Читать книгу Theater! Ende! Vorhang! - Wilfred Gerber - Страница 5
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ОглавлениеDen vorgeschriebenen Text des Bühnenstückes beachtete er nicht mehr. Er war zum alten Soldaten geworden, der um der Macht willen sein Leben aufs Spiel setzte. Den Willem Granna hatte er fast vergessen. Selbst die andere Sprache und die seltsamen Bewegungen auf der kleinen Bühne waren ihm nicht mehr fremd. Die neuen Gedanken, die er immer häufiger laut aussprach, wie es sich für das Spiel gehörte, hatten den Schrecken verloren. „Dreißig Jahre sind eine lange Zeit“, sagte er laut, dass ihn alle hören konnten. „Was wird inzwischen aus der Königstochter geworden sein? Eine alte Frau?“, befürchtete er. „Aber nun weiter voran!“, rief er voller Zuversicht. „Schließlich warten die Prinzessin und das halbes Königreich samt Schloss auf mich. Die Zeit wird alles richten, man wird sich gewöhnen und in Ruhe lassen“, hoffte er und richtete den Blick auf die Zinnen über dem Burgtor. Irgendetwas hatte sich bewegt, ja, jetzt blinkte der Helm in der gleißenden Sonne. „Einen wunderschönen Tag wünsche ich, von Soldat zu Soldat!“, rief er freundlich nach oben, doch alles blieb still. Trotzdem war Granna sich sicher, dort stand jemand. „Wie jetzt weiter?“, grübelte er laut. „Der Sattel kann mir nicht helfen, so kraftlos wie er da liegt.“ Er zauberte ein selbstbewusstes Lächeln auf Josefs Gesicht, setzte sich auf die Böschung des Grabens. Das Tischtuch war gedeckt, die hochgezogene Brücke auf der anderen Seite immer in seinem Blick.
„Sag mir, wer bist du, Soldat? Und wie gelangtest du hier hoch?“, erschallte es plötzlich. Also doch, es war kein Irrtum, die Wache hatte ihn und sein reich gedecktes Tuch erspäht.
„Kamerad!“, rief Granna nach oben. „Kamerad! Komm doch zu mir herunter. Bei einem guten Essen und einem Glas Wein lässt es sich viel besser reden, also, steig herab! Sei mein Gast!“, winkte er die Wache zu sich. Lange Zeit herrschte nur Stille. Geduld, er wird schon kommen, sagte sich Willem Granna, und richtig, es quietschten die Seile der Zugbrücke in den hölzernen Lagern. Langsam, Stück für Stück, senkte sie sich. Er blieb reglos vor dem gedeckten Tischtuch sitzen, wollte den jungen Burschen nicht vor der Zeit verschrecken. Es war nur wichtig, sein Vertrauen zu gewinnen, um ihn später überwältigen zu können. Im riesigen Brückentor öffnete sich ein kleiner Spalt, aus dem der Kopf des Soldaten neugierig hervorlugte. Jetzt alles richtig machen! Willem Granna rührte sich nicht. Wie eine tönerne Statue saß er vor dem Tuch, wartete, wartete auf den nächsten, den entscheidenden Schritt des Wachsoldaten. Dann war es so weit. Er schlüpfte vorsichtig in voller Rüstung, den Säbel in der rechten Hand, die bedrohliche Hellebarde auf der linken Schulter, durch den Spalt im Tor und blieb verlegen auf seiner Seite der Brücke stehen. Der alte Soldat da draußen war ihm nicht geheuer.
Wieder ließ Granna Zeit verstreichen, bis er schließlich einladend rief. „Nun komm schon, Kamerad! Du musst dich nicht vor mir fürchten. Wir sind doch beide Soldaten. Tun nur unsere Pflicht. Na, komm endlich! Ich will dir nichts Böses. Zier dich nicht wie eine Jungfrau, die Speisen und der Wein warten nur auf dich!“ Die Verlockungen waren zu groß für den einsamen Wachsoldaten. Er löste sich vom Tor, schlich mit kurzen Schritten in Grannas Richtung, auf das mit allen nur erdenklichen Köstlichkeiten gedeckte Tischtuch zu. Immer wieder blieb er stehen, als wolle er sich besinnen. Doch die Entscheidung war längst gefallen. Der Hunger trieb ihn zum merkwürdigen alten Soldaten. Wie hat er es nur auf den Berg geschafft? fragte er sich. Von dem es doch heißt, er wäre unbezwingbar. Ungläubig schüttelte er den Kopf, machte den letzten Schritt, blieb mit einem verlegenen Lächeln vor Granna und dem Tischtuch stehen. Erst jetzt konnte er den jungen Wachsoldaten genauer mustern. Die bohnenlange Gestalt, an der die Uniform schlackerte wie das Kleid einer Vogelscheuche im Sommerwind, stand vor ihm, trat vor Aufregung und Vorfreude von einem Fuß auf den anderen. Das also soll das letzte Hindernis sein, das zwischen mir und dem Inneren der Burg steht. Es wäre doch gelacht, könnte ich es nicht überwinden. Trotzdem ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste! Granna durfte ihn nicht gehen lassen.
„Nun, mein Freund, setz dich, lang kräftig zu, sei mein Gast, bediene dich!“ Grannas ansteckende Freundlichkeit vertrieb die ängstliche Scheu des jungen Burschen. Trotzdem blieb ihm der seltsame, alte Soldat vor dem überreichlich gedeckten Tischtuch unheimlich. Bevor er sich zu Granna setzte, blickte er noch einmal ängstlich zur Burg, aber alles blieb ruhig.
Ich werde verrückt! Willem Grannas Gedanken spalteten sich in diesem Augenblick. Zwei Welten stürmten mit aller Macht auf ihn ein. Weder der einen noch der anderen konnte er sich erwehren.
Der junge Wachsoldat hatte gerade den ersten Bissen heruntergeschluckt, als ihn das verwirrte Gesicht des alten Soldaten erschreckte. „Ist Euch nicht gut, Kamerad? Ihr seht auf einmal totenbleich aus.“
„Nein, nein“, stotterte Granna, die Stimme zitterte. „Es ist alles in Ordnung. Der Aufstieg war wohl zu viel für einen alten Mann. Es ist nichts, nur die Erschöpfung. Iss und trink, mein Freund. Ich muss ein wenig ruhen. Lass dich durch mich nicht stören.“ Der junge Wachsoldat tat, wie ihm geheißen, langte zu, als wäre er am Verhungern.
In Grannas Kopf schimpfte unüberhörbar der alte Soldat Josef. „Ja, ich kann in deinen Gedanken lesen, wie in meinen eigenen. Ich kenne sogar deinen Namen. Nun stell dich nicht so an, Willem Granna, mach den Jungen endlich betrunken, dass er wehrlos wird, und du ihm die Waffen abnehmen kannst. Es wäre sogar ratsam, ihm die Flasche über den Kopf zu ziehen, man kann nie wissen. Wenn du wirklich Mumm hast, stich ihn ab, dann hast du Ruhe und den Rücken frei! Oder ist das Töten nur mein Geschäft?“
„Nein, Josef, du kannst mich zu so einer abscheulichen Tat nicht zwingen. Ich werde mich wehren, lasse das ganze Spiel platzen. Dann müsst ihr sehen, wie ihr ohne mich zurechtkommt. Bei einem Mord mache ich nicht mit!“, empörten sich Grannas Gedanken. Kaum hatte er sie gedacht, ruckten die schon fast vergessenen Schnüre und schleuderten ihn auf Josefs Rücken. Hilflos blieb er im hohen Gras liegen und erstarrte.
„Da ist der gute, alte Kamerad doch tatsächlich eingeschlafen“, flüsterte der junge Wachsoldat und goss sich das nächste Glas Wein ein. „Soll er sich nur ausruhen. Das Festmahl kann ich auch allein genießen, dazu brauche ich ihn nicht.“ Bald war er vollgefressen, wie der Hamster im Herbst, selbst der letzte Schluck Wein wollte nicht mehr durch die Kehle fließen. Sein zufriedener Blick blieb kurz an Josef hängen. Noch wusste er nicht, dass Willem Granna in dessen Kopf steckte, als er das halb geleerte Glas zurück auf das Tuch stellte. Granna lag immer noch reglos mit irrem Glanz in Josefs Augen auf dem Rücken. Befehl hin oder her! sagte sich der junge Soldat. Dieses fürstliche Mahl war jede Sünde wert. Dann besann er sich seiner Pflicht, stand mühsam auf, für einen flüchtigen Augenblick dachte er daran, das wundersame Tischtuch einfach mitzunehmen, doch im selben Moment verbot es ihm seine arglose Ehrlichkeit. Auf wackeligen Beinen trat er den Rückweg an. Trotz der ungewohnten Trunkenheit, vergaß er nicht, das Tor hinter sich fest zu verschließen. Danach zog der junge Wachsoldat mit letzter Kraft die Brücke hoch.
„Du hattest deine Chance!“, brüllte in maßloser Wut der alte Soldat in Willem Grannas Gedanken. „Du einfältiger Trottel, nun ist sie ein für alle Mal dahin! Deine seltsame Moral wird uns in große Schwierigkeiten stürzen. So kommst du niemals aus dem Stück heraus. Machst du nicht freiwillig mit, werden die da oben schon dafür sorgen, dass du es zu Ende spielst. Willst du nicht alles versauen, lass dir schleunigst etwas einfallen. Du bist es schließlich, der hier wieder weg will. Also, komm zu dir. Bald kann die Zeit gegen dich sein, außerdem, weißt du nicht, was ich weiß.“
„Ich habe das Märchen, in dem wir beide jetzt spielen, schon vor langer Zeit in der Grimm´schen Sammlung gelesen“, antwortete Granna, endlich erlöst aus der von denen da oben verordneten Starre. „Mein Gedächtnis hat mich noch nie im Stich gelassen. Ich kenne Inhalt und Struktur, die sich von den anderen Märchen nicht unterscheiden. Ich habe, obwohl das hier nicht meine Welt ist, genug Schuld auf mich geladen, als ich den einfältigen Bauerntölpel Marius um seinen Sattel brachte. Deine aus den mörderischen Schlachten lastet auch schon auf mir, und meine eigene von draußen erhöht den Druck zusätzlich!“, wehrten sich Grannas Gedanken gegen die des alten Soldaten. „Ich habe mitgetan, um eure Welt schnell zu verlassen und mir gedacht, alles wäre nur ein Spiel. Inzwischen musste ich erkennen, auch hier auf der Bühne wirkt das Gesetz von Gut und Böse, und jegliche Schuld lastet schwer auf den Wesen.
Wir beide sind in deinem Kopf durch die Gedanken längst verbunden, doch werde ich nicht kampflos klein beigeben. Zwingt mich euer Spiel, tapfer mitzumachen, suche ich den Kompromiss, den alle tragen. Das sollst du mir glauben.
Aber auch du, Josef, musst einsehen, dass keiner von uns über den anderen herrschen kann. Wollen wir in diesem Spiel Mensch bleiben, müssen wir zusammenhalten.“
„Was bist du nur für ein seltsames Kerlchen?“, gab der alte Soldat versöhnlicher zurück. Er hatte eingesehen, dass es nur weitergehen würde, wenn sie sich einigten, auf welche Art auch immer. „Ich habe das Spiel, es ist für mich genauso neu wie für dich, noch nie auf meine eigene Weise gespielt“, fuhr Josef fort. „Schon gar nicht mit einem wie dir im Kopf. Na dann, lass uns mal überlegen, wie wir trotzdem ans Ziel kommen. Irgendwann muss Schluss sein. Die da oben haben nicht ewig Zeit. Mit ihrer Geduld ist es auch nicht weit her.“
„Gut, du alter Starrkopf“, gaben Grannas Gedanken nach. „Ich mache mit, doch lass es mich erst einmal auf meine Art versuchen. Wenn das nicht klappt, kannst du, in Dreiteufelsnamen, wieder übernehmen.“
„Meinetwegen“, grummelte der alte Soldat. „Ich werde mich zurückhalten, dich machen lassen, solange ich kann. Wir werden jetzt gemeinsam aufstehen. Dann wirst du für die nächste Zeit nichts mehr von mir hören. Auf drei geht´s los. Glaub mir, Willem, die da oben helfen uns. Sie haben ein starkes Interesse, dass wir das Stück zu seinem guten Ende führen. Du wirst schon sehen. Meistens mischen sie sich nicht ein, vertrauen auf uns alte Hasen, doch wird es kritisch, greifen sie scharf durch und ziehen kräftig an den Fäden. Behalte das, bei allem was du tust, fest in deinem Hinterkopf.
Genug geredet, du bist dran, beweise, was wirklich in dir steckt.“ Endlich war Ruhe in Willem Grannas Gedanken.
Er hatte sich mithilfe Josefs und der da oben mühsam aufgerichtet und machte die ersten vorsichtigen Schritte hin zur hochgezogenen Brücke. An seinem Ufer des dunklen Burggrabens blieb er stehen, sammelte sich, und als der Plan fertig war, rief er verhalten hoch zu den mächtigen Zinnen, er wollte nicht, dass sich der junge Wachsoldat erschreckte. „Kamerad! Zeig dich mir! Ich weiß, dass du da bist! Wir sollten miteinander reden, wer redet, kämpft nicht. Also besinn dich!“ Einige lange Minuten wartete Willem Granna vergebens. Doch dann zeigte sich der junge Soldat. Wegen des vielen Weines rief er mit zitternder Stimme. „Hier bin ich, Kamerad! Was hast du mir zu sagen?“ Stand auf dem Posten und war auf der Hut.
Granna redete behutsam auf ihn ein, seine seltsame Veränderung hatte er längst entdeckt. „Warum bist du, mein junger Freund, ohne Abschied davongeschlichen? Das war nicht fein von dir, als mein Gastfreund hast du Pflichten mir gegenüber.“
„Sei mir nicht böse, Kamerad“, verteidigte er sich halbherzig. „Du hast tief und fest geschlafen, dass ich es nicht übers Herz brachte, dich zu wecken. Ich hatte viel zu lange den Posten verlassen, musste mich sputen, um eher zurück zu sein, als die Herrin. Du verstehst mich, warst ja selbst Soldat. Doch jeder sollte wissen, hier oben auf dem gottverdammten Berg wird schon das kleinste Wachvergehen streng bestraft. Du hast es eben selbst gesagt, wir tun nur unsere Pflicht. Also nimm meine Entschuldigung an.“
Granna wollte antworten, doch der Soldat über dem Brückentor redete unentwegt weiter. „Du kannst dir sicher denken, dass die Herrin mir mit hoher Strafe gedroht hat, verließe ich jemals meinen Posten. Nachdem ich dich getroffen habe, fragte ich mich, wie lange ich schon auf diesen Mauern ganz alleine Wache halte. Da wurde mir klar, dass hier oben etwas Merkwürdiges geschieht. Jeder Tag ist so, als wäre er immer derselbe. Die Zeiger der Turmuhr drehen sich nicht. Sie stehen fest auf der Zwölf, als würde keine Zeit vergehen. Sag selbst, das ist doch seltsam!“
Willem Granna bemerkte erst jetzt die bedrückende Stille auf dem Gipfel. Kein Vogel sang, kein Bach rauschte, überhaupt war hier oben kein Laut zu hören. Selbst der Stimme des jungen Wachsoldaten fehlte die Tiefe, sie klang als wäre sie körperlos, wie die eines Geistes in weiter Ferne.
„Sag, Kamerad Soldat!“, rief Granna nach oben. „Es kann doch nicht sein, dass nur du in all der Zeit hier ganz alleine Wache gehalten hast? Ich mag es kaum glauben!“ Er wollte das Gespräch in Fluss halten, wer redet, kämpft nicht.
Die beleidigte Fee, wusste er, wurde vom Kämmerer nicht zur Taufe der Prinzessin geladen, und aus Rache für den Frevel hielt sie die Königstochter seit ihrem achtzehnten Geburtstag geschlagene dreißig Jahre in der finsteren Burg gefangen. Sie hatte aber aller Welt versprochen, dem ersten Mann, der ihren spiegelglatten Berg erklömme, die Prinzessin unbeschadet zu übergeben und den Bann zu lösen. Feen halten ihr Wort, sonst wären sie keine Feen, waren sich Grannas Gedanken sicher.