Читать книгу Theater! Ende! Vorhang! - Wilfred Gerber - Страница 7
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ОглавлениеDer König, die Prinzessin, Josef und die Männer des Hofstaats stiegen ins Schiff. Der Anker war gelichtet, das Segel gesetzt, es machte einen gewaltigen Satz rückwärts und ratterte auf den hölzernen Schienen in rasender Fahrt zum Südtor.
Der Freude in der Stadt und im Schloss war groß, als der König unter lautem Trompetenschallen die Prinzessin heimführte. Auch für Granna mischten sich einige wenige Lobpreisungen unter die Jubeltöne.
„Freu dich bloß nicht zu früh“, zeterten Josefs Gedanken in Willem Grannas. „Wenn du wüsstest, was ich weiß, würdest du mit Sattel und Tischtuch so schnell du kannst von hier verschwinden.“
„Sei endlich still, du alte Unke!“, befahl Granna. „Alles läuft doch bestens. Wenn es darauf ankommt, werde ich mich schon meiner Haut zu wehren wissen.“
Beleidigt verstummten die Gedanken des alten Soldaten. Granna konzentrierte sich augenblicklich auf seine eigenen, das Spiel aber hatte noch kein Ende.
Der König führte die Prinzessin still hinaus. Granna war allein im riesigen, kalten Festsaal, und schlimmste Befürchtungen stürmten auf ihn ein. Was soll mir geschehen? Ich habe den Sattel und das Tischtuch. Mehr brauche ich nicht zu meinem Glück, alles andere ist Zugabe. Trotzdem fragte er sich, als ihn eine unbestimmte Furcht beschlich. Warum hat mich der Kämmerer vorhin so seltsam angesehen? Was hat er vor? Will er mir ans Leder? Zu zutrauen wäre es ihm allemal.
„Josef, komm raus! Wir müssen sprechen, ehe uns Schlimmes trifft.“ Doch der alte Soldat blieb stumm, versteckte sich vor Grannas Gedanken.
Der Vorsteher der königlichen Pagen riss ihn aus den düsteren Grübeleien. „Der Herr Kämmerer“, sagte er verlegen. „Er hat mich angewiesen, Euch, Herr Soldat, in Euer Zimmer zu führen. Dort sollt Ihr warten, bis der Kämmerer Euch aufsucht. Sattel und Tornister lasst hier stehen. Alles wird später auf Euer Zimmer gebracht.“ Wortlos folgte ihm Granna, wunderte sich nur, dass der Vorsteher die Zimmertür von außen zwei Mal abschloss. Müde legte er sich auf das Bett. Die Furcht blieb, die Gedanken rasten, drehten sich im Kreis. Als er auf die Zimmerdecke starrte, schleuderte der Schlaf ihn nach kurzer Zeit in einen wirren Traum, der den Willem Granna in Josefs Kopf zu verschlingen drohte.
Er schreckte mit unguten Ahnungen hoch. Die Tür wurde schnell geöffnet. Der Kämmerer, zwei säbelbewaffneten Wachen an seiner Seite, forderte ihn auf, aufzustehen und ihm zu folgen. Sie führten ihn vor den König, der gelangweilt auf dem vergoldeten Thron im Festsaal saß und wartete. Die Prinzessin hatte sich, trotz seiner verzweifelten Bitte, geweigert, ihn zu begleiten.
Im Saal waren schwerbewaffnete Wachen aufmarschiert. Als sie ihm die Hände fesselte, sagte der König mit versteinertem Gesicht. „Soldat, gegen dich ist Klage erhoben worden.“ Seine Augen blitzten kalt. „Du wirst beschuldigt, heute Morgen im Tannenwald dem Bauern Marius heimtückisch seinen Sattel geraubt zu haben. Zehn Zeugen meldeten sich beim Kämmerer und Obersten Richter des Reiches. Sie schworen unter Eid, dass sich der Sattel, der bei dir gefunden wurde, seit vielen Generationen im Besitz der Familie des Marius´ befand. Die Beweislage ist eindeutig, überführt dich des Raubes. Der neue Sachverhalt enthebt mich des Versprechens, dir meine Tochter und das halbe Königreich zu überlassen. Sei still! Kein Wort mehr! Schamloses Stück Mensch!“ „Wachen! Führt den Schuft ab! Sperrt ihn ins tiefste Verließ meines Schlosses! Bereuen soll er seine Taten! Bei Wasser und Brot!“
„Du alter, unbelehrbarer Trottel!“, meldeten sich in der finsteren, kalten Zelle des Turmes die Gedanken des alten Soldaten Josef. „Du wolltest ja nicht hören, hast meinen Rat in den Wind geschlagen. Jetzt hat sich dein sehnlichster Wunsch, ein Dach über dem Kopf zu haben, auf die Art erfüllt.“ Danach verstummten die Gedanken Josefs für lange Zeit.
Der Vorhang fiel. Die Stille und die bleierne Dunkelheit drohten ihn zu überwältigen. Ich habe getötet, gelogen, betrogen, Freunde verraten! Willem Granna und der alte Soldat Josef waren durch die gemeinsame Schuld endgültig verbunden, nur sie hatte Bestand, Granna sich aus Verzweiflung entschlossen, für die Taten zu büßen, das Schicksal zu wenden und Josef vom Fluch zu erlösen.
„Herr Granna, Herr Granna!“, rief der Pförtner des Marionettentheaters. Willem Granna und er hatten schon oft nach dem Ende der Vorstellungen freundliche Worte miteinander gewechselt. Dadurch war zwischen ihnen eine gewisse Vertrautheit entstanden, die es dem Pförtner jetzt erlaubte, Granna leicht an der Schulter zu berühren. Doch er reagierte nicht. Die weit geöffneten Augen starrten ausdruckslos, als hätte der Tod sie längst gebrochen, auf den geschlossenen Vorhang der Bühne. Der Körper war ohne Regung. Nichts ließ darauf schließen, dass er den Pförtner verstand.
Wieder zog Granna die unbekannte Kraft körperlos durch den Raum. Er schwebte unerbittlich zurück zu den anderen Puppen. Als die Füße den Boden der Bühne berührten, zitterten die Knie. Der gewaltige Sturm schlug die Wipfel der Tannen gegeneinander, dass die Stämme mit lautem Knall brachen. Trotz seiner starren, leblosen Augen, begann das Spiel aufs Neue.
Der besorgte Pförtner wusste sich keinen anderen Rat, als aus der Loge im Foyer durch das Telefon den Rettungswagen zu rufen.
Um Granna war tiefe Finsternis, er hier unten nicht allein, spürte die anderen, konnte aber ihr Wesen nicht erfassen. Sie versteckten sich hinter dem lichten, undurchdringlichen Schleier am äußeren Rand. Die kühle Hand legte sich auf seine heiße Stirn. „Nun stellen Sie sich nicht so an. Wir wissen, dass Sie da sind!“ Kalt dröhnte die Stimme im Kopf.
Er wollte sich ihr entziehen, doch wie er sich auch mühte, er schaffte es nicht. Irgendetwas hielt ihn fest, erlaubte keine Bewegung.
„Das wird Sie nicht retten. Wir können nicht länger warten. Sie haben es doch schon einmal mit Erfolg hinter sich gebracht!“ Die Stimme klang, als käme sie aus der Nähe, nicht wie die andere, die erst den weiten Raum zu queren hatte.
Was habe ich getan? Was sagen die Fremden? Er wollte die Augen öffnen, sich aufrichten, doch der Körper missachtete alle Befehle der hitzigen Gedanken.
Die Schritte entfernten sich. Wieder herrschte die unheimliche Stille, riss die Gedanken an sich, nahm ihnen die Kraft, dass sie in der Zeit den Sinn verloren. Das entsetzliche, gequälte Stöhnen erreichte ihn, riss eine Gasse auf.
Schluss! Ich bin allein. Da ist kein Mensch am Leiden? Er horchte angestrengt, wieder war nur Stille. Was haben Sie mit mir gemacht? Er wollte brüllen, doch kein Laut entstand. Reglos lag er auf dem Rücken, bis alle Zeit in einem Augenblick verharrte, und nur der Widerhall des Nichts Bewegung ahnen ließ. Sie schritt nicht vor, lief nicht zurück, war einfach da und ruhte, wie er im dunklen Raum.
Entgegen der vielen Beteuerungen, davon abzulassen, hatte Granna das Dichten nie aufgegeben, weil die Worte beständig zu ihm kamen. Doch wunderte ihn, dass sie es auch in dieser schlechten Zeit taten, trotz der brüchigen Gedanken, sich seltsam schön aneinander reihten, durch Berührung Rhythmus und Melodie erschufen. Bewegung verlor sich in der Zeit. Der strahlend weiße, unnahbare Punkt am nahen Rand des Raums beherrschte nur durch sanfte Ruhe die grenzenlose Weite, dehnte sich, bis auch das letzte Licht verschwand. Langsam, ganz langsam änderten sich die wirren Gedankenfetzen, wurden harmonischer, versuchten, der eigenen, verschollen geglaubten Logik zu folgen, die die unfassbare Angst vertrieb, sich diffuse Erinnerungen einstellten, die ihm aber keine Gründe für das Vergangene offenbarten. Nur Kafkas „Prozess„ und „Die Verwandlung„ jagten als gesplitterte Bilder durch seinen Kopf. Den Anschuldigungen stand er vor langer Zeit schon einmal gegenüber, musste kämpfen, sich der lähmenden Ohnmacht erwehren, um die Verzweiflung zu vertreiben. Auch heute war es so, doch Konkretes blieb im Nebel. Krampfhaft suchte er. Dumpfe, vage Gefühle, ohne Bezug zu Raum und Zeit, stellten sich ein. Schuld, große Schuld drückte ihn. Die Gedanken begannen hilflos den chaotischen Exodus zu feiern, als der Kopf zu bersten drohte. „Piep, piep, piep.“ Die hohen, rhythmischen Töne verhinderten jede Überlegung, der Wahnsinn machte sich bereit, die Herrschaft anzutreten. „Piep, piep, piep!“ Es wollte nicht aufhören, wurde lauter.
Der Schmerz lähmte ihn. Wirre, abgehackte Splitter irrten durch den Kopf, die er nicht fassen konnte, die aber mit strahlender Kraft den Wahnsinn sofort in die Flucht schlugen. In wilder Hast blitzten sie auf, waren verschwunden, um in jedem der flüchtigen Augenblicke die Form zu wechseln, wurden zum Neuen, das ihn mit Wucht zurück in das grenzenlose Dunkel schleuderte, in dem er weder Körper noch Geist erkannte. Nichts war zu spüren, bis es ihm im starken Augenblick gelang, trotz ihres bleiernen Sträubens, die Lider halb zu öffnen. Das schwache Licht bahnte sich den Weg, gab die Konturen und kräftigsten Farben frei. Was Granna im Halbdunklen sah, die hölzerne, an Händen und Füßen gefesselte Gestalt, in der Uniform des alten Soldaten Josef, willenlos hingestreckt auf der steinernen Pritsche im königlichem Verließ, wollte er nicht wahrhaben, bis ihm bewusst wurde, die irrationale Realität auf dieser Bühne war Wirklichkeit, und er immer weiterspielen musste, um sich aus ihr zu lösen. Doch die Verzweiflung, weil es auf die Frage, warum er auf der Bühne in Josefs Gedanken steckte, keine Antwort gab, drückte ihn schwer.
Mit lautem Knall schlug die Zellentür an die Wand. Der Kämmerer und Oberster Richter des Reiches schritt, gefolgt von zwei der Spezialwachen, über die Schwelle in Grannas und Josefs Kerkerzelle. „Was hast du dir dabei gedacht, Wrack von einem Soldaten, auf die schäbigste Weise aus dem Spiel zu verschwinden? Den Schädel an die Wand trümmern, auch noch mehrfach, kann ich nicht dulden. Selbstmord bleibt Mord und steht unter Strafe. Außerdem haben die da oben, der König und ich zu bestimmen, wer geht und wer nicht. An dir, du schamloser alter Verbrecher, da sei sicher, ist es gewiss nicht!“ Mehr würde der Kämmerer nicht sagen. Für ihn der Fall Marius gegen Josef erledigt, die Strafe schon vor dem Prozess so gut wie verkündet. Dass er in diesem Fall zuständiger Ankläger und Richter, Josef, Soldat, Held und Dieb bis zum Tod im finstersten Kerker des Königs vermodern würde und als Rivale aus der Schusslinie war, machte die Sache umso leichter.
Ich bin doch ein feiner Herr, sagte sich der Kämmerer und war zufrieden. Recht und Gesetz ist ein zu hohes Gut, das nicht in die Hände des aufmüpfigen Pöbels, sondern nur in die des gottgewollten Adels gehört. Doch die beste, eleganteste Lösung fand der König, als er es in meine alleinigen, tatkräftigen Hände legte. Das hämische Grinsen bestürzte Willem Granna. Der Kämmerer war die lebende Gefahr, die ihn vernichten, als ewigen Verlierer, als Sündenbock im immer neuen Spiel halten, und jedes falsche, unbedachte Wort seinen Untergang bedeuten würde. „Herr Kämmerer“, hörte er sich flehen. „Versteht mich doch. Ich sah keinen anderen Ausweg, als mich selbst zu richten. Nur der schnelle Tod, dachte ich, brächte Erlösung. Verzeiht mein törichtes Verhalten. Ich war nicht bei Sinnen, Euer Hochwohlgeboren.“
„Bei Sinnen hin oder her. Der Weg stand dir nicht zu, auch weil du eigentlich hier bei uns nichts zu suchen hast. Bisher war es immer der Bauernbursche Marius, der die Prinzessin in jedem neuen Spiel erlöste, mit grenzenloser Einfalt über dem halben Königreich stand und mir nicht in die Quere kam. Dein unerwartetes Erscheinen hat alles durcheinander gebracht und meine unbegrenzte Macht im Reich gefährdet. Die maßlose Trauer des alten Königs ließ mir bisher freie Hand über das Herrschen und die Finanzen. Daran änderte sich auch nichts, wenn Marius die Prinzessin in jedem neuen Spiel aus der Hand der Fee befreite, in Liebe zu ihr entbrannte und sich einbildete, über das halbe Reich zu herrschen. Auch dann ließ der König mich alleine machen, war vollauf zufrieden, sich zu freuen, dass die Macht in meinen Händen blieb. Erst als die da oben dich ins Spiel brachten, kam es zu Veränderungen, denen ich mich aber mit aller Kraft entgegenstelle, und auch du, Soldat, wirst daran nichts ändern. Was haben sie sich nur gedacht, dich ins Spiel zu bringen? War ihnen langweilig, dass sie alles durcheinanderwirbeln mussten und jetzt selbst nicht mehr wissen, wohin das noch führen soll. Glaub mir, Soldat, auch wenn der König beschlossen hat, über dich Gericht zu halten, das Verließ bleibt dein Schicksal, dein Weg, was du auch anstellst, führt dich immer hierher zurück.“
„Herr Kämmerer“, jammerte Granna, nichts mehr war an ihm vom großen Helden und tapferen Retter zu erkennen. „Herr Kämmerer, was habe ich Euch nur getan, dass Ihr mir so zürnt?“
„Bisher nichts, alter Mann“, lachte er. „Doch ließe ich dich als halber König gewähren, würdest du keine Ruhe geben, dich nicht fügen, in alles einmischen und mir zur Gefahr werden. Das aber, wie du sicher verstehst, Soldat, kann ich nicht dulden, und so kam mir die Klage des Marius´ nur allzu recht.“
„Aber Herr Kämmerer“, flehte Granna. „Ich wollte den Sattel gar nicht rauben, nur ausborgen, bis ich die Prinzessin erlöst hätte, ihn danach dem Marius zurückgeben. Glaubt mir doch!“, wimmerte er. „Wenn Ihr mich freilasst, verspreche ich Euch bei meiner Soldatenehre, gehe ich meiner Wege, und Ihr seht mich nie wieder. Habt ein Herz mit mir alten, in Ehren entlassenen Soldaten, der selbst nicht wusste, wie ihm geschah.“
„Du alter vertrottelter Narr!“, dröhnte Josef in Grannas Gedanken. „Du hättest auf mich hören, als noch Zeit war, und dich mit dem Sattel und dem Tischtuch aus dem Staube machen sollen. Niemals wird der Kämmerer dich ziehen lassen, sondern dir, neben dem Raub des Sattels, nur noch mehr anhängen. Er hat bei meiner ehemaligen Kompanie Erkundigungen eingezogen. Sei gewiss, ich habe genug Schuld auf meine Schultern geladen, die ausreicht, im dunklen, stinkigen Loch zu vermodern. Ich hätte dich nie machen lassen dürfen, doch jetzt kommt jede Reue zu spät. Nur ein Wunder kann uns noch retten.“