halbem Ohr zuhörte, würde noch für kurze Zeit mit sich selbst und seinen Gesprächen zufrieden sein.

»Der Spielmannszug!«, wiederholte Walter nun durch das Mikrofon, das war nicht so schlau, wäre er doch bloß ruhig.

Christian stand vor der Tür und fand sie halb offen stehend vor.

»Wenn der Spielmannszug jetzt aufmarschieren könnte … Hallo, Christian?«, beharrte die Stimme aus dem Lautsprecher.

Christian schluckte und öffnete die Tür vollends. Das Licht war an. Und er sah im selben Moment, was los war. Er schlug die Hand vor den Mund und trat einen Schritt auf die stocksteif daliegende Leiche zu, die unter dem Schellenbaum begraben war. Er streckte die Hand aus, wurde aber von einem »Nicht anfassen!« von der Tür her zurückgehalten.

Er drehte sich um, es war Freddy. »Der hat sei Beet­le nausgschort«, konstatierte der Kamerad trocken und nahm seine Kopfbedeckung ab.

»Hä?«, machte Christian vollkommen perplex.

»Der is hie«, übersetzte Freddy seine Metapher. »Doa kousch nix mehr macha. Ii hobb im Publikum an Bulla gseecha, ii holl en amol.«

Einige Minuten später standen Lisa und Heiko im Kämmerle der VHS, vor der Leiche von Tobias Baumann. Heiko zückte sein Handy und rief Uwe an, den Crailsheimer Spurensicherer. Der würde womöglich nur wenige Minuten bis zum Tatort brauchen, denn das Crailsheimer Polizeirevier war nur einen buchstäblichen Steinwurf weit entfernt. Hinter Heiko tauchte plötzlich Werner auf, sein Vater, und blickte mit verschränkten Armen interessiert auf die Leiche hinunter. Heiko war gottfroh, dass er nicht sein Smartphone zückte, um Bilder zu machen, wie er es bei so mancher Leiche im Familienkreis schon getan hatte, rein zur Dokumentation, wie er behauptete, als Erinnerungsfoto. In Wahrheit war er überzeugt davon, dass sein Vater Leichen irgendwie faszinierend fand, zumindest interessant.

»Vatter, etz musch du doa amole weg«, zischte Heiko, besann sich dann aber und bat: »Kousch du amol an Sanitäter holla?«

Denn dieser dürre Kerl, der das Opfer gefunden hatte, hatte wohl dringend einen nötig, so schockiert, wie der war. Er saß auf dem Boden, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Knie geschlungen.

»Tobi!«, gellte ein Schrei durch die Szene, und eine junge, schwarzhaarige Frau kam atemlos auf die Kammer zugerannt.

Lisa stellte sich ihr in den Weg. »Tun Sie sich das nicht an, Frau …«

»Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«, verlangte die Frau zu wissen. Ihre dunklen Augen waren panisch geweitet. »Was ist los, Chris, los, sag!«, forderte sie, als sie bemerkte, dass sie nicht weiterkommen würde.

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau …«, begann Lisa.

»Wer sind Sie denn? Lassen Sie mich zu ihm, ich will …«

»Setzen Sie sich, bitte!«, beharrte Lisa und berührte die Frau mit sanfter Bestimmtheit am Arm. »Wie heißen Sie denn?«

Die Dame, die ebenfalls eine Bürgerwachen-Uniform trug, schien etwas ruhiger zu werden. »Gündogan, Ezgi. Ich bin seine Frau«, meinte sie tonlos und betrachtete Christian, der das mit dem Hinsetzen ja einfach gelöst hatte.

»Frau Gündogan«, wiederholte Lisa und schenkte der Frau ein Lächeln.

Heiko war bei solchen Sachen immer froh, wenn Lisa das übernahm, sie konnte so was viel besser als er. Erleichtert nahm er wahr, dass hinter der jungen Frau jetzt zwei Sanitäter erschienen, und Heiko bedeutete ihnen mit Blicken, sich um die beiden unter Schock Stehenden zu kümmern.

»Er ist tot, stimmt’s?«, begriff Ezgi, als sie den Mann in der Rotkreuz-Montur sah, und brach in unkontrolliertes Schluchzen aus.

Heiko entdeckte den Pfarrer, den sein Vater wohl ebenfalls informiert hatte und der sich in hellblau geblümtem Freizeithemd und beigefarbenen Cargoshorts ebenfalls aus dem Hintergrund heranschob. Er winkte ihm und deutete auf die Sanitäter, die würden ihm schon sagen, was jetzt am besten wäre.

»Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten, Herr …«, wandte sich Lisa dann an den jungen Mann, der die Leiche gefunden hatte. Der schien sie erst gar nicht wahrzunehmen, bis der Sanitäter ihn ansprach.

»Christian? Hast du die Frage gehört?«

»Beim Spielmannszug gibt es scheint’s Verzögerungen«, kam nun eine Stimme durch den Lautsprecher. »Deshalb spielt jetzt der Musikzug eine wunderschöne Polka – den ›Böhmischen Traum‹!«

Endlich hob der Mann seinen Blick, und Lisa schaute in bernsteinfarbene, irgendwie kluge Augen. »Blumenstock. Ich heiße Christian Blumenstock. Und ich denke, ja. Wenn Sie mich noch kurz …« Er brach ab, weil die ersten Takte des »Böhmischen Traums« erklangen.

Lisa nickte verständnisvoll, das passte sowieso gut, weil in diesem Moment Uwe anmarschierte, bereits im weißen Spurensicherer-Outfit.

»Hi, Uwe«, grüßte Heiko, und der Spurensicherer nickte ernst.

»Der sei zu Tode geschockt worden?«, begann er, und Heikos Blick wanderte zu Frau Gündogan und Herrn Blumenstock, die Gott sei Dank außer Hörweite waren.

»Sieht wie ein Stromunfall aus, beziehungsweise ein ›Strommord‹«, sinnierte Heiko und zündete sich eine Zigarette an.

Uwe schob sich an den Ermittlern vorbei und öffnete die Tür. »Ist die Sicherung jetzt draußen?«, fragte er misstrauisch.

»Fliegt die nicht automatisch raus bei so was?«, gab Heiko zurück.

»Scheint’s net«, konstatierte Uwe trocken und wies auf die Leiche. »Hollsch du amol da Fassiliti Mänädscher?«, bat er Heiko.

Der blinzelte und hakte nach. »Wen?«

»Da Hausmeischder!«

»Ach so, ja.«

Der »Böhmische Traum« hatte geendet, und der Moderator kündigte eine »weitere wunderschöne Polka, nämlich die Herbstabend-Polka« an, die deutlich dynamischer war.

»Soll ich denen Bescheid sagen, dass sie zu spielen aufhören?«, bot Lisa an.

Uwe schüttelte den Kopf. »Des is grad recht, wenn das Programm weitergeht. Auf die Weise kommen die neugierigen Leut nicht her.«

Fünf Minuten später war der Strom abgestellt, zumindest der auf den Steckdosen. Das Licht war noch an.

»Ihr bleibt draußen«, befahl Uwe und machte sich drinnen zu schaffen.

»Waasch du, warum der Spielmannszuach net spielt?«, fragte Gerda.

»Koa Ahnung«, erklärte Ernst.

»Rood amol!«

»Also waasch! Wie soll ii doa rooda! Waaß ii doch net!«

»Etz rood halt amol!«, beharrte Gerda und verschränkte die Arme vor ihrem voluminösen Busen.

»Nooh, ii rood net, des is mir z’ bleed!«

»Noa rädsch halt net!« Gerda wirkte beleidigt.

Ernst schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen.

»Etz sooch! Waasch du ebbes?«, verlangte er zu wissen.

Gerda blickte um sich, um sich dann so nah wie möglich zu ihrem Mann zu beugen und mit gesenkter, monotoner Stimme zu berichten: »Bei der Broodwurschd henn’s grood verzeilt, dass der Schellanboamdreecher gschdorwa sei.«

»Wie! Jetz? Grood?«

Gerda nickte bedeutungsvoll, wobei die Locken ihrer blondierten Dauerwelle unterstreichend mitschwangen. »Lichd doad im Kämmerle doa diwwa«, fuhr sie fort.

»Jetzt kommt eine weitere wunderschöne Polka, nämlich die Regenbogenbrücken-Polka!«, verkündete die Stimme aus dem Lautsprecher begeistert, und erneut setzte die Musik ein.

»Also, Gerda, hasch du eigentlich scho amol des Teichle gseecha an dr Volkshochschul? Des soll reechd schää sei«, meinte Ernst und grinste.

»Sou«, lautete die lakonische Antwort. »Haja, noa gugg mer des amole ou!«

Uwe tauchte zum Beginn der Regenbogenbrücken-Polka zum ersten Mal wieder auf.

»Also?«, fragte Heiko.

Uwe senkte die Lider und öffnete sie langsam wieder, bevor er den Kopf hob und antwortete: »Da hat jemand eine fiese Starkstromfalle gebaut.«

»Huch!«, lautete Heikos Kommentar. »Ja, wie geht des?«

Uwe machte die Tür weiter auf. »Aber nicht reingehen!«, mahnte er, dann zeigte er Lisa und Heiko die Kabel, die vom Mittelstab aus blank, aber zugleich unauffällig mit dem unteren Ende des Schellenbaums verbunden waren.

»Was mich immer wundert«, dachte Lisa laut nach, »wieso lassen die Leute nicht einfach los, wenn wo Strom drauf ist?«

»Weil es nicht geht«, antwortete Uwe. »Deine Muskeln verkrampfen, und du kannst dich nicht mehr bewegen.«

»Wie schrecklich«, fand Lisa.

»Ja, kein schöner Tod. Man wird dann entweder innerlich gebraten oder stirbt an Kreislaufkollaps. Bei dem da tippe ich auf Letzteres.«

»Oh Gott«, kommentierte Heiko. »Aber fliegt da normalerweise nicht die Sicherung raus?«

»Hier nicht passiert«, lautete Uwes Antwort. »Warum auch immer.« Der Spurensicherer seufzte schwer, als er ein älteres Pärchen entdeckte, das unendlich langsam am Kämmerle vorbeischlenderte und mit langen Hälsen durch die Tür schauen wollte.

»Sie, gehen Sie bitte weiter!«, forderte Heiko auf.

»Is ebbes bassiert?«, fragte der Mann und schob ungefragt nach: »Ii wollt meinera Fraa bloß gschwind den Teich zeicha.«

»Gehen Sie bitte einfach weiter, der Teich ist da drüben!«, wies Lisa ohne ein Lächeln an.

Heiko seufzte, als das Pärchen sie passiert hatte. »Noch zehn Minuten, dann weiß es der ganze Festplatz«, dachte er laut.

Jetzt näherte sich auch noch Walter Lilienfelder, der alte Kommandant und Moderator. »Ist das wahr, das mit dem Tobi?«, fragte er und wirkte ehrlich bestürzt.

Heiko nickte.

»Ja, dann kann man keine Musik mehr spielen«, fand der Ex-Kommandant, nahm betroffen den Helm ab und drehte ihn in den Händen.

»Tatsächlich wäre es uns nicht unrecht, wenn ihr weiterhin eine … wunderschöne Polka nach der anderen spielen würdet, denn das hält die Schaulustigen ab«, gab Heiko zu bedenken.

»Aber das geht doch nicht!«, fand Lilienfelder.

»Ich verstehe, dass Sie das pietätlos finden, wir ja eigentlich auch. Aber es ist wirklich vernünftig, denn ein Menschenauflauf wäre hier absolut kontraproduktiv«, erläuterte Lisa. »Außerdem wäre es gut, wenn wir die Kontaktdaten von allen Besuchern hätten!«

Die hellblauen Augen des Mannes drückten Hilflosigkeit aus. »Von allen?«, vergewisserte er sich. »Aber wie soll das …?«

Heiko zückte als Antwort sein Handy, rief auf dem Revier an und bat um einige Kollegen, die die Daten der Besucher abfragen sollten. Und die die Leute darum bitten sollten, der Polizei via E-Mail Bilder vom Parkfest zukommen zu lassen. Vielleicht gab es ja ein Bild, auf dem der Mörder in flagranti zu sehen war. Auch wenn ein solcher Treffer die Nadel im Heuhaufen wäre. »Wenn wir schon nicht alle erwischen, dann sicherlich doch die meisten«, murmelte er, als er das Gespräch beendete.

Die Ablenkungsstrategie funktionierte so lange, bis der Leichenwagen vorfuhr und zwei Träger einen Metallsarg zur Abendrot-Polka quer über das Gelände trugen. Spätestens dann wusste jeder Besucher, was los war, und anschließend reagierten die Leute auf drei verschiedene Arten. Als der Kommandant durchsagte, dass sie bitte alle an ihren Plätzen bleiben sollten, weil sie eventuell wichtige Zeugen seien, stand ungefähr ein Drittel auf und ging einfach. Es fiel im Trubel nicht auf, dass auch drei Sieder darunter waren. Der große Teil der Leute blieb sitzen, und einige schlenderten in Richtung der VHS davon, wurden aber von einem inzwischen gespannten Absperrband aufgehalten. Vor diesem blieben sie einfach stehen, als wären sie Lemminge aus dem Computerspiel und unfähig, sich selbst einen alternativen Weg zu suchen.

»Woora des die Linka?«, gellte es plötzlich aus der Menge.

Heiko suchte mit Blicken den Mann mit dem spärlichen Haupthaar.

Der zog die Augenbrauen hoch und wies mit spitzem Finger auf ein »ACAB«-Graffiti, das mit krakeligen, schnellen Strichen hingesprayt worden war.

»Ist das neu, das Graffiti?«, fragte Heiko den Hausmeister, Herrn Schneider, der immer noch in Tatortnähe herumstand.

Der bestätigte: »Seit gestern Nacht ist es da.«

»Aha«, machte Heiko und informierte Uwe, der immer noch im Kämmerle werkelte, dass er sich den Schriftzug mal genauer anschauen sollte. Auch wenn er bezweifelte, dass der Mörder für das Graffiti verantwortlich war.

Aus dem Hintergrund nahten die Kollegen von der Haller Spurensicherung heran, nickten allen am Tatort grüßend zu und verschwanden alsbald zu Uwe ins Kämmerle.

Heiko wandte sich reichlich genervt zur gaffenden Menge um. »Hat jemand von Ihnen was gesehen?«, verlangte er zu wissen. Eisiges Schweigen, Handys wurden gehoben, drei schienen zu filmen oder ein Foto von ihm zu schießen. Er sandte den betreffenden Herrschaften einen so warnenden Blick unter seinen dunklen Augenbrauen, dass die verschämt ihre Handys sinken ließen.

»Haben die Kollegen schon Ihre Daten?«, machte Heiko weiter.

Die Ränder der Menge lösten sich auf, Leute schlenderten beiläufig davon. Einige nickten. »Dann gehen Sie jetzt bitte. Es ist pietätlos, hier zu gaffen.«

Es dauerte trotzdem noch eine ganze Weile, bis sich die Umstehenden so weit zerstreut hatten, dass Lisa und Heiko mit dem Finder des Mordopfers reden konnten. Die Frau des Toten hatte eine Beruhigungsspritze erhalten, und der Sanitäter hatte den Kommissaren verboten, sie mit Fragen zu belästigen.

»Wo können wir uns denn hinsetzen?«, fragte Heiko den Hausmeister.

Der zückte einen Schlüssel und schloss ihnen einen Raum der Volkshochschule auf, der normalerweise für Unterricht aller Art genutzt wurde.

»Witzig, ich war hier schon zum Italienisch«, erzählte Christian und ließ seinen Blick schweifen.

Heiko wies auf einen der Tische und positionierte drei Stühle so, dass sie sich unterhalten konnten. Er schloss die Tür, und schlagartig waren alle Geräusche von draußen gedämpft. Es war sehr ruhig.

»Also, Herr Blumenstock. Sie haben den Herrn Baumann gefunden.«

»Ja, die sollten ja auftreten.«

»Sind Sie denn verantwortlich für den …?«, warf Lisa ein.

»Für die gesamte Bürgerwache. Ich bin der Kommandant. Den Spielmannszug führt der Philipp, aber der schwätzt net viel.«

»Aha«, machte Lisa und beschloss, dass es gerade nicht Sinn der Sache war, allzu komplexe Fragen zur Hierarchie innerhalb der Bürgerwache zu stellen.

»Weiter«, forderte Heiko auf, freundlich nickend.

Der Mann schluckte und fuhr fort: »Ja, also dann hab ich gemerkt, dass der Schellenbaum fehlt, also der Tobi halt.«

»Haben Sie das bemerkt oder jemand anderes?«, erkundigte sich Heiko.

Der Mann runzelte die Stirn, er dachte offenbar nach. »Eigentlich habe ich geschaut, wer fehlt, und mir wäre es gar nicht aufgefallen.«

»Ist der Schellenbaum nicht ganz vorne?«, zweifelte Heiko.

Der Offizier nickte eifrig. »Ja, aber das kennen Sie vielleicht, was direkt vor der Nase ist, ist manchmal so selbstverständlich, dass man es übersieht.«

Das leuchtete Heiko ein.

»Ich glaube, jemand hat es gesagt, dass der nicht da ist.«

»Wissen Sie noch, wer das war?«, fragte Lisa.

»Nein. Beim besten Willen nicht. Das war irgendjemand vom Zug. Genau, wie irgendjemand gemeint hat, er hätte ihn zum Kämmerle laufen sehen.«

»Vielleicht fällt Ihnen das ja später noch ein«, hoffte Heiko. »Und dann?«

»Na, der Walter hat uns schon angekündigt auf der Bühne, und ich bin schnell los, um nach ihm zu schauen.«

»Wieso sind Sie denn selbst gegangen und haben niemanden geschickt?«, hakte Heiko ein.

»Weil ich der Kommandant bin«, lautete die Antwort.

»Also. Dann sind Sie ins Kämmerle – da haben Sie demnach dem Mann, der das gesehen hat, geglaubt.«

»Es war naheliegend, dass er dort hin ist, er wollte ja den Schellenbaum holen.«

»Der Schellenbaum wird dort gelagert?«, vermutete Heiko.

»Genau. Ich hab die Tür aufgemacht, und …«

»Beschreiben Sie genau, was Sie gesehen haben«, mahnte Lisa nicht unfreundlich.

Christian Blumenstock schluckte, nickte ernst, schloss kurz die Augen, schien nachzudenken. »Das Licht war an. Und der Tobi lag auf dem Boden, der Länge nach hingestreckt. Unter dem Schellenbaum.«

»Wann war das genau?«

»Um halb eins, ungefähr. Ja, so vor einer halben Stunde.«

»Und dann?«

»Ich wollte hin, aber dann hat der Freddy geschrien, ich soll ihn nicht anfassen.«

Die Ermittler tauschten einen Blick.

»Der Freddy? Wo ist der denn hin?«

»Ich glaube, der hat sich wieder auf seinen Platz gesetzt.«

»Wie heißt der weiter?«

»Glock.«

»Aha. Und dem Rat sind Sie gefolgt.«

»Ja, weil zuerst will man ja so jemand anlangen, um zu schauen, ob man da noch was retten kann. Aber der war wohl schon tot.«

»Und der Freddy hat das mit einem Blick erfasst«, mutmaßte Heiko.

Christian hob die schmalen Schultern. »Keine Ahnung, da müsst ihr ihn selber fragen. Das ist jedenfalls der junge Mann, der euch geholt hat.«

»Ach der!«

»Ja.«

»Mal was anderes: Ist denn das Kämmerle abgeschlossen?«

Christian nickte. »Ja, auf jeden Fall. Da sind ja wertvolle Instrumente drin. Das heißt: eigentlich. Eigentlich schließen wir immer ab. Aber ihr wisst ja, wie so was ist. Sicher sagen kann ich jedenfalls, dass um kurz nach elf noch alles okay war, da hab ich den Raum kontrolliert. Ich hab sogar noch das Rosshaar vom Schellenbaum glatt gestrichen und mit dem Finger an ein Glöckchen geschnipst. Und dann auch wieder abgeschlossen, das weiß ich genau.«

»Und wer hat alles einen Schlüssel?«

»Der Kommandant. Die Offiziere. Und ein paar Musiker.«

»Wir bräuchten eine Liste von Leuten, die den Schlüssel haben«, erklärte Lisa.

»Kann ich euch zukommen lassen«, versprach Christian.

Walter Lilienfelder hielt es irgendwann nicht mehr aus, eine Polka nach der anderen spielen zu lassen. Wutschnaubend gebot er dem Dirigenten Einhalt und holte sich von den Polizisten das Okay ab, das Parkfest aufzulösen. Die hatten eingewilligt, aber bestimmt, dass die Mitglieder der Bürgerwache noch dableiben mussten. Das war durchaus sinnvoll. Zusätzlich hatte sich Lilienfelder noch etwas ausgedacht, und die Kommissare hatten es wider Erwarten sogar abgesegnet, solange der Tatort unangetastet bliebe. Deshalb leckte er sich jetzt über die von der Hitze ausgetrockneten Lippen, als er zum Mikrofon trat. Er ließ seinen Blick über die immer noch sehr große Menschenmenge schweifen, ach, es hätte ein so schönes Fest werden sollen. Dann ging er einen Schritt zurück, denn eine Rückkopplung kreischte auf, aber vielleicht war das gerade gut, denn auf diese Weise hatte er die Aufmerksamkeit auch all jener Besucher, die normalerweise das Bühnenprogramm als Hintergrundgeplänkel für ihre angeregte Unterhaltung wahrnahmen – eigentlich sowieso eine Schande, aber das war ja häufig so in Hohenlohe.

»Ich bitte um Aufmerksamkeit«, begann er und wartete stoisch ab, bis sich der Lärmpegel tatsächlich reduziert hatte. »Einer unserer guten Kameraden ist vorhin leider durch einen tragischen Unglücksfall aus dem Leben geschieden«, hörte er sich sagen, und seine Stimme klang seltsam fremd.

Hier und da zischte es im Publikum, das war längst rum, und das mit dem Unglück war allzu offensichtlich eine Lüge, bei dem Polizeiaufgebot.

»Deshalb beenden wir das Parkfest jetzt vorzeitig. Aber ihm zu Ehren schießt die Kompanie einen dreifachen Salut.«

Wieder ein Raunen, einzelne Proteste.

»Wann kommt die Tombola?«, rief jemand rechts der Bühne und wedelte mit einem Bündel Lose.

Niemand antwortete.

»Ich bitte Sie alle, sich dazu zu erheben«, forderte Lilienfelder auf, und der gesamte Platz leistete Folge.

Alsbald zerrissen drei ohrenbetäubende, fast gleichzeitig geratene Salutschüsse auf den »guten Kameraden Tobias Baumann« die unwirkliche Stille.

Als Nächstes schnappten sich Lisa und Heiko Freddy Glock, einen eher nervös wirkenden, mittelgroßen Kerl mit dunklem Haar.

»Wieso muss ich da jetzt aussagen?«, beschwerte er sich. »Ihr tut ja so, als wäre ich verdächtig!«

»Hätten wir denn einen Grund, Sie zu verdächtigen, Herr Glock?«, gab Heiko zurück und sah ihn aus ernsten dunklen Augen fragend an.

»Nein, auf keinen Fall.«

»Entspannen Sie sich, Herr Glock. Unsere Fragen sind reine Ermittlungsarbeit. Noch haben wir keinen Verdächtigen«, versicherte Lisa.

Der Mann lehnte sich in seinem Volkshochschulstuhl zurück, die Lehne knarzte leise.

»Also, Sie seien hinter dem Herrn Blumenstock aufgetaucht und hätten ihm abgeraten, die Leiche anzufassen«, begann Heiko.

»Klar, der war da gerade dabei«, bestätigte Glock.

»Na, da hat er aber Glück gehabt, oder? Beziehungsweise Sie haben mit einem Blick erfasst, dass das ein Stromunfall war?«, zweifelte Heiko.

Der Musiker hob die schmalen Schultern. »Der Tobi hat ganz komisch dagelegen, wie ein Brett. Ich hätte den nicht angefasst«, hielt er dagegen.

»Trotzdem, es wäre womöglich schon ein erster Impuls, demjenigen zu helfen, sprich, ihn anzufassen. Dass Sie die Situation so schnell erfasst haben … bemerkenswert!«, fand Lisa.

Der junge Mann verschränkte die Arme vor der Brust und verteidigte sich: »Ich bin Elektriker. Ich sehe so was sofort. Und überhaupt, was wollen Sie damit sagen, Frau Kommissarin?«

»Soso, Elektriker sind Sie«, sann Heiko und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Lisa.

»Ja genau. Und da bin ich nicht der Einzige. Wir haben Elektriker, Elektrotechniker, Mechatroniker, studierte Physiker, Gas-Wasser-Scheiße-Leute, alles!«

Heiko runzelte die Stirn, dachte kurz darüber nach. »Kannten Sie den Herrn Baumann denn gut?«, verlangte er zu wissen. »Und wie standen Sie zu ihm?«

»Brauche ich jetzt einen Anwalt, oder was?«, lautete die Gegenfrage.

»Von uns aus nicht«, relativierte Heiko. »Noch nicht. Wenn Sie kooperieren und unschuldig sind.«

Der Mann verdrehte die Augen, entknotete die Arme und ließ sie seitlich am Stuhl herunterhängen. »Der war mein Kamerad. Aber ansonsten war er mir ziemlich egal.«

»Sie konnten ihn nicht so leiden?«, vermutete Heiko. »Warum denn?«

»Schwachsinn«, zischte der Mann. »Dreht einem net so des Wort im Mund rum.«

»Na, na, Herr Glock, mäßigen Sie sich!«, mahnte Lisa und beugte sich verbindlich lächelnd über den Tisch. »Da Sie Ihre Gleichgültigkeit so betonen, hört es sich eben ein bisschen so an!«

»Wir waren nicht so warm miteinander, irgendwie. Kennt ihr das nicht, dass man jemanden nicht so leiden kann, aber nicht sagen kann, warum? Soll ich jetzt lügen und sagen, das war mein bester Kumpel, oder was?«

»Wo waren Sie denn vor dem Todesfall, Herr Glock?«

»Sie meinen, bevor wir kollektiv angetreten sind und eigentlich damit beschäftigt waren?«

Heiko nickte.

»Ich hatte Standdienst. Am Weinstand. Und bin dann noch ganz kurz mit meiner Freundin zusammengesessen.«

»Wir prüfen das nach«, versprach Lisa.

»Macht das. Und bei der Gelegenheit könnt ihr auch gleich noch die Anwesenheit von allen anderen genauestens überprüfen. Viel Spaß dabei!«

»Werden Sie mal nicht frech, Herr Glock!«, drohte Heiko.

Der Mann verdrehte wieder die Augen. »Ja, sorry. Aber das kann echt jeder gewesen sein. Und so, wie die Drähte ausgeschaut haben, reichen da ein, zwei Stunden vom Physik-Telekolleg, um so was zu bauen.«

Diese These bestätigte Uwe – leider –, als er irgendwann mal wieder aus der Kammer auftauchte.

»Das hätte fast jeder zusammenbauen können«, befand er.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um jemanden mit Kenntnissen im elektrischen Bereich handelt, ist doch höher, oder?«, fand Heiko.

»Das auf jeden Fall«, stimmte Uwe zu, während er sich über die rasierte Glatze strich, nachdem er sich das duschhaubenartige Teil vom Kopf gerissen hatte. »Auch weil er sich überhaupt für Strom als Mordinstrument entschieden hat.« Er schwitzte stark, die sterilen Overalls mussten in dieser Hitze furchtbar sein.

»Andererseits wäre derjenige ja auch blöd, wenn er Profi-Material verwendet hätte, wo womöglich noch der Firmenname draufsteht«, sinnierte Lisa.

»Auch wahr«, meinte Uwe und zerrte am Reißverschluss des Anzugs, um ihn endlich loszuwerden. »Jedenfalls haben wir alles eingetütet und nehmen es mit aufs Revier. Da schaue ich genauer nach Fingerabdrücken und verwertbaren Spuren.«

»Das wäre super, denn so, wie das aussieht, wird das die Suche nach der Nadel im Heuhaufen – bei all den Leuten, die hier rumgesprungen sind«, seufzte Heiko.

Für 15 Uhr hatten sie ein kurzes Treffen aller Bürgerwachen-Mitglieder im Unterrichtsraum der VHS veranschlagt. Es war unglaublich laut, denn insgesamt handelte es sich um fast 100 Leute. Alle hatten inzwischen ihre Uniformjacken abgelegt und trugen Shirts oder kurzärmelige Hemden beziehungsweise Blusen. Es herrschte ein Lärmpegel, wie nur 100 Hohenloher ihn fabrizieren konnten. Einige schluchzten und waren schockiert, aber viele wirkten doch einigermaßen ungerührt.

Heiko räusperte sich mehrfach, bat dann um »Ruhe!«, was jedoch erst wirkte, als er im dritten Anlauf richtiggehend brüllte. »Ruhe bitte!«, setzte er nach und fixierte einzelne Kandidaten, die immer noch mit dem Nachbarn tuschelten.

»Wie Sie alle wissen, wurde vorhin Ihr Kamerad Tobias Baumann tot aufgefunden«, begann Lisa.

»Wurde der ermordet? Oder hatte der einen Herzinfarkt?«, kam aus einer Ecke.

Heiko suchte nach dem Fragesteller und entdeckte einen stattlichen Hünen, der sich jetzt, da er gesehen worden war, verhuscht duckte.

»Momentan müssen wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Aber die Untersuchungen dazu laufen noch«, informierte Lisa.

Allgemeines Murmeln. Satzfetzen wie »Denn henn’s umbroochd« und »Des wor klar a Mord« drangen an ihr Ohr.

»Für uns wäre jetzt interessant, ob jemand von Ihnen verdächtige Beobachtungen in der Nähe derjenigen Kammer gemacht hat, in der der Schellenbaum aufbewahrt wird.«

»Is der mim Schellaboam drschloocha worra?«, fragte ein blonder jüngerer Mann.

»Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu Einzelheiten nicht äußern können«, bat Lisa lächelnd, aber bestimmt.

Wieder allgemeines Murmeln.

»Jedenfalls bitten wir Sie nachzudenken, ob Sie relevante Beobachtungen gemacht haben. Ob Ihnen jemand aufgefallen ist, der da nicht hingehört hat?«, fuhr Lisa fort. »Oder jemand, der sich komisch benommen oder ungebührlich lange in dem Raum aufgehalten hat?«

So laut und beständig das Gemurmel vorher gewesen war, so totenstill war die Menge jetzt.

Heiko seufzte. Das hatte er befürchtet. »Bitte melden Sie sich auf dem Revier, wenn Ihnen etwas einfällt!«, beendete er die Runde und entließ die Leute.

Walter Lilienfelder saß vor der Bühne und ließ seinen Blick über die leeren Bankreihen schweifen. Er sah auf die Uhr, es war vier – normalerweise wäre jetzt die Verlosung mit der Heißluftballonfahrt als erstem Preis. Normalerweise läge jetzt eine gespannte Stille über dem Platz, die Leute würden ihre Lose parat halten, und es wäre leiser als sonst, weil keiner die gezogene Nummer verpassen wollte. Um 18 Uhr würde der Heißluftballon dann starten, mit dem glücklichen Gewinner und einer weiteren Person seiner Wahl an Bord, und auch er wäre in diesem Jahr Ehrengast gewesen, als ehemaliger Kommandant der Bürgerwache. Er hatte sich schon darauf gefreut, Hohenlohe von oben zu sehen, sein Crailsheim vor allem, die Türme, das silbern glitzernde Band der Jagst. Verdammt, das hätte anders laufen müssen, das war so nicht geplant gewesen. Jetzt stand der Ballon immer noch verpackt in einem Anhänger neben dem Festplatz. Tragisch! Er schlug die Hände vors Gesicht und schloss die Augen, presste die Fäuste in die Höhlen, bis es rot und grün flimmerte. Es sollte ein Fest werden, ein schönes, und kein Todestag eines Kameraden! Und wenn schon einer sterben musste, dann doch nicht während des Fests, sondern wenigstens am Ende. So war ja der ganze Tag versaut! Er hatte das Fest nicht so genießen können, wie er es vorgehabt hatte. Nächstes Jahr wäre der Christian schon etablierter, er als ehemaliger Kommandant wäre in Vergessenheit geraten. Er erhob sich und blickte noch einmal seufzend zur Bühne, bevor er missmutig in Richtung Tiefgarage davonstapfte.

Lisa und Heiko hatten sich auf Anraten der Sanitäter dagegen entschieden, an diesem Abend noch beim Mordopfer zu Hause aufzuschlagen. Ezgi Gündogan sei zu verstört, als dass sie hätte vernommen werden können. Und auch so hatten sie das Gefühl, sie müssten das Ganze erst einmal sacken lassen. Wenn sie Glück hatten, würde sich am nächsten Morgen irgendjemand auf dem Revier melden, der im Idealfall den Mörder bei der Vorbereitung seiner Tat beobachtet hatte. Sie hatten den Kommandanten Christian Blumenstock noch gebeten, eine Liste aller Mitglieder der Bürgerwache zu erstellen, nach Möglichkeit mit Berufen, dazu alle zu markieren, die ihm einfielen, die besondere Kenntnisse in Elektrik hatten, und alle mit Zugang zu dem Lagerraum für die Instrumente. Blumenstock hatte versprochen, sich bis zum nächsten Tag zu kümmern und alles per E-Mail zu schicken.

Bürgerwache

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