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Mit allen Mitteln

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Das vor Jahren für unmöglich gehaltene Ereignis der deutschen Wiedervereinigung hatte auch auf dem sportlichen Gebiet viel bewegt. Nicht nur die unterschiedliche Auffassung über Demokratie und Marktwirtschaft, die vorher in den noch getrennten zwei Staatsteilen mit identischer Nationalität vorherrschte, wurde zu einer Gemeinsamkeit zusammengeführt. Auch die unterschiedliche Auffassung sportlicher Fairness gegenüber der Leistung des anderen bedurfte der Überarbeitung. Es gab viele westliche Gepflogenheiten, die ohne Wenn und Aber sofort vom östlichen Teil akzeptiert wurde. Und es gab auch östliche Gepflogenheiten, die dem Westen angenehm erschienen. Beim nun nicht mehr überwachten Gedankenaustausch sportlicher Aktivisten und ihrer Trainer wurde dem Westen sehr schnell klar, warum seine Sportler bei Wettkämpfen meist hinterher schauen mussten. Eine gewisse Vermutung war schon immer vorhanden gewesen, woran es liegen konnte, aber nun wurde diese Vermutung zur Gewissheit. Jahrelang war es im Ostblock, und somit auch in der damaligen DDR, Normalität gewesen, sportlichen Höchstleistungen mit chemischen Stoffen auf die Sprünge zu helfen. Wichtig war den sogenannten sozialistischen Ländern der Sieg über den Klassenfeind. Sie mussten dies immer und immer wieder ihren Bürgern klar machen, wie stark doch der Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus war. Und der Sport war der ideale Kommunikator zwischen dem Sozialismus und dem Rest der Welt. Die umfangreichen Erfahrungen, die man dabei gemacht hatte, gab man nun, da man gemeinsam für ein Vaterland kämpfte, selbstverständlich weiter. Was zum Beispiel unternommen werden musste, um einen für einen fairen Wettkampf rein biologisch gestählten Körper parallel mit anderen Mitteln zur Höchstleistung trimmen zu können. Und die im Westen lernten schnell. Von den höchsten Funktionären bis hinab zu den arbeitenden Rekordlern. Man hatte in dieser Oase jungfräulicher Moral gelernt, wie man Spaß haben konnte, ohne dabei die Jungfräulichkeit zu verlieren. Und viele handelten auch danach, von den höchsten Funktionären bis hinab zu den Rekordlern. Doch irgendetwas, dass spürten die Sektenmitglieder der ‚Kraft durch Chemie’-Bewegung, schien ihre Sorglos Sphäre bedrohen zu wollen. Waren es jene, die jahrelang mit Höchstleitungen veräppelt worden waren und jetzt unzufrieden aufbegehrten, weil Doping alle Relationen verzerrte. Oder waren es die Leistungserbringer, die von diesen Praktiken die Schnauze voll hatten, weil sie erkannten, dass sie vollkommen unwissend waren über die Zukunft ihres misshandelten Körpers. Oder waren es jene, die eine mögliche Welle tiefer Reumütigkeit der Sünder kommen sahen und Angst hatten, mit fortgespült zu werden. Oder sollten es gar die Funktionäre gewesen sein, die urplötzlich ohne eine Vorwarnung von ihrem eigenen, moralischen Gewissen mit Kopfnüssen traktiert wurden. Oder war es einfach die Erkenntnis, dass, wenn alle ihre Leistungen auf unnatürliche Art gesteigert würden, es einfach keinen Spaß mehr machte, auf diesem nun gemeinsam erreichten Niveau noch um die Wette zu fighten. Wie sollte man sich denn von der Masse abheben, wenn auch die Masse abhob? Man müsste wieder von vorn anfangen. Ohne chemische Zusätze, und alle zur gleichen Zeit. Doch wie sollte das klappen? Alle sollten gleichzeitig mit dopen aufhören. Und keiner sollte mogeln. Unmöglich. So blieb es erst einmal, wie es war. Auch wenn sich, temporal wenigstens, eine kleine Welle der Reue gebildet hatte. Warum und weshalb, war nicht klar zu definieren. Jedenfalls fing einer an, unter Tränen, der nächste, unter Tränen und dann ein paar, die nur sagten: ’Ich habe auch gedopt’. Dem allgemeinen Volk wurden diese Beichten per Presse, je nach Art des Blattes, auf Hochglanz- oder schlechtestem Recyclingpapier mitgeteilt. Und die reuigen Sünder bekamen, je nach Qualität der Ablichtungen ihrer Leidensmienen, eine Entschädigung in unterschiedlicher Höhe. Jeder zeigte auf jeden und sagte ‚der hat auch gedopt’. Der Mensch scheint der ‚mehr Schein als Sein’-Maxime gegenüber immer wieder sehr anfällig zu sein. Im Tierreich gab es noch keinen Fall von freiwilligem Doping. Unfreiwillig, ja. Denn der Mensch hilft, wo er kann. Eine Spritze in einen der beiden Hinterschinken eines Vierbeiners, ein kurzes Aufwiehern, und ab geht die Pace. Ein Pferd konnte, wenn es des Dopings überführt worden war, nicht sagen „er war’s, der mit der Spritze“. Der Mensch hat da ganz andere Möglichkeiten. Keiner hatte es freiwillig getan. Aber nein! Weder aus Neugierde noch aus bewussten Betrugsabsichten. ‚Doping, ich doch nicht!’ ‚Da hat mir tatsächlich jemand etwas in meine Zahnpasta Tube gedrückt. Unverschämt!’ ‚Man hat mir das so gegeben und gesagt, das sei gut gegen Durchfall.’ ‚Es sollte gegen Pickel helfen.’ „Es machen alle, also mach es auch Du!“ sagte der Funktionär damals auch zu Andreas. Andreas gehörte jetzt zu jenem Teil der Bevölkerung, die von staatlichen Finanzzuwendungen leben mussten. Rein offiziell. Denn es gab eine Querverbindung gen Osten, die Andreas als Handelsstraße nutzte. Für Waren, die die Magyaren frei gegen Gebot an jeden verkauften und die Andreas in seiner Heimat verbotener Weise gegen Gebote an einen ausgewählten Kreis wieder verkaufte. Er importierte Ware, die bei den Nutzern an besonders exponierten Körperstellen überdimensionierte Körperfunktionsorgane bildeten, die in dieser Größenordnung für den täglichen Gebrauch vollkommen nutzlos waren. Allgemein aber war sein eigentlicher Erwerb die pünktlich genaue Auszahlung von staatlicher Grundsicherung, von Wohnungsbeihilfe, von Energiekostenbeihilfe und so weiter. Bei genauer Einteilung reichte dieser Vorrat bis zur Mitte des Monats. Aber es gab ja noch das Land der Paprikas und seine Freundin mit dem gut florierenden Gewerbe.

Andreas S.

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