Читать книгу Theater! Ende! Vorhang! - Wilfred Gerber - Страница 6
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Оглавление„Jetzt ist es wirklich an der Zeit, dass wir uns beim Namen nennen!“ Granna deutete die leichte Verbeugung mit Josefs Körper an. Das Lächeln strahlte nach oben. Noch war nichts verloren. „Ich heiße Josef!“, rief er.
„Das ist aber schön, mein Name ist Hans. Auf deine Frage, Kamerad Josef, kann ich sagen, ja, nur ich allein muss auf der Burg die Wache halten.“ Voller neu gewonnenem Vertrauen zeigte sich der Junge auf den Zinnen. „Als die Herrin die Königstochter vor dreißig Jahren auf die Burg brachte, stehe ich hier. Heute ließ ich zum ersten Mal die Zugbrücke fallen und sprach mit einem Fremden, obwohl sie streng befahl, das, ohne ihren ausdrücklichen Befehl, niemals zu tun. Dass ich die Burg verlassen habe, sogar mit dir speiste, wird sie mir nie verzeihen.“
„Das kann doch nicht wahr sein, Hans!“, rief Granna verblüfft. „Wenn das stimmt, was du mir gerade erzählt hast, bist du genau dreißig Jahre auf dem Posten, doch um keinen einzigen Tag gealtert. Sag, Kamerad, wie steht es denn so um die Prinzessin?“
„Du wirst es nicht glauben, Josef, sie ist immer noch wie am ersten Tag, jung und wunderschön“, gab Hans freudig zurück. „Eine Augenweide, der einzige Trost für mich. Es ist eine Schande, sie vor allen zu verstecken. Aber da kann man nichts machen. Die Herrin hat auf der Burg allein das Sagen. Sie herrscht mit fester Hand. Glaub es mir, Josef. Ich spüre sie sogar, wenn sie den Berg längst verlassen hat und ihren anderen Geschäften da unten nachgeht. Es ist auch zu befürchten, dass die Herrin schon weiß, dass ich meinen Posten verlassen habe, um mit dir zu speisen. Die Strafe wird fürchterlich sein. Sie setzt mir jeden Tag das fade Grünzeug vor, das sie selbst mit großer Leidenschaft hinter der Mauer in ihrem eigenen kleinen Garten zieht. Ich konnte deiner Verlockung nicht widerstehen, und eigentlich ist auch gar nichts Schlimmes geschehen. Vielleicht hält sich ihr Zorn in Grenzen, und ich komme noch einmal mit einem blauen Auge davon.“
„Sorge dich nicht, lieber Hans“, winkte Granna beruhigend ab. „Alles wird gut. Heute ist ein besonderer Tag. Ich bin der erste Mann, der den Gipfel unbeschadet erklommen hat, und deine Herrin steht mir im Wort. Wann erwartest du sie denn zurück, Kamerad?“
„Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Sie kommt und geht wie sie will. Zeit hat hier oben keine Bedeutung, darum stehen die Zeiger der Turmuhr immer gleich fest auf der Zwölf, rücken weder vor noch zurück. Glaub mir, manchmal ist es zum Verzweifeln, weil man sich nie daran gewöhnt.“
„Das ist ja schrecklich!“, rief Granna verständnisvoll. „Eine Bitte, Kamerad, habe ich trotzdem an dich, die du mir sicher als mein Gastfreund erfüllst.“
Hans nickte eifrig. „Aber natürlich, Josef, jede, steht es nur in meiner Macht.“
„Nun, dann versprich mir, wenn deine Herrin erscheint, ihr zu sagen, dass ich hier draußen auf sie warte und ihr Versprechen einfordere.“
„Ja, Josef, das werde ich. Verlass dich auf mich, doch sei gewiss, die Herrin weiß schon längst, dass du hier oben stehst.“
Willem Granna schlenderte gelöst zurück zum Sattel und Tischtuch. Doch bevor er die Stelle erreichte, meldete sich der alte Soldat Josef in seinen Gedanken. „Was bist du nur für ein einfältiger Tor!“, schimpfte er. „Hast du in deinem Alter immer noch nicht begriffen, dass du dir nehmen musst, was dir gehört. Glaub einem mit allen Wassern gewaschenen, alten Soldaten. Wer sich nicht selber hilft, dem wird nicht geholfen, jedermann ist seines eigenen Glückes Schmied. Also, was zauderst du, locke den jungen Trottel da oben nach draußen, schlage ihn nieder, steche ihn mit seinem eigenen Schwert ab, und nimm dir die Königstochter. Jetzt kannst du es noch, aber wenn die Fee zurück ist, kann man nicht wissen, welche Gemeinheiten sie sich einfallen lässt. Dann kann es für alles zu spät sein. Was zögerst du, greif dir die Königstochter und dann nichts wie weg. Der Sattel hat sich längst erholt und wird uns mit der Prinzessin sicher nach unten tragen. Lieferst du sie beim König, dem vor Kummer gebrochenen Greis, unbeschadet in ihrer Jugend und Schönheit ab, bist du der gemachte Mann. Also, schreite zur Tat. Worauf wartest du?“
„Du hast mir doch versprochen“, empörten sich Willem Grannas Gedanken ungehalten, „dich vorerst nicht einzumischen, mich allein machen zu lassen. Wenn ich deinen Rat bräuchte, hätte ich mich schon bei dir gemeldet. Nun sei still, wir haben Zeit. Weil die hier oben nicht vergeht, können wir uns auch in Geduld fassen. Wenn ich mich recht erinnere, wird die Fee gleich erscheinen und ihr Versprechen einlösen. Warum dann noch sinnlos gewalttätig werden. Jetzt bleib still, lass mich nur machen.“ Granna faltete das Tischtuch, wollte es gerade zurück in den Tornister stecken, als er durch das Kreischen der Brückenseile in ihren Lagern aufgeschreckt wurde. „Na, siehst du, Josef, alter Haudegen! Ich hatte Recht, jetzt passiert etwas. Die Brücke senkt sich. Bleib weiter still, und störe mich nicht. Ich werde schon alles richtig machen.“
Er zögerte keinen Augenblick, schritt siegessicher auf die halb gesenkte Brücke zu, die mit lautem Schlag auf Grannas Seite des Grabens landete. Wie von Geisterhand öffneten sich die beiden Flügel des riesigen Tores. Hans, der junge Wachsoldat, stand mit aufgepflanzter Hellebarde davor und rief, als würde er Josef nicht kennen. „He, du da, Soldat! Die Herrin hat befohlen, du sollst reinkommen. Also, spute dich gefälligst, lass die hohe Frau nicht warten!“
Willem Granna besann sich, überschritt hocherhobenen Hauptes die Brücke und blieb im gehörigen Abstand vor der Fee stehen, an deren linker Seite die Prinzessin verlegen den Blick zu Boden senkte. Als Hans´ unnahbare Herrin ihn mit strahlend blauen Augen musterte, stockte ihm das Blut, der Körper erstarrte von Kopf bis zu den Füßen. Stumm, beherrscht von der kalten Macht der Fee, musste Granna ausharren, bis sie nach einer halben Ewigkeit das Wort an ihn richtete. „So sieht also der Wunderknabe aus, der meinen Berg bezwang. Ein alter, ausgedienter Soldat hat wirklich die Stirn, das hübsche junge Ding zu freien. Nimm sie dir. Das ist dein Preis, alter Mann!“ Sie stieß die Prinzessin, die in den dreißig Jahren auf dem Glasberg um keinen einzigen Tag gealtert war, zornig einen Schritt in Grannas Richtung. „Greif sie dir, du Narr! Verschwinde mit ihr auf Nimmerwiedersehen. Keinen Augenblick länger kann ich euch ertragen!“, kreischte sie wutentbrannt. „Doch das Glück, törichter, alter Soldat, hat dich bereits verlassen. Sei gewiss, dein Schicksal ist besiegelt!“
Granna gab nichts auf die wütenden Worte der Fee, rief, endlich aus der seltsamen Starre erlöst, der Königstochter erleichtert zu. „Nun, kommt schon zu mir, Prinzessin, auch mich hält nichts mehr an diesem trostlosen Ort. Lasst uns gehen, ziert Euch nicht, Euer Vater will von seinem Gram erlöst werden. Das lange, vergebliche Warten auf Euch, schöne Prinzessin, machte ihn schon vor der Zeit zum Greis, sagten mir die Leute heute auf dem Markt. Also, folgt mir. Des Königs Warten soll ein Ende haben!“ Er griff behutsam die zitternde Hand der Prinzessin, die es immer noch nicht fassen konnte, endlich erlöst zu sein, zog sie fort von der gnadenlosen Fee, durch das riesige Tor, über die heruntergelassene Zugbrücke, hin zum Sattel und Tornister.
„Verschwindet, verschwindet!“, keifte sie ihnen hinterher, das Gesicht zur abscheulichen, wutverzehrten Maske verzogen. Der Geifer lief über das Kinn, als sie schrie. „Seht selbst, wie ihr von meinem Berg herunterkommt. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ihr euch die Hälse brecht!“ Ihr Wutgeschrei, als hätte sie sich besonnen, brach plötzlich ab, ging in leises Flüstern über. „Was wird das wieder für eine himmlische Ruhe hier oben sein. Viel zu lange musste ich das sinnlose Geplapper der Göre ertragen. Jetzt sind der törichte alte Soldat, in seiner selbstgerechten Verblendung, und ihr Vater, der vertrottelte König, für sie verantwortlich. Aber Strafe muss sein. Sie erkennt nach den dreißig Jahren auf dem Berg da unten nichts mehr. Fremd wird sie sein unter Fremden und der alte Soldat, ihr tapferer Retter, sich nur kurz seines Glückes erfreuen“, grinste sie hämisch, befahl die Brücke hochzuziehen und das riesige Tor fest zu verschließen. In ihrer Aufregung vergaß sie, Hans für sein Vergehen zu bestrafen. Um dem drohenden Gewitter der aufgebrachten Fee zu entgehen, bezog er sofort den Posten hoch oben auf den Zinnen und hoffte, mit einem blauen Auge davonzukommen.
Willem Grannas Griff um die Hand der Prinzessin wurde fester, als sie endlich Tuch und Sattel, trotz ihres zaghaften Widerstandes, erreichten. Er schulterte den Tornister, hob sie vor sich auf den Sattel, ergriff die Zügel, zog kräftig an ihnen, bis er sich langsam mit doppelter Last in die Luft erhob. Und wirklich, er war nach der kurzen Erholungspause wieder ganz der alte geworden, reagierte selbst auf den leichtesten Schenkeldruck. Dass die Prinzessin mit auf ihm saß, schien ihm nichts auszumachen. Erst stieg der Wundersattel einige Meter nach oben, dann senkte er sich in rasender Fahrt nach unten. Schon bald hatten er den Fuß des Glasberges erreicht und landete hart im hohen Gras.
„Wisst Ihr vielleicht, Prinzessin, was das vor uns für seltsame Schienen sind?“ Wunderte sich Granna, als er sich aufgerappelt hatte.
„Nein, Herr Soldat.“ Sie senkte den Blick verlegen zu Boden. „Nein, zu meiner Zeit gab es die noch nicht.“
Sie brauchten nicht lange zu warten, alles klärte sich von selbst, als ein seltsames Schiff auf vier Rädern unter geblähten Segeln in rasender Fahrt auf den hölzernen Gleisen auf sie zuhielt, vom eisernen Anker gebremst, direkt am Ende der Schienen kurz vor dem gewaltigen Prellbock zum Stehen kam.
Vor Jahren hatte der greise König wegen seiner immer schneller schwindenden Gesundheit die Gleise vom Südtor der Stadt bis zum Fuß des Glasberges verlegen lassen. Einen Ritt hoch zu Ross war ihm schon lange nicht mehr zu zumuten. Eine neue Straße für die bequemere Kutsche zu bauen, gaben die maroden Staatsfinanzen nicht her, erklärte ihm der Kämmerer, der viel zu lange die alleinige Macht im Reich in Händen hielt. Darum verfielen in ihrer Not die königlichen Handwerker, als einzige vertretbare und finanzierbare Lösung, auf die hölzernen Gleise und das vierrädrige Segelboot. Wenn der Wind günstig stand, bestieg der König mit den Männern des Hofstaats das Schiff und rollte auf den Schienen zum Glasberg, in der Hoffnung, dass endlich ein tapferer Ritter sein geliebtes Töchterlein aus den Fängen der bösen Fee befreit hätte. Doch bis heute wurde er immer enttäuscht. Noch keinem Mann war es, trotz der langen Zeit, gelungen, den Glasberg zu ersteigen, den Bann zu brechen, ihn vom Gram zu erlösen. Umso überraschter war er, als er die Prinzessin unverändert, um keinen Tag gealtert, wie in seinen Erinnerungen, an der Seite des alten Soldaten am Ende der Gleise vor dem glänzenden Glasberg stehen sah. Trotz seiner Gebrechen, entstieg er hurtig dem Schiff, eilte auf seine Tochter zu, schloss sie unter Freudentränen in die Arme, dass ihr der Atem stockte. „Seht alle her!“, rief er mit zitternder Stimme. „Ein Wunder ist geschehen, mir wurde meine geliebte Tochter zurückgebracht. Seht doch nur, seht alle her, sie hat sich nicht verändert, ist immer noch jung und wunderschön. Wenn das doch nur ihre viel zu früh verstorbene Mutter hätte erleben dürfen!“, brachte er unter Tränen hervor, schloss die Prinzessin fest in die Arme, die nicht wusste, wie ihr geschah, was der alte Mann, den sie nicht kannte, von ihr wollte.
Der König, der das Fremde zwischen ihnen kaum ertragen konnte, wendete sich resigniert an Granna. „Ihr, ein einfacher Soldat“, das abschätzige Lächeln um seinen Mund währte nur kurz. „Ihr also, seid der tapfere Retter der Prinzessin. Habt Unseren Dank. Doch jetzt wollen wir keine Zeit verlieren“, winkte er ab. „Der Wind hat sich gedreht. Alle hinein in das Boot und nichts wie zurück in die Stadt. Heute ist ein Festtag! Befehle ich. Für alle im Schloss und im ganzen Land.“