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2 Hysterie in Historie und Gegenwart – Woher kommen Verschwörungsmythen?

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In diesem Kapitel wird die historische Genese von Verschwörungsmythen anhand ausgewählter Beispiele dargestellt. Damit soll verdeutlicht werden, dass Verschwörungsglauben kein neues Phänomen ist. Vielmehr sind die Ausprägungen einzelner Narrative vor dem Hintergrund der medialen Entwicklung adaptions- und evolutionsfähig.

Verschwörungsmythen lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die frühesten Überlieferungen beziehen sich meist auf kleinere Religionsgemeinschaften, die sich in Opposition zur Mehrheitsgesellschaft befanden. Gut dokumentierte Beispiele lassen sich unter anderem im Zuge der Christenverfolgung im römischen Kaiserreich beobachten. Das bekannteste Beispiel ist die angebliche Brandschatzung Roms durch Christen (64 n. Chr.), bei der Kaiser Nero der Erzählung nach absichtlich ein Feuer gelegt haben soll, um die Stadt neu aufzubauen und aus dieser Macht heraus das Christentum zu verbieten bzw. Christen zu verfolgen und umbringen zu lassen (Barrett, 2020).

Ein ähnliches Muster zeigt sich bei antisemitischen Verschwörungsmythen bereits im frühen Mittelalter. Der Antisemitismus ist für sich genommen ein Phänomen, dem hier in seiner historischen Bedeutung kaum Rechnung getragen werden kann. Diese Verschwörungsmythen sind die wohl schlimmsten und langlebigsten. Die Bandbreite antisemitischer Verschwörungsmotive, die sich bis heute gehalten haben, ist äußerst divers und taucht in verschiedensten Kontexten immer wieder auf. Häufig stehen sie in direkter Verbindung zu Pogromen und zur systematischen Diskriminierung jüdischer Minderheiten. Dies gilt sowohl für das Motiv des Juden als »Brunnenvergifter«, welches unter anderem in Pest-Narrativen Verwendung fand, welche »die Juden« für Seuchenausbrüche verantwortlich machten, als auch für Verschwörungserzählungen über »Kindsmord« in Bezug auf das jüdische Opferfest (Wetzel, 2012). Die Vorstellung, in jüdischen Gemeinden würden christliche Kinder geopfert, regelmäßig verbunden mit Ritualmord-Motiven und der Vorstellung, dass Kinderblut getrunken würde, findet sich in über die Jahrhunderte permanent wieder – sowohl in der mittelalterlichen Ursprungsvariante, im Zuge verschiedener Pogrome bis in die Neuzeit, in der nationalsozialistischen Hetze gegen Deutsche jüdischen Glaubens als auch in der QAnon-Verschwörung (Amarasingam & Argentino, 2020). In der jeweiligen Variante sind die »Kindsmorde« ein Begleitmotiv, welches die sinistren, in vielen Fällen im Wortsinn teuflischen Bestrebungen der angeblichen Verschwörergruppe deutlich machen sollen. In Verbindung steht dies in der Regel mit einem Hauptmotiv, etwa dem Betreiben »dunkler Magie«, um Ernteausfälle zu erzeugen und die Position jüdischer Händler zu verbessern (Rohrbacher & Schmidt, 1991).

Eine wichtige Phase in der Verbreitung und vor allem politischen Bedeutung von Verschwörungserzählungen waren die Amerikanische und unmittelbar folgend die Französische Revolution. Die damit einhergehenden Veränderungen wiesen zwei Ansatzpunkte für diverse Verschwörungserzählungen auf. Zum einen die Veränderungen der politischen Machtstrukturen und der Umbruch der gesellschaftlichen Ideenlandschaft: Die Vorstellung von grundlegenden Freiheiten für die große Mehrheit gegenüber Klerus und Adel stellt das gesamte gesellschaftliche Gefüge in Frage. Hinzu kommt das bereits im vorrevolutionären Umfeld entstandene Klima der geheimen Salons und konspirativen Gesellschaften, das von absolutistischer Zensur und omnipräsenter Geheimpolizei geprägt war. Sowohl die moderne Variante der Freimaurer als auch die der Illuminatenorden sind in akademischen Kreisen meist aufklärerischer und revolutionärer Bürgerhäuser entstanden (Cubitt, 2006). Insbesondere von konservativer Seite wurde revolutionären Umtrieben ein konspiratives Wirken zugeschrieben, was von der Angst zeugt, die die oberen Schichten erfasst hatte. Die Geheimgesellschaften, die sich großer Beliebtheit in bürgerlichen Kreisen erfreuten, wurden zu Fixpunkten einer Vielzahl von Verschwörungserzählungen (Cubitt, 2006).

Im 19. Jahrhundert formten sich derartige Verbindungen neu oder reformierten sich nach historischen oder fiktiven Vorbildern. Ihre inhaltliche Ausrichtung reichte von pseudoantikem Obskurismus (Mischung früher wissenschaftlicher Erkenntnisse über Phänomene wie Elektrizität, Magnetismus, Biologie mit Astrologie, okkulten Geheimlehren, Formen des Spiritismus) bis hin zu konkreten politischen und religiösen Ideologien. Nach heutigem Wissensstand hatte keine dieser Organisationen einen maßgeblichen Einfluss auf politische Ereignisse und Revolutionen. Natürlich gab es zahlreiche wichtige Persönlichkeiten wie etwa George Washington, die Mitglieder in solchen Organisationen waren (in seinem Fall die der Freimaurer) und deren Handlungen Auswirkungen auf das historische Geschehen hatten. Jedoch gab und gibt es bis heute keinerlei Hinweise darauf, dass ihre Handlungen maßgeblich von diesen Organisationen beeinflusst worden wären. Dennoch erwies sich diese Zeit als prägend für viele bis heute fortgesetzte Verschwörungsmythen, z. B. auf das vermutete Wirken der Illuminaten und Freimaurer, die in diesen Narrativen zu Epochen übergreifenden Mächten verklärt wurden (Frenschkowski, 2007).

Verschwörungsmythen sind historisch gesehen keine bloßen skurrilen Beiprodukte historischer Umbrüche, sondern wesentlicher Bestandteil politischer Diskurse und Ideologien. Im Zuge des im Europa des 20. Jahrhunderts erstarkenden militanten Nationalismus finden sich viele aus Verschwörungsmythen abgeleitete Narrative über das Untergraben nationaler Größen durch eine Gruppe von Verschwörer:innen (Juden, Bolschewisten/Kommunisten/Marxisten, Sozialdemokraten). Gerade in der deutschen Geschichte haben sich Verschwörungsmythen als im negativsten Sinne treibende Kräfte und zentrale Bestandteile, insbesondere der nationalsozialistischen Ideologie, erwiesen (Wippermann, 2007).

Eine der wirkmächtigsten Verschwörungserzählungen ist die der sogenannten »Dolchstoßlegende«: Die Vorstellung, die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die anschließende wirtschaftliche Katastrophe wären nicht auf politisches und militärisches Versagen und eine Mischung aus nationalistischem Größenwahn bei gleichzeitiger Inkompetenz zurückzuführen, sondern auf das Untergraben der Kriegsbemühungen durch »die Juden« und »die Sozialdemokraten«. Eben jener Verschwörungsmythos einer »Jüdischen Weltverschwörung«, der mit dem Aufkommen der kommunistischen Bewegung und der bolschewistischen Oktoberrevolution mit dem »Gespenst des Kommunismus« vermengt wurde, stellte im NS-Regime die Rechtfertigungsschablone für den Holocaust dar (Neitzel, 2008).

Keine der zu diesem Zeitpunkt präsenten Verschwörungserzählungen war im eigentlichen Sinne neu, sondern es waren Iterationen bekannter Motive in Adaption zu neuen politischen Entwicklungen. Diese Entwicklungen brachen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keinesfalls ab. Im Klima des Kalten Krieges entsponnen sich Verschwörungserzählungen sowohl in den USA als auch in der Sowjetunion bezüglich der Unterwanderung durch Verschwörergruppen (Hecht, 2003). Die konkrete Ausrichtung der Narrative ist stets vom kulturellen Hintergrund abhängig, in dem sie erstmals aufkommen. In den 1980er-Jahren breitete sich z. B. in den USA die sogenannte »Satanic Panic« aus. Der Begriff ist ein Sammelterm für verschiedene Narrative, die satanistische Geheimbünde sowohl hinter einer Reihe angeblicher (Kinds-)Ritualmorde als auch diverser progressiver politischer Entwicklungen sahen und die im Widerspruch zu den extrem konservativen Ansichten einer durch evangelikale Moralvorstellungen geprägten Gesellschaft standen (Frankfurter, 2003).

Verschwörungsmythen sind ambivalenter Natur: Zum einen gibt es Konstanten, wie etwa die antisemitischen Motive von »Kindsmorden«, »Jüdischen Eliten« und ähnliche Sprachbilder, die sich in verschiedenen Epochen wiederfinden lassen. Zum anderen sind diese Konstanten jedoch kulturell und politisch adaptionsfähig. Besonders deutlich wird dies am erwähnten Beispiel der »Jüdisch-bolschewistischen Verschwörung«. Hierbei wurde das ältere Narrativ des »Jüdischen Großkapitalisten/Arztes/Intellektuellen« bzw. der »Jüdischen Elite« mit dem Aufkommen des antikapitalistischen Kommunismus verbunden. Selbst innerhalb der Logik dieser Narrative ergibt eine konspirative Erzeugung einer antikapitalistischen Bewegung durch eine angebliche kapitalistische Elite keinen Sinn. Dennoch konnten auf diese Weise alte Feindbilder um neue Komponenten erweitert werden. Verschwörungsmythen sind also – jenseits der Grenzen jeder internen Logik oder Kontinuität – gesellschaftlich evolutionsfähig (Neitzel, 2008). Dessen ungeachtet sind Verschwörungsmythen immer auch historische Konstanten. Die Zahl der an sie angelehnten Narrative variiert jedoch stark. Je mehr Veränderungen und Umbrüche eine Gesellschaft erfährt, desto verbreiteter sind Verschwörungserzählungen. Revolutionen, (Bürger-)Kriege, Wirtschaftskrisen, Seuchenausbrüche und ähnliche Ereignisse werden häufig zu inhaltlichen Fixpunkten für das (erneute) Auftreten von Verschwörungserzählungen (van Prooijen & Douglas, 2017).

Auch im 21. Jahrhundert bedienen sich viele neue Narrative alter Motive und viele Verschwörungserzählungen haben sich inzwischen gewissermaßen als »Klassiker« etabliert. Eine Übersicht hierzu befindet sich im Anhang dieses Buches.

Eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung von Verschwörungsmythen spielen die zur Verfügung stehenden Medien, welche als Verbreitungsvektoren die mögliche Reichweite von Verschwörungserzählungen maßgeblich beeinflussen. Erfindungen wie der Buchdruck, das Radio oder das Internet zogen enorme mediale Reichweitenvergrößerungen nach sich, die die Verbreitung von Informationen und Narrativen massiv beschleunigten. Zudem standen und stehen sie meist in Verbindung mit einem Monopolbruch, also der Aushebelung einer vorhandenen medialen Verbreitungsstruktur mit klar definierten Einflussgebern. Je zugänglicher ein Medium ist, desto einfacher ist auch die Verbreitung und umso mehr narrative »Mutationsmöglichkeiten« bestehen (Craft et al., 2017). Gerade mit dem Beginn des digitalen Zeitalters haben sich die Möglichkeiten der Verbreitung von Verschwörungserzählungen um ein Vielfaches erhöht. Der nachfolgende Zeitstrahl setzt Beispiele von Verschwörungserzählungen in direkten Kontext mit der jeweiligen Medienentwicklung ( Abb. 5).

Basiswissen Verschwörungsmythen

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