Читать книгу Wetterleuchten über dem Schwarzwald - Wilhelm Ernst Asbeck - Страница 7
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ОглавлениеMehr als drei Jahre sind seit jenem 30. Mai 1777 vergangen. Ein frischer, fröhlicher Bub ist der Adam geworden, den jeder gern hat. Auch der Andres tut allzeit schön mit ihm, aber da ist einer, der traut dem Frieden nicht: der Berghofbauer. Spiegelt sich ihm doch in seinem Jüngsten sein eigenes Leben wieder. Der Wendel spielte auch immer den besorgten Bruder, wenn andere Leute zugegen waren, heimlich aber bekam der Xaver manchen Stoss und wurde geärgert und gehänselt. Wie war er froh, als der Grosse zum Mäntelemaurer ging und aus dem Hause kam! Er hat es ihm nicht nachgetragen, verstand er doch später den Beweggrund seines Handelns — aber er ist voller Argwohn gegen den Andres! Eine schlimme Tat traut er ihm allerdings nicht zu, doch auch kleiner Schabernack kann das Dasein vergällen. Seinen Adam möchte er davor schützen. Mehr als einmal fragte er den Älteren, ob er nicht ein Handwerk erlernen wolle. Der scheint sich vom Hof nicht trennen zu können. Xaver versteht auch das, ist er doch selbst Bauer und auf der Scholle aufgewachsen. Ganz heimlich fühlt er sich in der Schuld des Jungen, hat Mitleid mit ihm. Aber es weiss niemand darum, und es geht auch keinen etwas an.
Der Bauer stapft mit wuchtigen Schritten über den Hof. Seine grosse Gestalt, die kraftvolle Stimme und seine herrische Art verschaffen ihm überall Respekt. Rotgebrannt von der Sonne ist sein bärbeissiges Gesicht, in dem kluge, helle Augen stehen. Nase und Mund haben eine ausgeprägte Form. Volles braunes Haar schliesst die ziemlich breite Stirn ab. Die derben Hände stecken in den Taschen der Joppe.
Er ruft nach dem Andres. Zum Leo soll er gehen. Ist Wochenend’, da schickt der Berghofbauer ihm allerlei schöne Dinge aus Feld und Garten; Fleisch zu einem Braten, und die Mutter packt ein selbstgebackenes Brot bei und feines Sonntagsgebäck obendrein. Der Leo soll wissen: morgen ist Feiertag und die Eltern denken an dich!
Klein Adam gibt keine Ruh. Er will mit laufen! Beim Bruder Leo bekommt er alleweil viele seltsame Dinge zu sehen. Er ist immer lieb zu ihm, kann schöne Geschichten erzählen, spielt mit ihm, und oft hat er ein kleines Geschenk für ihn. Der alte Meister Grieshaber und Vrenili, sein zartes Frauchen, tun ebenfalls alles, um ihn zu erfreuen.
Nun gegen der Andres und der Adam fort. Es ist ein weiter Weg. Aber schön ist er, denn sie wählen nicht die staubige Talstrasse, sondern wandern den schmalen Saumpfad entlang, der über bewaldete Höhenzüge führt. Bald schon sind sie im nahen Forst verschwunden. Der Grosse trägt in jeder Hand einen schweren Korb. Er ist fast 21 Jahre alt geworden, kerngesund und kräftig; der Kleine ist schmächtig und von blasser Hautfarbe. Sein freundliches Lächeln, das der Grosse zur Schau trägt, ist wie weggewischt, sobald er den Blicken der Alten entschwindet. Dann tritt auf seine Stirn die steile Falte, die das Gesinde bei seinem Vater fürchtet. Vor ihm her springt der Bub. Was für eine Zierpuppe er ist! Siegt so ein Bauer aus? Nein! Er, der Andres, mit seinen Riesenkräften wäre der Rechte gewesen, den Hof zu bewirtschaften! Ja, wenn — ach, er will nicht daran denken. Aber hartnäckig kehren die Gedanken wieder und umlauern ihn wie Wölfe. Hatte er nicht heimlich gehofft, der Adam würde daraufgehen, als er vor Jahresfrist schwer an Lungenentzündung darniederlag? Er selbst sollte zum alten Stegerer nach Vöhrenbach laufen. O, er hat sich kein Bein ausgerissen und — war es nicht ein Hohn? — er betete, der Doktor möge nicht zu Hause sein. Aber er war zu Hause und kam noch eben zur rechten Zeit.
Wie ein fressendes Gift nistet sich der Hass in seinem Herzen ein und raubt ihm Ruhe und Frieden. Warum ist er nicht längst gegangen? Er kann sich nicht losreissen. Immer noch wartet er auf die Fügung des Schicksals, die ihm zu seinem vermeintlichen Recht verhilft. Zeit und Stunde hat er über die Grübeleien vergessen. Er schlägt die Augen auf. Hart am Bergrand führt jetzt der Pfad entlang. Steil fällt die Felswand in die Tiefe. Unten liegen Steinblöcke und Geröll. Auch das Becken der Breg ist damit angefüllt, so dass der Fluss an dieser Stelle wie ein Wildbach dahinbraust. Wer da hinunterstürzt, wird sich nie wieder erheben. Sträucher mit grossen roten Himbeeren bedecken die Bergkuppe, ihre Zweige schweben zwischen Himmel und Erde.
Wo ist Adam? Vor Schreck stockt dem Träumer der Herzschlag. Einem inneren Befehl gehorchend, stellt er die Last zu Boden. Dicht am Rande steht der Kleine und pflückt arglos die süssen Früchte. Er achtet nicht der drohenden Gefahr. Ein einziger Schritt genügt, und es ist um ihn geschehen. Schon will Andres hinstürzen und den Ahnungslosen zurückreissen. Da kommt ihm ein teuflischer Gedanke: das ist der Wink des Schicksals! Weit und breit ist niemand zu sehen. Ein Unglücksfall! Kein Mensch ist Zeuge. Reichtum und Besitz sind dein!
Langsam, Schritt um Schritt, nähert er sich dem Bruder. Jetzt steht er hinter ihm. Fast unbewusst streckt er den Arm aus. In der nächsten Sekunde wäre es geschehen. Da gellt ihm ein Schrei in die Ohren: „Andres! Greif zu!“ Und er packt den Kleinen, als ihm der abschüssige Boden unter den Füssen wegsackt und Erde und Gestein zu Tal stürzen. Er hält ihn, der schon in den Abgrund zu versinken droht, und reisst ihn zurück.
„Bist ein braver Bub! Das hast du gut gemacht! Werde es deinen Eltern erzählen!“
Adam sieht sich erstaunt um. Er versteht nicht, was geschehen ist. Er fühlt nur, einer grossen Gefahr entronnen zu sein.
„Bist ja kreideweiss, Andres. Komm, setz dich! Die Beine versagen dir schier den Dienst.“
Liebkosend streicht der Mann durch das volle Haar des Jünglings. Andres zittert am ganzen Körper. Er wagt nicht, die Augen aufzuschlagen. Vor ihm steht eine lange, hagere Gestalt mit einem gutherzigen Gesicht. Auf dem Rücken trägt sie eine hohe Kiepe. Es ist der Bürstenkarle, der seine Ware von Ort zu Ort, von Hof zu Hof feilbietet. Auf der Taufe des Adam hat er die Fiedel gespielt.
Andres schämt sich bis in den Herzensgrund hinein. Um ein Haar wäre er zum Brudermörder geworden, und jetzt wird er von dem Arglosen für seine Schlechtigkeit obendrein belobt. „Schweig darüber, Karle, Vater und Mutter geht die Sache nichts an!“
„Doch! Hören sollen sie, wie du dein Leben dran gesetzt hast, das Brüderchen zu retten!“
„Ich will’s nicht, dass du’s sagst! Warum sie in Angst und Schrecken versetzen! Ist ja alles gut —, ja, nun ist alles gut.“
Der Bürstenkarle denkt: wie sonderbar der Junge spricht, wie unruhig seine Augen flackern. Es wird der ausgestandene Schrecken sein. Dann sagt er: „Ich muss nun fort. Gib gut acht auf den Kleinen!“, und er geht bedächtig davon.
„Sei unbesorgt, ich werd’ gut acht geben!“ ruft ihm der Andres nach, und die Stimme klingt, als werde sie aus tiefster Angst und Reue hervorgestossen. Ganz still sitzt der Bursch. Die Hände hält er ineinander verkrampft, Tränen rollen ihm über die Wangen.
„Andres, was hast du?“ fragt Adam mit heller Kinderstimme und streicht ihm übers Gesicht. Andres stösst den Bruder entsetzt zurück, reisst ihn aber im nächsten Augenblick an sich und liebkost ihn, wie er es nie getan hat. Dabei stösst er unverständliche, abgebrochene Worte hervor. „Ein Lump bin ich!“ Das hat der Kleine verstanden. Mit seinen drei Jahren weiss er nicht, was ein Lump ist. Doch dass es etwas Hässliches sein muss, begreift er. Sein kleines Herz ist voll von Mitleid. Aber irgendwo in seinem Gedächtnis setzen sich die Worte fest: „Ein Lump ist der Andres“ und bleiben haften fürs ganze Leben.
*
Wohl eine Viertelstunde Wegs von Vöhrenbach, an einen kahlen Hügel gelehnt, steht das altehrwürdige Haus des Uhrmachers Nepomuk Grieshaber. Es schaut anders als die Gebäude im Schwarzwald aus. Die langen, gekuppelten Fensterreihen sind nachträglich eingebaut. Die vielen Scheiben sind dem Lichte zugewandt.
Leo tritt aus dem Haus. Er ist ein schmalgebauter junger Mann mit einem verträumten Gesicht und freundlichen Augen. Er hat dunkles, lockiges Haar und lange Hände. Sein Anzug ist von peinlicher Sauberkeit.
Freudig eilt Leo dem vom Walde heraufkommenden Andres entgegen, um ihn von der Last zu befreien. Das ist aber nicht leicht, denn der Adam hat sich an seinen Hals gehangen, herzt und küsst ihn und will ihn gar nicht wieder loslassen.
An Holzstössen vorbei führt der Pfad. Hektor, der Haushund, springt freudig bellend an den Brüdern hoch. Nun steigen die drei ein paar ausgetretene Steinstufen empor und gehen durch einen engen, dunklen Gang. Der weisshaarige Meister Nepomuk und das zarte Vrenili begrüssen die Gäste. Adam läuft zur Werkstatt, wo es die vielen seltsamen Dinge zu sehen gibt. Strahlend hell ist es hier. Die Lichtflut strömt über die unmittelbar an der Fensterreihe sich hinziehende Werkbank. Ein wirres Kunterbunt zahlloser Uhrteile und Geräte liegt darüber zerstreut. Links ist der Drehstuhl befestigt. Grieshabers Vater und Grossvater haben schon an ihm hantiert. Tiefe Buchten wetzte er im Laufe der Jahrzehnte in das Holz. Von der Decke herab ist ein drehbares Gestell, die Werkzeugdrille, angebracht, all das tragend, was schnell zur Hand sein muss. An den Fensterpfosten hängen Drähte, Ketten, Räder und mancherlei andere Gegenstände, und inmitten dieses Durcheinanders stehen einige Topfpflanzen, deren Blumenpracht etwas Sonntägliches über die nüchternen Dinge des Alltags breitet.
Doch für all das hat der kleine Adam kein Auge. Seine Aufmerksamkeit fesseln die an den Wänden klebenden Uhren, von denen lange Ketten und Bleigewichte herunterhängen. Der Leo zeigt ihm die Wunderwerke und zaubert mit wenigen Griffen ihre verborgenen Geheimnisse zutage. Schau nur, dort auf dem Werkkasten der Wanduhr steht eine Mönchsfigur. Jetzt läutet sie auf einer kleinen Messingglocke die Betstunden. Und nun beginnen die dahinter liegenden sechs Glasglöckchen sich zu bewegen, und es tönt eine zarte Weise durch den Raum. Der Bub kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Nachbaruhr mit dem hübschen, geschnitzten Gehäuse spielt gar ein richtiges Musikstück!
„Was ist denn das?“
„Eine Schnappuhr.“
Auf den lackierten Schild ist ein grimmiger Türkenkopf gemalt, einer jener schlimmen Heiden, die noch vor wenigen Jahren Wien bedrohten und von denen ungeheuerliche Greuelgeschichten erzählt werden. Bei jedem Pendelschlag rollt er die Augen, öffnet den grossen Mund und schnappt zu. Adam drängt sich unwillkürlich schutzsuchend dichter an seinen grossen Bruder heran.
Da gefällt ihm die nächste Uhr schon besser. Ein Knabe sitzt auf einer Schaukel. Hei, wie lustig er auf und nieder schwingt und nie müde dabei wird!
So sind noch mancherlei schnurrige Dinge zu bewundern. Endlich ist der Rundgang beendet. Alle gehen ins Zimmer, wo die Grieshaberin schon den Tisch gedeckt hat. Kuchen und Ziegenmilch sind zu Ehren der Gäste aufgetragen, doch Andres gibt keine Ruh’, er muss nach Vöhrenbach hinein, hat dort etwas Eiliges zu besorgen.
Leo packt die schönen Sachen aus, die ihm die Eltern bringen lassen. Der Meister und die Meisterin stehen mit blanken Augen dabei. All das kommt ihnen ja mit zugute. Der Berghofbauer schickt es nur deshalb an den Sohn, um den beiden Alten das Danken zu ersparen. Daher geben sie dem Andres stets ein „Vergelt’s Gott!“ mit auf den Weg.
*
Vor dem verwahrlosten Haus des Maurermeisters Wendelin Dorer steht der Andres und betrachtet die ungeputzten Fenster und die schmutzige Hauswand. Endlich zieht er am Strang. Schrill läutet die Glocke. Eine geraume Weile rührt sich nichts, bis eine missmutige Weibsstimme ruft:
„Wer ist denn da? Wo brennt’s denn? He?“
„Der Andres ist hier, Annili, öffne schnell, ich muss den Vetter sprechen!“
„Glaubst du denn, dass der am Samstagabend daheim bleibt? Kennst ihn schlecht! Geh zum „Engel“, da wirst du ihn finden, wenn er nicht schon beim Ketterer im „Leuen“ ist!“
Nicht einmal die Tür öffnet die Annili.
Währenddessen sitzt der Wendel im Gasthof „Zum Engel“ und führt das grosse Wort. Der Schustertoni und der Schnefflerfranz sind seine Zechgenossen.
„Was heisst da vorbildlich den Hof bewirtschaften? — Jeder Kuhbub kann das, wenn die Truhen daheim bis zum Rand voll blanker Guldenstücke liegen und ihm die Holländertannen aus seinen Wäldern Jahr um Jahr ein Vermögen einbringen!“
Der Toni tut gemächlich einen tiefen Schluck, dann sieht er den Maurer herausfordernd an: „Die grosse Klappe allein macht’s nicht, und trotz Holländertannen und gefüllten Geldtruhen muss der Xaver schon was können, denn bei ihm geht’s bergauf und nicht bergab mit der Wirtschaft wie bei manchem anderen grossen Hof!“
Der Schnitzer fügt hinzu: „An dem könnt sich mancher ein Beispiel nehmen. Er ist morgens der Erste und abends der Letzte. Und wie der Xaver, so die Moni; und wie der Bauer, so Knecht und Magd!“
„Versteh’ schon, worauf Ihr hinaus wollt, aber die Annili lasst mir aus dem Spiel!“ ruft wütend der Wendel. „Mit euch sollt sich unsereins überhaupt nicht an einen Tisch setzen!“
„Ja, wer bist denn du? Freilich, der Bruder vom Berghofbauern, aber der Bauer ist ein feiner Kerl, vor dem jeder den Hut zieht!“
„Jawohl, jeder, der glaubt, auf seiner Tasche liegen zu können!“ schreit der Wendel ausser sich. Die Leute in der Gaststube wenden sich nach ihm unwillig um, und Ganter, der Wirt, verbittet sich den lauten Ton. Der Schnefflerfranz aber guckt den Maurer aus seinen verschmitzten Augen recht listig an und sagt: „Ja, wer haben will und nichts zu geben hat, muss in manchen sauren Apfel beissen. Gelt, Toni, da sind wir besser dran! Wir spielen auf, dass jeder seine Freude daran hat und brauchen vor niemandem zu duckmäusern.“
„Hast ein wahres Wort gesprochen, doch das muss dem Xaver zu seiner Ehr’ nachgesagt werden, wie ein Fürst hat er uns auf des Adams Kindtauf’ bezahlt!“
„Pah, ein ganz schlauer Fuchs ist der Xaver! Dass er den Adam in die Welt gesetzt hat, hat mit der Lieb zur Moni ein’ Dreck zu tun! Nichts als Berechnung war’s. Fünfundzwanzig Jahre länger wirtschaftet er jetzt auf dem Hof, ehe er auf’s Altenteil zu gehen braucht! Fünfundzwanzig Jahre! Da kann er schon ein protzig’ Fest feiern, es geht ja auf Andres’ Kosten — ich weiss Bescheid. Hätt’ mein Alter an mir nicht ebenso gehandelt, der Zwölfkreuzerschoppen würd’ grad gut genug für mich sein. — Heda, noch eine Runde!“
Der Ganter kommt gemächlich hinter der Theke hervor, aber mit leeren Händen. „Hast du denn auch Geld bei dir?“
„Dein Geld kriegst’ schon noch. Schreib an!“
„Musst erst mal von der alten Schuld runterkommen, bis dahin wird nicht mehr gepumpt.“
„Vetter Wendel! Vetter Wendel!“
Alle schauen sich um.
Andres hat die Worte gerufen. Jetzt sieht er den Gesuchten.
„Kommt, Vetter, ich muss mit euch sprechen!“
„Setz dich, Bub!“
„Nein, was ich euch zu sagen habe, geht nur uns an.“
„Hast recht. Wir wollen die Tür von draussen zumachen, hab’ längst das Wirtshausleben satt!“ Der Wendel ist wieder ganz Würde. Er streicht sich über den ergrauten Spitzbart: „Kommt nichts dabei heraus. Auf Wiedersehen! Wünsche gute Unterhaltung allerseits!“
Nur wenige erwidern seinen Gruss, spöttische Bemerkungen und höhnisches Gelächter folgen ihm.
Auf der Strasse wirft er einen Blick auf den Neffen. Wie bleich der aussieht! „Ist was Schlimmes geschehen?“
„Ich will zu euch, will Maurer werden, Vetter Wendel!“
„Nanu? Mehr als drei Jahre habe ich auf dich gewartet. Jetzt hast du’s mit einem Mal so eilig? Was ist denn los?“
„Fragt nicht. Wollt Ihr mich haben oder nicht?“
„Oho, mein Bürschchen, in solchem Ton spricht man nicht mit mir!“
„Hat’s dumm geklungen? Nehmt’s nicht falsch. Will nur wissen, woran ich bei euch bin. Sagt ja oder nein!“
„Und wenn ich nein sag?“
„So geh ich auf und davon!“
„Was willst du denn, und wohin willst du?“
„Ich weiss es nicht. Aber vom Berghof muss ich herunter!“
„Hast du dich mit deinem Vater überworfen?“
„Nein! Das ist nicht der Grund.“
„Hm. Kann es mir schon denken. Erträgst es nicht, Tag für Tag den Adam vor Augen zu haben. Stimmt’s?“
„Fragt doch nicht!“
„Wann willst du denn zu mir kommen?“
„Auf der Stelle!“
„Wie? Sofort?“
„Ja!“
„Potz Blitz, hast du es eilig! Und was sagen die Eltern dazu?“
„Sie wissen es nicht.“
„Nanu? Ist dir der Entschluss plötzlich unterwegs gekommen?“
„Ja!“
„Das ist merkwürdig. Da muss doch ein Grund vorliegen?“ Misstrauisch mustert der Alte den Jungen.
„Lebt wohl!“ Andres wendet sich und geht davon.
Einen Augenblick steht der Wendel, als sei er am Erdboden festgenagelt. Das ist ihm denn doch noch nicht vorgekommen. Sicher hat der Neffe keinen Kreuzer in der Tasche, nichts trägt er bei sich, nicht mal ein Stück Brot! Nun marschiert er geradenwegs auf Hammereisenbach zu. Da gibt’s ja gar keinen Zweifel, er geht auf und davon! Alles spricht dafür, dass er an ein Heimkehren nicht denkt. Nein, dahin darf es nicht kommen.
Bald ist der Ausreisser eingeholt.
„He, du, mach keine Dummheiten! Komm! Kannst bei mir bleiben!“
Der Wendel nimmt Andres gleich danach in sein Haus mit. Mürrisch befolgt Annili, eine schlacksige und wohlbeleibte Person, seine Anweisungen, dem Neffen Speise und Trank vorzusetzen.
Dann erhält der Andres sein Zimmer gezeigt. Es ist ein unfreundlicher Raum mit einer verblichenen Tapete, einem Bett, einem Tisch und einem Schrank. Das Holz der Möbel ist wurmstichig, die Gardinen sind grau vom Staub, und die Farbe des Fussbodens ist auch nicht mehr zu erkennen.
Spät am Abend macht sich der Wendel noch auf den Weg, um den Adam zum Berghof zurückzugeleiten. Auch will er mit dem Xaver über die neue Lehre vom Andres reden und alles ins rechte Lot bringen.
*
„Das glaub ich, wenn alle wären wie der Xaver und seine Moni, wär’s ein herrlich’ Dasein auf Erden!“ So ruft der Bürstenkarle und spricht die Worte aus tiefster Überzeugung. Er hat auch alle Ursache, die Berghofleute zu loben. Seine „Krätze“ ist erheblich leichter geworden, und beim Kauf wird nicht gemäkelt und gefeilscht, wie es so mancher andrer Bauern Art ist. Ein Schoppen Wein steht vor ihm, und der Tisch ist reich mit guten Speisen gedeckt.
Die Stube ist mit alten Möbeln aus Urväterbesitz ausgefüllt, unter denen besonders der Schrank mit seinen prächtigen buntgemalten Blumen auffällt. Aus dem Herrgottswinkel leuchten grüne Blattpflanzen und Ranken.
An der Wand hängt als Prunkstück die neue Uhr. Gar nicht satt sehen kann man sich daran. Das herrliche Gehäuse hat der berühmte Matthias Faller in St. Märgen geschnitzt, und das Bild ist von Kajetan Kreuzer in Furtwangen gemalt. Ja, der ist ein Meister seiner Kunst! Das Uhrwerk ist das Gesellenstück des Leo. Der alte Grieshaber sagt, der Xaver könne stolz auf seinen Sohn sein, der verstehe sein Fach wie kein zweiter und werde es noch mal weit bringen.
Die Moni blickt immer und immer wieder auf die Uhr, aber sie sieht heute nicht, wie sonst, voller Freude darauf. Unruhe und Angst plagen sie.
„Ist schon bald neun, und die Kinder sind noch nicht zurück.“
„Was willst du? Der weite Weg! Und dann lässt sie der Leo nicht so bald gehen.“
„Xaver, ich fürcht’, es könnt ihnen was zugestossen sein. Sie waren kaum eine Stunde vom Hause fort, da wurde ich von einer entsetzlichen Angst befallen. Mir war, als ob dem Adam eine grosse Gefahr drohe. Ich war schon drauf und dran, mich auf den Weg zu machen, als das bange Gefühl, urplötzlich, wie es kam, wieder schwand.“
„Ei was, Moni, du siehst Gespenster!“
„Nun, die Bäuerin hat so unrecht nicht. Der Adam hat in grosser Gefahr geschwebt! Ich hab’s mit eignen Augen gesehen. Aber das sag ich euch: stolz könnt ihr auf euren Andres sein! Er setzte sein eigenes Leben dran, um den Kleinen zu retten!“ Und nun erzählte der Karle den Hergang, und wer ihn hört, muss glauben, der Andres sei ein Held und ein Vorbild aufopfernder Bruderliebe.
Die Augen der Mutter werden feucht. Sie wendet sich an Xaver: „Immer hast du was an dem Bub auszusetzen, bist voller Misstrauen. Jetzt hörst du, dass dein Argwohn unbegründet ist!“ Ihre grosse, gläubige Mutterliebe spiegelt sich in ihren Worten wider.
Der Berghofbauer antwortet nicht. Man sieht ihm an, er kann mit sich nicht ins reine kommen. Da ist eine Stimme in seinem Herzen, die lässt die Zweifel nicht verstummen. Er wird aus seinem Sinnen herausgerissen. Vom Wald her erschallt heller Kinderruf: „Vater! Mutter!“, und schon stürmt der Adam den Pfad hinunter. Er trägt ein sorgfältig verschnürtes Paket in der Hand und, alle Ermahnungen des grossen Bruders vergessend, schwenkt er es wie eine Siegesbeute: „Das hat der Leo mir geschenkt!“ So glücklich haben die Alten ihn noch nie gesehen.
Die Moni atmet erleichtert auf. Sie will sich’s ja nicht eingestehen und versucht sich selbst glauben zu machen, dass sie alle drei Buben gleich lieb hat. Aber in diesem Augenblick fühlt sie, dass der Adam ihr doch zutiefst ans Herz gewachsen ist. Eine unbändige Freude packt sie. Sie eilt, so schnell sie die Füsse tragen, ins Freie, umarmt den Jungen, herzt und küsst ihn, als sei er von den Toten auferstanden. Nun blickt sie um sich. „Wo bleibt nur der Andres?“ denkt sie, und wieder wird sie von einem Gefühl des Unbehagens befallen. Da tritt jemand aus dem Forst heraus, aber es ist nicht der Erwartete, sondern Wendel, der Schwager. Sie greift mit der Hand ans Herz. Sprechen will sie, vermag aber keinen Laut über die Lippen zu bringen.
Auch Xaver und sein Gast sind aus dem Haus getreten.
„Grüss Gott!“ ruft der Ankommende und bemüht sich, einen harmlosen Ton anzuschlagen.
„Ist Andres etwas zugestossen?“ fragt die Bäuerin, und ihre Stimme zittert.
„Ach was, der befindet sich wohlauf!“
„Wo ist er?“ mischt sich der Bauer ins Gespräch.
„Bei mir! Schöne Grüsse soll ich von ihm ausrichten. Doch ich denke, darüber sprechen wir besser in der Stube.“
Nun sitzen die Vier um den Tisch. Wendel freut sich, auf billige Weise zu einem guten Schoppen zu kommen, und füllt unaufgefordert fleissig sein Glas.
Als er seinen Bericht beendet hat, steht die tiefe Falte auf Xavers Stirn. Eine furchtbare Ahnung steigt in ihm hoch. „Da stimmt etwas nicht“, sagt er.
Adam soll ins Bett. Er hat schon eine gute Nacht gewünscht und steht mit der Mutter an der Tür, da wendet er sich noch einmal um und fragt: „Ist Bruder Andres ein Lump?“
Alle sehen sich erschrocken an.
„Wie kommst du darauf?“
„Als ich beim Himbeerpflücken beinahe den Berg hinuntergefallen wäre und Andres mich zurückgerissen hat, hab ich ihn zum Dank liebhaben wollen. Da stiess er mich von sich, packte mich aber gleich darauf, küsste mich und weinte. Er sprach allerlei vor sich hin, was ich nicht verstanden hab’, aber das habe ich deutlich gehört, wie er sagte: „Ein Lump bin ich!“
Die Mutter nimmt Adam bei der Hand und führt ihn in sein Zimmer. „Schlaf nun, und sprich nie mehr das hässliche Wort aus!“
Als sie, am ganzen Körper zitternd, zurückkommt, hört sie gerad, wie ihr Mann spricht: „Klar ist es wie der Tag, wärest du nicht darüber hinzugekommen, Karle, läg Adam jetzt zerschmettert drunten im Tal. — Wendel, willst du Andres behalten, in Gottes Namen, aber gib ihm den Rat, sich nie wieder vor mir blicken zu lassen. Das Lehrgeld zahl ich dir aus, und sein Erbteil soll er obendrein haben, damit reiner Tisch zwischen uns ist. Der alte Jockele bringt ihm morgen seine Sachen.“
Ganz still ist es auf dem Berghof geworden.
Bürstenkarle hat sich leise in sein Kämmerlein, das ihm für die Nacht bereitgestellt wurde, geschlichen. Ihm will es nicht in den Sinn, dass ein Mensch so etwas Schlechtes vorhaben kann.
Die Moni hat den Kopf auf die Ellbogen gelegt und schluchzt.
Draussen, auf der Bank vor dem Hause, sitzt der Xaver. Er starrt in die sternenklare, milde Sommernacht, aber er sieht nichts von all der Schönheit um sich her. Einen Sohn hat er heute verloren! Wäre er nur gestorben, das hätte er eher ertragen. Immer wieder kommen die Worte über seine Lippen: „Ein Lump ist der Andres“.
Nur einer schreitet froh und unbeschwert durch die Nacht: der Maurerwendel! In seinen Taschen klappern die Gulden und, was ihm mehr bedeutet, er hat sich an dem verhassten Bruder, der ihn um den Hof brachte, endlich rächen können.
Ein viel schlimmerer Lump als der Andres ist der Maurerwendel.
*