Читать книгу Wetterleuchten über dem Schwarzwald - Wilhelm Ernst Asbeck - Страница 9
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ОглавлениеAm Fusse des Stöcklewaldes, rings von weiten Forsten umgeben, befindet sich ein uraltes Höhenwirtshaus, „Die Fuchsfalle“ genannt. In der dunklen, verräucherten Wirtsstube sitzen sich der Lorenz Fehrenbach und Pauli Winterhalder gegenüber und um sie herum vier junge, armselig gekleidete Burschen. Auf dem Nachbartisch, in Augenweite, liegen grosse und kleine Uhren, eine sorgsam neben der anderen. Matthes, der Wirt, gesellt sich zu den Männern.
„Soll es jetzt also losgehen?“
„Freilich! Nun, wo der Frühling endlich eingezogen ist, hält’s uns nimmer.“
„Darf man fragen wohin, Pauli?“
Der Winterhalder leert seinen Schoppen. Dann antwortet er bedächtig: „Wollt’ erst nach Frankreich, und der Lorenz gar nach Spanien hinunter. Aber besser ist es schon, man bleibt weg, wo sich die Menschen gegenseitig die Köpf’ einschlagen.“
„Mag schon sein. Der Geist der Unruhe und Unzufriedenheit ist wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Immer weitere Kreise zieht er.“
„Freilich, Matthes, in den kleinsten Dörfern gibt’s heutzutage schon mehr als zu viel aufrührerische Geister!“ entgegnet Fehrenbach.
Der Wirt ereifert sich: „Was wollen sie denn, diese Weltverbesserer? Geht’s uns nicht gut? Können wir nicht zufrieden sein?“
Einer der jungen Burschen wendet sich zu seinen Kameraden und flüstert ihm ins Ohr: „Der Fuchs hat gut reden, ihm lausen ja mehr als genug in die Falle; wie steht’s aber mit unsereinem?“
Der Nachbar grinst und nickt verständnisinnig.
„Was habt Ihr da zu tuscheln? He? Spukt’s auch schon in euren blöden Schädeln von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ und wie all die Schlagworte heissen, mit denen heutzutage umhergeworfen wird? Sagt’s nur frisch heraus, ihr Strohköpfe! Könnt euch dann gleich wieder dahin scheren, woher ihr gekommen seit! Ersatz für euch liegt auf der Strassen!“ Der Fehrenbach hat sich in Zorn geredet und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Hab’ dem Steffe ja nur ein Scherzwort gesagt.“
„So? Ein Scherzwort?“ höhnt der Uhrenträger. „Macht, dass Ihr hinaus kommt!“
Matthes legt dem erregten Mann die Hand auf die Schulter: „Lorenz, lass doch die beiden! Wird schon kein Staatsverbrechen gewesen sein. — Gelt, Karle und Steffe, hab ich nicht recht? Wir kennen uns doch! — Sei froh, Lorenz, so ordentliche, rechtschaffene junge Leute gefunden zu haben.“
„Also bleibt!“ knurrt der Fehrenbach. „Aber lasst euch nicht gelüsten, frech oder aufsässig zu werden, ich schreib eine gute Handschrift!“
Wieder ist es der Wirt, der helfend einspringt und die Spannung durch die Frage überbrückt: „Wohin soll es denn nun eigentlich gehen, Lorenz?“
„Über Polen nach Russland hinein. Hat schon mehr als einer sein Glück dort oben gemacht.“
„Bist ein gescheiter Kopf! Der Straube-Jockele und der Duffner-Sepp sind auch dort gewesen und als reiche Leut’ heimgekommen. Aber kalt ist’s da oben, bitterkalt!“
„Werd’ schon sorgen, dass die Buben sich warm arbeiten!“ brummelt der Lorenz.
Jetzt mischt sich der Winterhalder ins Gespräch: „Ja, der Jockele und der Sepp sind nicht dumm gewesen! Haben der Kaiserin eine schöne Uhr geschenkt, so ein rechtes Kunstwerk, auf der die zwölf Apostel die Stunden anschlugen. Hat sich gelohnt, die Sach’! Ein Freibrief wurde ihnen für alle russischen Länder ausgestellt, nicht einmal Abgaben brauchten sie zu zahlen! Wissen heut gar nicht, wohin mit all ihrem Reichtum!“
„Na, da willst du wohl auch zum Norden?“
„O nein, Eis und Schnee hat’s bei uns genug. Böhmen, Ungarn, Mazedonien will ich besuchen, bis zum Bosporus nach Konstantinopel hinunter!“
„Ja, hast du denn keine Angst vor den gottlosen Türken?“
„Ach, Matthes, ganz toll sind sie auf schöne Uhren! Der Faller Michel hat es mir erzählt. Mitten im Krieg war er dort. Kein Haar ist ihm gekrümmt. Konnte sich nicht bergen vor all den vielen Aufträgen, und nur das Beste, Kunstvollste haben die reichen Moslems gekauft und Preise gezahlt, da reisst du Augen und Mund auf! So eine Kundschaft wäre mir schon recht!“
Der Fehrenbach sagt: „Nun ist genug geschwätzt. Das war jetzt der Abschiedsschoppen. Wer weiss, wann wir wieder kommen?“
„Da werd’ ich wohl nicht mehr am Leben sein, Lorenz.“
„Wie alt bist’, Matthes?“
„An die sechzig Jahr’.“
„Magst recht haben. Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre wird’s währen, bis wir wieder einmal in der „Fuchsfalle“ beim Schoppen sitzen.“
Die Uhrenträger leeren ihre Gläser und erheben sich. Es sind hagere, hohe, sehnige Gestalten. Sie machen einen gar würdigen Eindruck in ihrem langen, samtenen Schossrock und schwarzen Filzhut. Auf dem Rücken haben sie vier, auf der Brust drei Uhren hängen, um die Hüfte den Lederranzen mit dem Werkzeug. Unternehmungslustig schauen sie aus. Jeder von ihnen mag wohl die Dreissig überschritten haben. Sie atmen tief auf. Die von Wetter und Rauch gedunkelten Holzhäuser, in denen sich bisher ihr Leben in enger Umwelt abspielte, liegen nun hinter ihnen. Über Berge, Hänge, Halden, Täler und Wälder steigen sie jetzt in fremdes Land. In jedem Ort, durch den sie ziehen, werden sie durch den Klang eines Glöckchens die Kauflustigen anlocken und ihre klingende, schnarrende und musizierende Ware feilbieten.
„Lebt wohl, Lorenz und Pauli, und Ihr jungen Burschen! Glück auf den Weg!“ ruft der Wirt. Ein letzter Händedruck, und die Männer gehen mit bedächtigen Schritten zur Tür hinaus. Voran marschieren die beiden Händler, hinter ihnen, schwer beladen, die vier Uhrenknechte. Bald sind sie auf der leicht ansteigenden Landstrasse im Walde verschwunden.
Von allen unbeachtet hat während der ganzen Zeit ein Wanderbursch abseits an einem kleinen Tisch in der Schankstube gesessen. Er mag wohl achtundzwanzig Jahre zählen. Er tat, als ob alles, was um ihn her vor sich ging, nicht des Aufhorchens wert sei, und doch spitzte er die Ohren und achtete auf jedes Wort. Er denkt im stillen: Was die Beiden können, das kann ich schon alle Tage. Es wäre vielleicht nicht das Dümmste, es ihnen in einigen Jahren nachzumachen, aber es eilt nicht, ich bin ja noch jung!
Jetzt erst, nachdem die Gäste fort sind, hält es der Matthes für nötig, mit dem Fremden ein Gespräch anzuknüpfen: „Die Leute kamen von Triberg her. Ein schwerer Beruf!“
„Aber einer, der seinen Mann rechtschaffen ernährt!“
„Ja, ja, ’s hat mancher Uhrenträger sein Glück da draussen in der Welt gemacht. Ist aber auch mancher zugrunde gegangen oder auf dem Heimweg überfallen und seines vielen Geldes wegen umgebracht worden. Woher kommst du?“
„Hab’ mich halt auch ein wenig auf unserer schönen Erde umgesehen. War in Lothringen, Franzland, Tirol, Wien, Welschland, in der Schweiz und komme jetzt aus dem Württembergischen.“
„Bist auch Schwarzwälder, hör’s an deiner Aussprache. Aus welcher Gegend?“
„Drunten im Bregtal, zwischen Furtwangen und Vöhrenbach.“
Der Wirt setzt sich zu ihm und fragt: „Wie heisst du?“
„Was tut der Name zur Sache? Nenne mich Andres, wenn es dir Spass macht.“
Matthes erschrickt. „Bist doch nicht am End’ gar der Berghofbauersohn?“
„Wie kommst’ darauf? Nein, auf einen so reichen und vornehmen Vater hat unsereins keinen Anspruch.“
„Mir kam es so in den Sinn. Der Xaver und die Moni hatten auch einen Bub’, der Andres hiess. Möcht wohl in deinem Alter sein.“
„Lebt er nicht mehr?“
„Wohl. Er ist vor drei Jahren fortgegangen. Muss irgend was arg Schlimmes getan haben. Die Leut’ sagen, der Moni habe es das Leben gekostet.“
„Die Berghofbäuerin ist tot?“ fragt der Fremde, und seine Stimme klingt heiser.
„Ja. Gestern ist sie zur Erd’ gebracht. So eine kostbare Leiche hat’s schon seit langem nicht mehr gegeben. Aber was hilft es? Deswegen ist ihr das Sterben nicht leichter geworden. Man erzählt: Tag und Nacht habe sie mit dem Tode gerungen und immer aufs neue geschrien „Der Andres soll kommen! Ich will den Andres noch mal sehen! Holt mir den Andres!“ Immer soll sie zur Tür geschaut haben, als erwarte sie, er müsse jeden Augenblick eintreten. Ja, ja, wer weiss, wo der sich in der Welt ’rumtreibt und ein lustig Leben führt?“
„Also du meinst, der Andres sei ein Lump?“ fragt der Wanderer und hat Mühe, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen.
„Ich weiss nicht. Habe ihn nie gesehen. In Vöhrenbach, wo er beim versoffenen Maurerwendel gelernt hat, liess er sich nichts zu Schulden kommen. Man hört dort nur Gutes von ihm. Aber ich denk, wenn der eigne Vater dem Sohn den Hof verbietet, wird der Andres wohl ein Lump gewesen sein, denn der Berghofbauer ist ein Ehrenmann, das weiss ein jeder.“
„Freilich, und reich ist er obendrein, da zählt die Ehr’ gleich doppelt!“ gibt der Gast zur Antwort. Seltsam bitter klingt seine Rede. Er wirft die paar Kreuzer, die seine Zeche ausmachen, auf den Tisch, stülpt den breitkrempigen Hut über die Ohren, hängt sein Bündel über den Rücken und greift zum Knotenstock. Mit einem kurzen „Grüss Gott!“ eilt er zur Tür hinaus.
Kopfschüttelnd blickt der Wirt ihm nach. Fast sieht es aus, als ob der Fremde vor einem unsichtbaren Feind flüchte. Er hastet den Weg hinauf. Heiss brennt die Mittagssonne, aber er achtet nicht darauf. Nun hat ihn der weite Wald aufgenommen. Wie wohl die Ruhe und Stille tut! Ein wenig abseits vom Weg, hinter Strauch und Busch versteckt, lässt er sich nieder. Die Beine drohen plötzlich den Dienst zu versagen.
Tot ist die Mutter! Sie, die ihm so viele Liebe und Güte erwiesen hat! In Hass und Unfrieden ist er von ihr gegangen! Sie hatte ihn verstanden und wollte ihm verzeihen! War da nicht eine Stimme, die ihn rief und ihn immer wieder zur Eile anspornte? Jetzt begreift er: es ist die Mutter gewesen, die in ihrer Herzensnot nach ihm schrie. Er aber hatte sich in seinen blinden Trotz und Hass verbissen und den heiligen Ruf als ein Hirngespinst verlacht!
Keine Träne tritt in seine Augen, aber ein krampfhaftes Schluchzen erschüttert seinen Körper. Zu spät! Er wird seine Mutter nie wieder sehen! Sein Verschulden! Drei Tage hat er sich in Offenburg herumgetrieben. Warum? Aus Zorn und Eigensinn über das ihm vermeintlich zugefügte Unrecht. Wie Schleier fällt es von seinen Blicken. Alle Schuld und alles Unrecht liegt bei ihm, nur bei ihm!
Wie lange er so gelegen hat, weiss er nicht. Es ist wie ein Dämmern zwischen Träumen und Wachen gewesen. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber. Alle Kämpfe zwischen Gut und Böse, Reue und blindem Hass, die seit jener Stunde sein Innerstes zerrissen, flammten auf.
Länger werden die Schatten. Langsam, schwerfällig wandert der Einsame dahin. Plötzlich taucht zur Rechten eine Lichtung auf. Zwei hohe Steinsäulen heben sich gespenstisch gegen den von der untergehenden Sonne in blutiges Rot getauchten Himmel ab. Ein Querbalken verbindet sie. Mancher arme Sünder hat von hier aus zum letzten Mal auf die herrliche Landschaft unter seinen Füssen gesehen.
Wäre der Bürstenkarle damals nicht im letzten Augenblick gekommen — —. Nur nicht denken! Ein Grauen schüttelt den Wanderer. Fort von dieser Stätte!
Bald liegt der Galgen hinter Andres. Nun erst kommt es ihm zum Bewusstsein, dass viele Stunden vergangen sind, seitdem er die „Fuchsfalle“ verlassen hat. Und doch ist es von dort bis zum Galgen nur ein Weg von wenigen Minuten. Unwirklich erscheint ihm die Welt. Weiter hastet er über Berge und Hügel hinweg.
*
Um die Morgenstunde steht der Xaver am Waldrain und schaut hinüber, wo er — hinter Bergen versteckt — den Friedhof von Furtwangen weiss. Monis Tod hat alles in ihm aufgewühlt. Seine Ehe hat nichts mit der sogenannten „Liebe auf den ersten Blick“ zu tun gehabt. Nüchtern und sachlich hatten seine und ihre Eltern unter sich die Angelegenheit geregelt, als sei es ein Geschäft gewesen. Reichtum musste sich zu Reichtum gesellen, auf dass der Besitz vermehrt werde und Haus und Hof auf fester, gesicherter Grundlage stehe. Es war eine grosse, glänzende Hochzeit gewesen, doch Mann und Frau fanden ohne Illusionen zueinander. Und es war gut so. Sie erwarteten kein Paradies auf Erden und blieben daher vor Enttäuschungen bewahrt. Es gab für sie weder einen „himmelhoch jauchzenden Rausch“ noch ein „zu Tode betrübt sein“. Aber friedlich und harmonisch gestaltete sich ihr Zusammenleben. Jeder füllte seinen Arbeitsplatz voll aus, und aus diesem Schaffen erwuchs allmählich aus der Achtung heraus das Gefühl der Liebe. Zerrissen ist jetzt das Band.
Rechtschaffen und tüchtig ist der Xaver, doch hart und unbeugsam in seinen Entschlüssen. Er gilt als ein frommer Mann in seiner Gemeinde, aber von der grossen, verzeihenden Liebe weiss er nichts. Er kann begangene Schuld nicht vergeben. Wollte er an der Verstorbenen etwas auszusetzen haben, so war es ihr allzu weiches Gemüt, ihre allzu grosse Gutherzigkeit. Solche Eigenschaften sind dem Wohlstand auf Erden nicht förderlich. Der Leo hat einen guten Schuss davon im Blute. Nimmer wäre er ein rechter Bauer geworden. Seiner Natur liegt das Grübeln und Sinnen. Na, er steht schon auf dem rechten Platz und wird dem Namen Dorer niemals Schande bereiten.
Jetzt tritt ein elfjähriger Junge aus der Tür des Hauses. Er lässt den schmächtigen Kopf hängen und hat verweinte Augen. Das kann der Alte nicht leiden. Rauh schreit er den Sohn an: „Du, reiss dich zusammen! An die Arbeit mit dir!“
Erschrocken fährt Adam auf und verschwindet schleunigst im Stall. Der Berghofbauer guckt missmutig hinter ihm drein. Nichts hat der Bub von ihm geerbt. Das getreue Abbild der Mutter — schmal und klein von Figur — ist er. Verzärtelt hat sie ihn! Er wird ihm seine Weichheit noch austreiben! Wie soll der Bursch sich sonst später den Knechten und Mägden gegenüber durchsetzen? Schon mehr als einmal ist dem Xaver der Gedanke gekommen, es wäre wohl besser gewesen, wenn das Milchpuppengesicht nimmer das Licht der Welt erblickt hätte. Mag er sich noch so sehr gegen Andres in Hass und Abscheu hineinreden wollen und ihm auch noch das schwere Sterben der Moni als neue Schuld aufladen, das alles hindert ja nicht zu erkennen, dass der Andres gerade der richtige Mann gewesen wäre, den Berghof zu erhalten.
Es ist nicht gut, wenn wir Menschen klüger sein wollen als der Herrgott und aus reinem Eigennutz mit unserer geringen Weisheit unser Schicksal eigenmächtig umzuformen versuchen. Irgendwo aus geheimnisvollen Tiefen dringt immer wieder eine Stimme hervor: Trägst du nicht selbst die Schuld, dass der Beste unter deinen Buben ein Lump geworden ist? Hast du ihn nicht wie einen Baum aus dem festen Boden herausgerissen? Und nun wunderst du dich, dass der Entwurzelte vom Strom des Schicksals durch Wirbel und Brandungen gerissen wird?
Der Alte schüttelt die Gedanken von sich. Ach was, geschehen ist geschehen! Basta! Mit festen Schritten geht der Bauer jetzt von Stall zu Stall, von Feld zu Feld. Überall sieht er nach dem Rechten. Ja, Arbeit, Schaffen, Aufbauen helfen über alles hinweg! Ihm wird der Adam folgen. Dem muss ein willensstarkes Weib zur Seite stehen, dann mag es gehen. Das ist die Lösung der Zukunft. Xaver kennt mehr als einen grossen Hof, wo der Bauer nicht viel zu melden hat und die Bäuerin mit starker Hand die Herrschaft führt. Er wird die Augen offen halten und seinem Jüngsten die rechte Frau schaffen! Jawohl, das ist er sich und dem Berghof schuldig!
*
Wie die Herde sich um ihren Hirten schart, so haben die Furtwanger ihre Häuser rings um die Kirche herum aufgebaut. Wohl an die hundert Gebäude mögen es sein. Aber am Katzensteg und weit zerstreut in den Gemarkungen des Psarrsprengels finden wir noch manches Taglöhnerhäuschen und manchen Hof, der zu der Gemeinde gehört.
Im Orte selbst herrscht reges Leben. Die Uhrmacherei, Strohflechterei stehen in Blüte. Uhrengehäusemacher, Uhrenschildhersteller und -maler führen dort ihr Gewerbe aus, und auch der Glashandel gibt manchen Familien Brot. Über die Landstrasse an der Breg poltern schwerfällige Bauerngespanne, Planwagen und mit Holz beladene Fuhrwerke. Behäbig trotten die Zugochsen daher. Das Städtchen steht mit der Umwelt in lebhafter Verbindung, da der Verkehrsweg zwischen der Baar und dem Breisgau, zwischen Villingen und dem Simonswald durch Furtwangen läuft.
Um das Gotteshaus liegt der Friedhof. Vor einem frischaufgeworfenen Hügel steht der Andres. Er führt ein langes, stummes Gespräch mit seiner Mutter. Jetzt spricht er ein stilles Gebet. Dann wendet er sich langsam zum Gehen. In dem Augenblick, wo er die Begräbnisstätte verlässt und wieder unter die Lebenden tritt, hat er alles Schwache von sich gestreift. In seinen Adern fliesst des Berghofbauern Blut!
Auf einem Seitenpfad durchquert er den Ort. Bald schon umfängt ihn die feierliche Stille des Waldes. Näher kommt er dem väterlichen Boden. Soll er verstohlen durch die Büsche hinüberblicken? Die Versuchung wächst. Er spürt das Verlangen, einmal wieder die Stätte zu betreten, wo er geboren wurde und seine Jugend verlebte. Ach was, nicht rührselig werden! Entschlossen lenkt er seine Schritte nach einem schmalen Weg, der durch dichte Tannen zum Gipfel hinaufführt. Jetzt hat er eine Lichtung erreicht. Selbst durch Strauchwerk verdeckt, gewährt sie ihm einen weiten Rundblick. Nahebei sieht er die Gebäude des Berghofes liegen. Begierig schaut er dorthin. Knechte und Mägde gehen ihrer Arbeit nach. Nun tritt ein kleiner Bub aus einer Stalltür. Das kann nur der Adam sein. Er geht vorsichtig zu einem schmalen Durchlass zwischen zwei Scheunen. Dort wartet ein schlankes Mädchen von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren auf ihn. Adam lehnt seinen Kopf an des Mädchens Brust, er wird wohl von einem hemmungslosen Weinen geschüttelt. Das Mädel hat den Arm um seinen Nacken gelegt und scheint ihn zu trösten. Etwas Gütiges, Mütterliches liegt in seinem Wesen. Eine Weile stehen beide da wie durch ein gemeinsames Leid verbunden. Plötzlich steht der Bauer hinter ihnen! Er hat ihnen irgendwelche Befehle erteilt. Sie eilen, so schnell ihre Füsse sie zu tragen vermögen, nach entgegengesetzten Richtungen davon.
Alles das hat Andres von seinem Platz aus beobachtet. Das Erbteil vom Vater und von der Mutter in seinem Blute — hart und weich — liegen im Kampf miteinander. Er versteht in dieser Minute den Vater, als sei er es selbst. Er begreift, dass der Vater nicht weniger leidet als der Sohn. Zum Schmerz um die geliebte Frau gesellt sich die Furcht um die Zukunft des von Geschlecht zu Geschlecht ererbten Gutes.
Sinnend setzt Andres seinen Weg fort. Eine seltsame Heimkehr! Aber einen tieferen Eindruck als alles andere hat das Mädchen auf ihn hinterlassen. Wer ist die Fremde, die den Adam wie eine Mutter betreute? Zu dem alten Bruderhass und Groll gesellt sich der Neid.
*
Der Leo legt die Arbeit beiseite und eilt zur Tür hinaus.
„Vrenili! Komm! Andres ist wieder da!“ ruft der Grieshaber.
Am Fenster stehen die beiden Alten und blicken hinaus. Da draussen halten sich die beiden Brüder umschlungen. Eigentlich ist es ja der gutherzige Leo, der seinen Arm um den Hals des Heimgekehrten gelegt hat. Anfangs sträubte sich der Jüngere gegen einen solchen zur Schau getragenen Gefühlsausbruch, doch dann tut es ihm wohl, zu wissen, dass doch einer der Seinen ihm die Zuneigung bewahrt hat.
Arm in Arm treten die Brüder ins Haus. Ein festlicher Empfang wird dem Heimgekehrten zuteil. Der alte Uhrmacher und seine Frau bewirten ihn aufs beste. Sie sind ganz Güte und Liebe. Und erst der Leo! Ihm brennt der Schmerz auf der Seele, dass der Bruder zurückkommt, ohne die Mutter am Leben zu finden. Im Unfrieden ist er von ihr gegangen, ihre Stimme der Versöhnung ist nicht an sein Ohr gedrungen und jetzt — um wenige Tage zu spät!
Andres fühlt, wie sich die harmlosen Menschen bemühen, ihm die traurige Botschaft schonend zu berichten. Da erzählt er ihnen, dass er alles schon in der „Fuchsfalle“ erfahren habe.
Hart, wie die vollendete Überwindung, sollte es klingen. Der Andres vermochte es aber doch nicht zu verhindern, dass Tränen seine Augen füllten. Er ist ärgerlich, dass er seine Gefühle nicht besser in der Gewalt hat. Was brauchen andere Menschen zu wissen, wie weh es in seinem Herzen aussieht?
Als man sich endlich trennt, ist es schon Abend geworden. Leo will seinen Bruder nach Vöhrenbach geleiten. Der lehnt ab. Er möchte noch ein Weilchen mit seinen Gedanken allein sein. Da schüttelt ihm der Ältere zum Abschied die Hand: „Lass uns jetzt treu zusammenstehen, wie es zwischen Brüdern sein soll! Und du, kann ich dir einmal helfen, rechne auf mich!“
Da hat der andere die beiden Uhrenträger vor Augen, die ausziehen, um fremde Länder kennen zu lernen, die Wegbereiter der Heimindustrie sind und nach vielen Jahren als reiche Leute zurückkehren!
*
Vor dem alten Häuschen in der Seitengasse zu Vöhrenbach steht der Andres.
Mit musternden Blicken betrachtet er den Bau. Ja, Annili hat Wort gehalten! Saubere Vorhänge, bunte Blumen und Pflanzen hinter den Fenstern sind Grüsse, die für ihn bestimmt sind, für niemanden sonst! Und was ist das? Ein Rosenstock steht neben dem Beischlag! Die warme Frühlingssonne der letzten Tage hat die ersten zarten Blätter hervorgezaubert. Ganz eigen wird Andres zu Sinn. Wollte er noch irgend etwas auszusetzen finden, wäre es das: einen frischen Anstrich müsste die Hauswand bekommen.
Wieder schrillt die alte Glocke durchs Haus. Heute braucht er nicht lange zu warten. Eilige Schritte hasten die Treppe hinunter. Die Tür wird aufgerissen, und glückstrahlend ruft die Annili dem Eintretenden zu: „Das freut mich, dass du wieder da bist! Nun ist alles gut! Ach, ich wusste ja, du würdest jetzt kommen. Tag für Tag warte ich schon auf dich!“
Immer wieder schüttelt sie ihm die Hände.
„Stattlich bist du geworden! Ein ganz anderer Kerl als der Wendel!“
„Wo steckt er?“
„Wo er jeden Abend steckt. Soll ich ihn holen?“
„Nein, erzähle mir, was sich ereignet hat, seitdem ich fort gewesen bin.“
Nun sitzen die beiden in der Stube beieinander. Der Junge hört, dass es höchste Zeit war, heimzukehren und nach dem Rechten zu sehen. Mit Müh’ und Not hat Annili bisher alles aufrecht erhalten. Mit dem Meister ist es schon seit langem das alte Lied. Abend für Abend befindet er sich unterwegs. In den Jahren, wo Andres ihm jede Arbeit abnahm, ist er träge und verwöhnt geworden. Schulden häufen sich auf Schulden. Weiss er gar nicht mehr aus noch ein, bettelt er beim Bruder auf dem Berghof; aber auch die Quelle scheint zu versiegen. Lange hätte es nicht mehr gedauert, und ihm wäre das Haus gepfändet worden.
Andres hat schon seinen Entschluss gefasst. Gut, er wird noch einmal eingreifen und Wandel schaffen. Die Bettelgänge zum Xaver hören ein für alle Mal auf. Der Andres wird dem Vater zeigen, dass er es ohne seine Hilfe schafft!
„Du, Annili, seit wann steht der Rosenstock vor der Tür?“
„Ich habe ihn am anderen Tag, als du fortgingst, gekauft, selbst gepflanzt und gepflegt. Ich wusste ja, solange er gedeiht, geht es dir gut.“
Andres klopft ihr lachend die Wangen.
„Bist ein liebes, abergläub’sches Maidli!“
Sie errötet vor Freude. Am liebsten wäre sie gar nicht schlafen gegangen, so glücklich fühlt sie sich, mit ihm einmal ganz allein beisammen sein zu dürfen. Aber auch ihm tut es wohl, zu wissen, dass es eine treue Seele gibt, die auf ihn gewartet hat!
*