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Voller Hoffnung

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„Die Passagiere des Fluges LH 525 nach Buenos Aires werden gebeten, sich zum Flugsteig zwei zu begeben“. Klar und deutlich kam die Anweisung aus den runden Lautsprechern, die in gleichmäßigen Abständen in der Stahlkonstruktion des gewölbten, großflächigen Hallendachs des Flughafens Frankfurt installiert waren. Die Frankfurter waren stolz auf ihren Flughafen, der sich Ende dieses Jahres neunzehnhundertsechzig mit einundachtzigtausend Starts und Landungen als zweitgrößter Flughafen Europas hinter London bezeichnen durfte. Seit seiner Gründung im Jahre neunzehnhundertsieben, es war der erste Flughafen Deutschlands, hatte die Verwaltung der Betreibergesellschaft viele Wirren und Veränderungen erlebt. Doch nun war er zum internationalen Drehkreuz geworden. Jährlich wurden mehr als zwei Millionen Fluggäste von Frankfurt aus in alle Welt und aus aller Welt nach Frankfurt geflogen. Eine imponierende Zahl zu damaliger Zeit. Der Flug LH 525 nach Buenos Aires über Stuttgart, Zürich, Las Palmas, Rio de Janeiro, Montevideo, zu dem gerade aufgerufen worden war, war einer dieser zahlreichen Flüge. Zu den einhundertneunundsiebzig Fluggästen, die eingecheckt hatten, gehörte auch Hilde S. Aufmerksam hatte sie der Stimme, die aus den Lautsprechern den Fluggästen wichtige Informationen mitteilte, zugehört. Jetzt ging sie zielstrebig, den kleinen Koffer in der einen und die Handtasche mit den wichtigen, persönlichen Utensilien in der anderen Hand, zum Flugsteig zwei. Mit ihren kurzen, schnellen Schritten versuchte sie sich dem Tempo des Passagierstroms an zu passen, der sich zum Flugsteig bewegte. Trotz ihres Zustandes oder, besser gesagt, ihres Umstandes, konnte sie mühelos Schritt halten. Das zart rosafarbene Kopftuch aus Chiffon, das sie in einer besonderen Art um den Kopf und um den Hals gewunden hatte, markierte ihren jeweiligen Aufenthaltsort zu jeder Zeit punktgenau im Menschengewühl. Hilde S. hatte sich schon lange auf diesen Flug in ihre alte Heimat Argentinien gefreut. Eifrig hatte sie darauf gespart. Und nun war es endlich soweit. Der Zeitpunkt erschien ihr zwar etwas riskant, weil sich doch Nachwuchs angekündigt hatte. Aber die Unbedenklichkeit ihres Arztes gegen diesen Flug hatten alle Zweifel bei ihr beseitigt. Gracias a Dios! Denn nach der Geburt des Kindes würde sie kaum in den ersten Jahren dazu kommen, die alte Heimat besuchen zu können. Nach ihrer Vermählung mit Rudolf S. vor knapp zwei Jahren war dieses das erste Mal, dass sie ihre Eltern, Verwandten und Freunde in Buenos Aires besuchte. Sie liebte diese Stadt, in der sie aufgewachsen war. Sie liebte die Prachtstraßen, die, rechtwinklig aneinander gereiht, das Straßenbild der gut zweihundert Quadratkilometer großen la capital darstellten und rechts und links von prachtvollen Bauten flankiert wurden. Sie liebte die Betriebsamkeit, die Leute. Immer freundlich, immer zu einem Schwätzchen bereit. Sie liebte die Spaziergänge am Rio de la Plata. Ein Drittel aller Argentinier lebten in Buenos Aires. Und sie fühlte sich ihnen immer noch verbunden, obgleich sie schon sehr lange in Deutschland lebte. Hilde besaß auch ihre argentinische Staatsbürgerschaft noch. Nicht, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft ablehnte. Nein, einfach so. Gewaltige Industriegebiete waren in den Randbereichen von Buenos Aires entstanden. Viele ausländische Konzerne hatten ihre Zweigwerke dort erbaut, um den südamerikanischen Raum als zusätzlichen Absatzmarkt nutzen zu können. Ciudad Autónoma de Buenos Aires, die autonome Stadt, wie sie heute offiziell heißt, war und ist das Tor zum südamerikanischen Exportmarkt. Unternehmen nutzten diese hervorragende Infrastruktur. Wasserwege, Straßen, Schienen, alles Verbindungselement zu den wichtigen Handelspartnern in Chile, in Bolivien, in Paraguay, in Uruguay, in Brasilien. Ihre Herkunft konnte Hilde S. nicht verleugnen. Sie war nicht so groß wie die europäischen Frauen. Ihre einmeterdreiundfünfzig waren ein Relikt der Urbevölkerung Argentiniens, der Tobas. Nur die typisch braune Hautfarbe und das tief schwarze Haar dieser Ureinwohner hatte sie nicht. Aber im Wesen war sie eine Argentinierin mit Wurzeln in der Urbevölkerung. Die Tobas waren jene Bevölkerungsgruppe, die sich standhaft den spanischen Eroberern widersetzt hatte. Erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde ihr Widerstand mit Waffengewalt gebrochen. Doch ihr Stolz, ihr Selbstbewusstsein blieben ungebrochen. Auch heute noch. Und Hilde S. war stolz und selbstbewusst. Der typisch deutsche Vorname spiegelte die Vorliebe ihrer Eltern für alles Deutsche wider. Neunzehnhundertsechzig waren die weltweiten Wirtschaftsbeziehungen auf einem neuen Level angekommen. Deutsche Unternehmen hatten in fernen Ländern Tochtergesellschaften gegründet, um ihr Absatzmarketing zu straffen und ihre Gewinne zu optimieren. In einem dieser Unternehmen waren sowohl Hilde als auch Rudolf S. beschäftigt. Rudolf als Entwicklungsingenieur in Berlin, im Stammwerk, und Hilde als Fremdsprachenkorrespondentin in Buenos Aires, im Tochterunternehmen. Auf Einladung des Stammwerkes war die Auslandsabteilung des Zweigwerkes in Buenos Aires zu einem Informationstreffen nach Westberlin gekommen. Einen Nachmittag während des Informationstreffens hatten die Teilnehmer dieses Treffens zur freien Verfügung, und Rudolf hatte Hilde angeboten, ihr Westberlin, zumindest in groben Zügen, zeigen zu wollen. Nach knapp zwei Stunden war die Stadtrundfahrt allerdings schon nahe der Gedächtniskirche im Café Gloria zu Ende gegangen. Beide hatten während der Fahrt gespürt, dass der eine dem anderen nicht ganz gleichgültig war. Sie hatten, jeweils ein Stück Schwarzwälder Kirsch und ein Kännchen Kaffee vor sich, in einer Ecknische des Cafés gesessen und hatten sich abwechselnd in die Augen und dann durch die großen Fenster auf die belebte Straße und sich wieder in die Augen und wieder auf die Straße geschaut. Es war wenig gesprochen worden. Am Ende ihres Cafèbesuchs hatten sie beschlossen, abends im Kino um die Ecke sich den gerade neu angelaufenen Film Und immer lockt das Weib, mit Brigitte Bardot und Curd Jürgens in den Hauptrollen, ansehen zu wollen. „Ach ja“, hatten beide geseufzt, als der Film zu Ende war. Hilde war nun mit dem Strom der anderen Passagiere an der Gangway angekommen und durchschritt den tunnelartigen Brückenzugang zum Flugzeug. Die Stewardess am Eingang der Boeing 707 begrüßte jeden Passagier mit ausgesuchter Höflichkeit und schien sich wahnsinnig zu freuen, dass gerade die oder der oder jene mitflogen. Doch bei der Begrüßung von Hilde S. schien ihr Lächeln ein wenig nachzulassen. Denn ihr geschulter Blick hatte genau registriert, dass diese Passagierin in anderen Umständen war. Aber der noch geringe Umfang von Hildes Bauch beruhigte sie auch wiederum. ‚Da wird schon nichts passieren’ sagte sie sich. ‚Und schließlich hast du für den Notfall ja eine Unterweisung erhalten. Wenn auch nur theoretisch’, versuchte sie sich zusätzlich zu beruhigen. „Dritte Reihe, Fensterplatz bitte! Haben Sie einen guten Flug“, sagte die Stewardess nun wieder freundlich strahlend zu Hilde S. ‚Was soll schon passieren’, dachte sie. Für Hilde S. war es der erste Flug mit einem durch Düsen angetriebenen Flugzeugs im gerade angebrochenen Jetzeitalter. Vorerst wurde die Boeing 707 von der Fluggesellschaft nur im Langstreckenflug eingesetzt. Mit ihr hatte sie wichtige Pluspunkte gegenüber dem Wettbewerb. Fast einhundertachtzig Passagiere konnte die Maschine befördern und die Fluggeschwindigkeit betrug knapp sechshundert Kilometer in der Stunde in neuntausend Meter Höhe. Diese Düsenflugzeuge waren einfach komfortabler als die bisher eingesetzten Propellermaschinen. Hilde S. zwängte sich zum Fensterplatz, etwas eng war es schon. ‚Vielleicht liegt es an der Flugzeugkonstruktion, denn so viel habe ich an Umfang doch noch nicht zugelegt’, dachte sie sich. ‚Egal, ich habe ja meinen Arzt gefragt. Und der wird schon wissen, dass alles gut gehen wird’, und damit wischte sie alle Zweifel, die wieder bei ihr auftauchten, beiseite. Der Arzt hatte nach eingehender Untersuchung ohne Bedenken Hilde S. die Flugerlaubnis erteilt. Die Geburt sollte im Mai dieses Jahres sein. Und es war erst der zwölfte März. Wenn auch das Wetter zeitweise erstes Frühlingserwachen andeutete, noch hatte der Wonnemonat Mai nicht begonnen. Noch war es März! Allmählich nahm die Vorfreude auf ihr geliebtes Buenos Aires in Hilde S. Gedankenwelt immer mehr Raum ein, und sie lehnte sich zufrieden in ihrem Sitz zurück. Sie dachte an ihren Geburtstag in der letzten Woche. Einunddreißig, ‚schon ganz schön alt’. Sie musste bei dem Gedanken leicht schmunzeln. Das Wetter war im Moment einfach märchenhaft. Der Steigflug der Boeing bereitete ihr keinerlei Beschwerden. Interessiert betrachtete sie die immer kleiner werdende Landschaft um Frankfurt. Die Sonne war in voller Größe aufgegangen und die Kumuluswolken erschienen jetzt, als das Flugzeug die volle Reisehöhe erreicht hatte, wie ein Teppich aus kleinen Wattebäuschen, der sich unter der Maschine ausgebreitet hatte. In Buenos Aires war um diese Jahreszeit das Wetter noch spätsommerlich warm. Ähnlich wie in Sydney. Hoffentlich würde es in dem Kleid aus blassrotem Tweed nicht zu warm, wenn sie auf dem Aeropuerto de Ezeiza landen würde. Durch die Zeitverschiebung von vier Stunden würde es bei ihrer Ankunft früher Nachmittag sein. Wie würde Argentinien nach dem Militärputsch fünfundfünfzig gegen Juan Perón aussehen. Ob sich die soziale Lage gebessert hat? „Geht es Ihnen gut“? fragte die Stewardess, als ihr Kontrollgang sie am Platz von Hilde S. vorbeiführte. „Bestens“, strahlte sie. „Ich könnte mich nicht wohler fühlen“! „Darf ich Ihnen noch etwas bringen“, erkundigte sich die Flugbegleiterin. „Es wäre nett, wenn ich noch einen Kaffee bekommen könnte“, sagte Hilde. „Gern. Ich bringe ihn sofort“! „Haben Sie Kinder“, fragte unvermittelt Hildes Nachbarin. „Nein, wieso“, wollte Hilde wissen. „Ach, ich finde, Sie sind einfach der Typ, der Kinder haben sollte“, sagte ihre Nachbarin lächelnd. „Sie strahlen so viel Mütterlichkeit und Geborgenheit aus“. Hilde S. fühlte, dass ihr Puls bei diesen Worten sich leicht beschleunigt hatte. Sie musste wohl errötet sein, denn ihre Nachbarin sagte, fast entschuldigend: „Ich hoffe, ich war nicht zu direkt. Ich hatte einfach das Bedürfnis, es ihnen zu sagen“. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier spricht Ihr Flugkapitän. Wir befinden uns über der Ostküste von Brasilien. Unter uns ist die Stadt Salvador. Ganz rechts befindet sich die am Reißbrett konstruierte Stadt Brasilia, die am einundzwanzigsten April dieses Jahres Rio de Janeiro als Hauptstadt Brasiliens ablösen wird. Montevideo werden wir in knapp drei Stunden erreichen. Unser Flug wird so ruhig wie bisher bleiben. Also keine Luftlöcher in Sicht“, scherzte er und fort fröhlich fort: “Ich wünsche Ihnen weiterhin einen erholsamen Aufenthalt an Bord der Boing 707 der Deutschen Lufthansa auf dem Flug nach Buenos Aires. Danke für Ihre Aufmerksamkeit“. Hilde S. hatte die Durchsage des Flugkapitäns mehr unterbewusst gehört. Sie hatte angespannt aus dem Fenster geschaut und bemerkt, dass die Meeresoberfläche, die nicht mehr unter einem Wolkenteppich versteckt lag, etwas unruhig aussah. Ob die Durchsage des Flugkapitäns nur prophylaktisch gedacht war. Vielleicht würden sie doch gleich von, hoffentlich kleinen, Turbulenzen ein wenig durchgeschüttelt werden. Hilde spielte, mehr unterbewusst, einige mögliche Situationen bei eintretenden Luftturbulenzen durch. Nur so zum Spaß. Es ergab sich so. Plötzlich verspürte sie, nun in der Realität, ein leichtes Unbehagen, dann ein seltsames, schmerzhaftes Ziehen im Unterleib und schließlich rief sie: „Ich glaube, mein Baby, mein Baby kommt. Oh Gott, mein Baby kommt“! Ihre Nachbarin hatte die Situation sofort erfasst. „Kind“, beschwichtigte sie Hilde, „bleib ruhig. Atme tief durch. Wir werden das schon machen“! Hilde starrte sie ungläubig an. „Ja wie denn. Madre de Dios.“ „Ich bin Hebamme“, tröstete sie die Nachbarin. „Mach einfach, was ich Dir sage“. Hebammen bedienen sich häufig der vertraulichen Anrede, um die kommenden Schmerzen für die Gebärende soweit wie möglich herunterzuspielen. Die Stewardess, die zwar für die kommende Situation theoretisch geschult war, sah das Dilemma. „Oh, condemned shit“! sagte die, allerdings sehr leise, vor sich hin. Sie informierte den Piloten. Der ließ durch seinen Copiloten nachfragen, ob sie irgendwo zwischenlanden sollten. „Nicht nötig“, sagte die Hebamme, die berufsgewohnt das Kommando bei der nun einsetzenden Aktion übernommen hatte. Die Stewardess hatte erleichtert festgestellt, dass ihre unerfahrene Hilfe nicht direkt benötigt wurde. Sie nutzte die Gelegenheit, neben den erforderlichen Handreichungen, die ihr die Hebamme anwies, das theoretische Wissen durch die reale Demonstration einer Geburt über den Wolken zu komplettieren. Nach einer Zeit höchster Anspannung aller an der Geburt Beteiligten machte sich der neue Erdenbürger lautstark bemerkbar. Die Hebamme strahlte, Hilde S. war unfassbar glücklich und der kleine Bube begriff den ganzen Rummel um ihn herum nicht. Er lag, knapp zwei Monate zu früh, eingewickelt in ein großes Badetuch, versehen mit dem Anrecht auf die argentinische Staatsbürgerschaft, in den Armen von Hilde S. „Bienvenido a mi muchacho“, sagte sie überglücklich. Eine firmeninterne Umstrukturierung vor knapp einem Jahr hatte Rudolf S. mit seiner Frau Hilde von Berlin in ein Provinzstädtchen in Baden-Württemberg gezwungen. Er war über diesen Umzug nicht glücklich gewesen, aber Hilde an seiner Seite hatte ihm geholfen, diese Umstellung relativ schnell schadensfrei zu überwinden. Rudolf S. hatte gerade die Versuchsreihe für das neue Elektrogerät abgeschlossen, als ihm ein Telegramm von einem in dunkelblaue Uniform gekleideten Telegrammboten mit den Worten: „Sie sind Rudolf S.? Hier ist ein Telegramm für Sie aus Argentinien“, überreicht wurde. Eigentlich waren alle privaten Dinge am Arbeitsplatz untersagt, aber ein Telegramm erweckte immer den Eindruck, wichtig und eilig zu sein. Aus diesem Grund war die Übergabe eines Telegramms an eine private Person während der Arbeitszeit in dieser Firma ausnahmsweise erlaubt. Rudolf schossen plötzlich, als er es noch ungeöffnet in seiner Hand hielt, allerlei Gedanken durch den Kopf. ‚Meine Frau will nicht zurückkommen. Oder zwei Wochen später. Sie ist gefallen und hat sich das Bein gebrochen’. An diesen Inhalt hatte er allerdings nicht gedacht: ‚Komme nicht allein. Bringe sechsundvierzig Zentimeter kleines Bündel mit, mit allem dran. Beide gesund. In Liebe Hilde‘. Erst schnappte Rudolf S. nach Luft, dann umarmte er seinen Kollegen, der neugierig neben ihm stand und schließlich ging er zum Personalbüro, um den ihm für solche Fälle zustehenden Urlaub zu beantragen. Aber so richtig konnte Rudolf es immer noch nicht fassen, dass er nun Vater war. Mit fünfunddreißig Jahren. Wann war sein Sohn genau geboren? Na, die Hilde wird ihm schon ausgiebig berichten, wenn sie in der nächsten Woche am Donnerstagnachmittag auf dem Frankfurter Flughafen ankommt. „Du, Brigitte“, fragte er die Mitarbeiterin auf dem Lohnbüro, „wie soll ich mich verhalten. Kann ich etwas vorbereiten. Windeln und so weiter“? „Warte besser bis beide angekommen sind. Vielleicht kannst Du Dich um eine Wickelkommode kümmern“. „Ist schon alles da“, sagte er. „Das ganze Kinderzimmer ist schon fertig. Putzen sollte ich es noch einmal“. „Wenn Du meine Hilfe benötigen solltest, weißt Du ja meine Telefonnummer“, sagte Brigitte. Sie wollte ihm einfach sagen, dass er sich nicht unnötig sorgen sollte. „Danke für Dein Angebot“, rief ihr Rudolf noch zu, bevor er eiligst mit kurzen, schnellen Schritten den Raum verließ. Sein schon schütter werdendes Haar kam ordentlich durcheinander, als er nach draußen kam und der Südwind ihm entgegen blies. Der Weg zum Firmenparkplatz war nicht weit. Sein Auto, ein VW-Cabrio in roter Lackierung und mit hellbeigem Verdeck, mit echten Weißwandreifen und einem Autoradio, hatte er sich erst Anfang dieses Jahres gekauft. ‚Du musst noch zur Werkstatt, um nach dem seltsamen Klopfgeräuschen beim Rechteinschlagen des Lenkrades sehen zu lassen’, fiel ihm beim Verlassen des Parkplatzes ein. Stolz auf sein neues Auto, dem Statussymbol schlechthin eines jeden Mannes, überglücklich über die Geburt seines Sohnes und versonnen den Klängen von „The Beat Kings“ aus dem Autoradio lauschend, bog er am Ende des Parkplatzes auf die stadteinwärts führende Landstraße ein. Da ihn sein Weg ohnehin an der Vertragswerkstatt vorbei führte, wollte er den Fehler dort noch heute beheben lassen. „Kein Problem“, sagte der Monteur, „das haben wir gleich“. Er fuhr den Wagen auf eine Hebebühne, ging in gebückter Haltung unter den vorderen Teil des Wagens und schraubte etwas ab. Rudolf S., der ihm neugierig gefolgt war, brauchte sich nicht zu bücken. Mit seinen einmeterdreiundsechzig konnte er aufrecht stehen. Der Monteur drehte das abgeschraubte Teil einmal um die Senkrechte und schraubte es mit den Worten „da hat mal wieder einer Montag gehabt im Werk“ wieder fest. Zu Hause angekommen, ging Rudolf geradewegs in das Kinderzimmer, um den Grad der Sauberkeit zu überprüfen. ‚Ja, ich sollte es schon ordentlich auf Hochglanz bringen’, stellte er fest. ‚Wieso ist das Kind eigentlich schon geboren’, fragte er sich. ‚Es waren doch noch fast zwei Monate Zeit’. Die Ungewissheit über diese Frage machte ihn unruhig. Er ging in den Flur zum schwarzen Wandtelefon, einer Standardausführung aus Bakelit, die die deutsche Telefongesellschaft ihm leihweise gebührenpflichtig montiert hatte. Da es nur eine Telefongesellschaft gab, musst er mit dem, was man ihm gegeben hatte, zufrieden sein. Die zweifarbig textilbezogene Telefonschnur, die einen Abstand zum Apparat von höchstens eineinhalb Metern beim Telefonieren erlaubte, war, wie fast immer, total verzwirbelt. Er nahm den schweren Hörer aus Gabel. Das Signal, nun telefonieren zu können, war für ihn die Aufforderung, den Zeigfinger seiner rechten Hand nacheinander in die Löcher der Wählscheibe zu stecken, die jeweils zu der entsprechenden Ziffer der Rufnummer des Arztes gehörte. Rudolf. S. schilderte ihm die Situation. „Wie weit war sie eigentlich“, wollte der Arzt wissen. Er hätte das auch aus der Kartei erfahren können, aber so war es für ihn bequemer. „Im siebten Monat. Ende April oder Anfang Mai sollte die Geburt sein“, antwortete Rudolf S. „Mmhh“, kam es aus dem Hörer, „so ganz kennt man die Ursache noch nicht, warum bei familiärem Minderwuchs, und damit haben wir es bei Ihrer Frau und auch Ihnen offensichtlich zu tun, öfter Frühgeburten auftreten als bei Normalwüchsigen. Wie gesagt, warum das so ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen“. Rudolf S. schlucke etwas, als er die Worte ‚familiärer Minderwuchs und Normalwüchsige’ hörte. Gehörten sie denn etwa einer Minderheit an? „Können denn bleibende Schäden durch so eine Frühgeburt entstehen“, wollte der Vater wissen. „Folgeschäden werden kaum auftreten. Wenn die Geburt glatt verlief, hat eine Frühgeburt keinen Einfluss auf die normale Entwicklung eines Kindes. Es könnte allerdings sein, dass ihr Kind ebenfalls Minderwuchs haben könnte“, meinte der Arzt. „Sobald ihre Frau wieder im Lande ist, soll sie sich bitte bei mir melden“, fügte er noch hinzu. Rudolf S. bedankte sich für die Auskünfte. Einerseits war er erleichtert, dass wohl keine Schäden oder Komplikationen für ihren Sohn auftreten würden. Anderseits beunruhigte ihn der Gedanke, dass auch sein Sohn unter dem Durchschnittsmaß des normalen deutschen Erdenbürgers bleiben würde. ‚Familiärer Minderwuchs, wer kann das überhaupt beurteilen’, machte er sich Mut. ‚Vielleicht trifft das bei unserem Kind überhaupt nicht zu. Zumal es ein Junge ist. Er wird bestimmt normal groß werden, so um die einmeterziebzig’. Er war sich sicher, dass ihr Sohn Andreas ganz normal wachsen würde. Hilde und Rudolf hatten diesen Namen, falls es ein Junge würde, schon zu Beginn der Schwangerschaft ausgesucht. Nun ja, der Einfluss der Gene auf die Vererbung wird häufig falsch eingeschätzt. Aber es ist nun einmal so, dass die Erbanlagen die Erbinformationen reproduziert an Nachfolgegenerationen weitergeben. Auch die ‚kleinen’ Informationen werden weitergegeben. „Wann kommt denn der Rest Deiner Familie wieder. Oder musst Du jetzt nach Argentinien ziehen, weil Deine Frau sich nicht wieder von ihrer Heimat trennen kann“, frotzelte sein Kollege im Büro. „Nein, die kommen beide zurück“, sagte Rudolf S. lächelnd. „Am kommenden Sonntag werde ich Sie vom Flughafen holen. Das Baby war in Buenos Aires zur Beobachtung in der Kinderklinik“, bemerkte er noch. Die Maschine würde, wie ihm seine Frau telegraphiert hatte, am Sonntag um einundzwanzig Uhr in Frankfurt ankommen. Für die Fahrt und den Weg zum Ankunftsschalter rechnete er drei Stunden ein, für Eventualitäten und seine Nervosität nochmals eine halbe Stunde drauf. Er hatte eine sehr unruhige Nacht vor dem Sonntag der Ankunft. Er träumte, er lief und lief und kam nicht von der Stelle. Alle waren schon am Ziel, nur er kam keinen Meter vorwärts. Durchgeschwitzt stand er um drei Uhr in der Früh auf und versuchte, sich bei einer Flasche Exportbier zu beruhigen. Es klappte. Wesentlich ruhiger ging er eine halbe Stunde später wieder ins Bett und schlief, obgleich der Wecker ihn um neun Uhr in der Früh wecken sollte, bis um kurz vor zwölf durch. ‚Verdammter Mist’, rief er aufgeregt, als er auf die Uhr schaute. ‚Jetzt aber flott’, feuerte er sich an. ‚Wozu eigentlich’, sagte er sich nach einer Weile, die er bis zum vollen Wachsein benötigt hatte, ‚ich habe doch noch gut fünf Stunden Zeit’. Schon von weitem bemerkte er bei seiner Anfahrt zum Flughafen die Lichter des Flughafengebäudes und die Scheinwerfer der Landebahnen. Er fühlte sich wohl, sau wohl. Er war Vater geworden. Er fuhr auf den Parkplatz für Kurzzeit Parker und stellte seinen neuen Wagen unter einer Laterne ab. ‚Besser ist besser’, dachte er sich. Schnell überquerte er die Fahrweg vor der neuen Empfangshalle Ost und orientierte sich, wo er Hilde und das Baby, sein Baby, abholen musste. „Die Maschine aus Buenos Aires ist soeben gelandet“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. Erwartungsfroh und ziemlich aufgeregt stand er in der ersten Reihe derer, die, ebenso wie er, jemanden vom Flug aus Buenos Aires abholen wollten. „Rudolf, Rudolf“, seine Frau hatte ihn eher gesehen als er sie, obgleich er mit Argusaugen alle ankommenden Passagiere gemustert hatte .Er begleitete sie ein Stück parallel zum abgetrennten Gang, indem sie ging und konnte endlich am Ende dieser Abtrennung seine Frau und das Baby erleichtert und glücklich in die Arme nehmen. Ein Flughafenbedienstete hatte Hilde und ihr Baby, das Gepäck auf einem kleinen Transportwagen vor sich herschiebend, bis hierhin begleitet. Rudolf gesellte sich nun dazu und der Flughafenbedienstete folgte diesem Trupp wie ein treuer Hund auf Schritt und Tritt. Als sie alle am Auto angekommen waren, half er ihnen, die Koffer in den Kofferraum zu verfrachten und erkundigte sich, ob er ihnen sonst noch behilflich sein könne. Rudolf bedankte sich mit einem Fünfmarkstück, das er zuvor separat in seine Hosentasche gesteckt hatte. Der Bedienstete hatte so viel nicht unbedingt erwartet und bedankte sich, indem er sich etwas tiefer als gewöhnlich verneigte und zusätzlich seine Dienstmütze zog. Rudolf hatte für die Fahrt mit dem Baby zwei große Kissen aus ihrem Schlafzimmer mitgenommen. Hilde nahm auf der Sitzbank hinten Platz, ein Kissen wurde am oberen Ende leicht eingedrückt, so dass eine Mulde entstand. In diese Mulde wurde Andreas gebettet und mit dem zweiten Kopfkissen zugedeckt. Diese beiden Kissen mit dem Baby hatte sie auf ihrem Schoß. Rudolf schloss die Tür, nahm hinter dem Steuer Platz und drehte sich, bevor er den Motor startete, noch einmal kontrollierend um. „Hilde“, entfuhr es ihm, „wo bist Du“? „Hier“, klang es durch die Kissen gedämpft. Die Monotonie der Fahrgeräusche und des gleichmäßigen ‚Klopf, Klopf’, das die Teerfugen zwischen den Betonplatten der Autobahn verursachten, ließen Hilde ein paar Mal eindösen. Hilde S. hatte aufgrund der Frühgeburt ihres Jungen einen Mutterschutz von zwölf Wochen. Also Zeit genug, sich darüber klar zu werden, ob sie danach eine Lösung mit fremder Betreuung von Andreas einer Kündigung ihres Arbeitsplatzes vorziehen würde. ‚Ich kann ja wieder, wenn ich will, in die Firma zurück’, dachte sie. Man hätte sie auch wieder gern zurück gehabt, denn Arbeitskräfte, egal ob Angestellte, Facharbeiter oder Hilfsarbeiter, waren in den Sechzigern äußerst rar auf dem Arbeitsmarkt. Viele Firmen halfen sich mit Gastarbeitern, meistens aus Italien oder der Türkei aus, die das Problem des Arbeitermangels etwas lindern konnten. Wie gesagt, Hilde wusste noch nicht genau, was sie danach machen würde. Tendierte aber sehr stark zu der Überzeugung, für Andreas eine immer erreichbare Mutter sein zu wollen. Sie war sich sehr sicher, dass ihr Sohn sie mehr brauchen würde als ihre Firma. Der pragmatische Alltag mit all seinen Tücken hatte sie schnell wieder eingeholt. Sie musste versuchen, in der Gemeinschaftswaschküche neben ihrem Stammwaschtag noch weitere Zeiten zu bekommen, um den zusätzlichen Anfall von Windeln und weiterer Schmutzwäsche in den Griff zu bekommen. Die Stoffwindeln mussten zwei bis drei Mal am Tag gewechselt werden. Nach einer ersten großen Reinigung wurden sie eingeweicht und wenn genug zusammengekommen waren, ausgekocht, auf dem Waschbrett gerubbelt oder mit einem Wäschestampfer durchgewalkt, gespült, eventuell unter Zusatz eines chemischen Bleichmittels gebleicht und von Hand ausgewrungen oder durch die Gummiwalzen einer am Waschtrog Rand befestigte Nassmangel optimal entwässert. Danach wurden sie bei gutem Wetter draußen, bei schlechtem Wetter in der Wohnung, bis zur erneuten Wickelreife getrocknet. Ein Waschtag bedeutete höchsten körperlichen Einsatz für die Hausfrau. Zum Wickeln wurde Andreas auf den in seinem Zimmer stehenden Wickeltisch gelegt, die Windel zu einem Dreieck gefaltet und ihm unter den Popo geschoben. Alle leicht wund werden Körperteile wurden eingepudert, und die Windel in einer immer gleichen Technik zusammengeschlungen. Darüber kam eine Windel aus Moltontuch, die in gleicher Wickeltechnik geschlungen und seitlich, damit sie nicht wieder auseinanderfiel, mit zwei Verbandsklammern zusammengehalten wurde. Der so verpackte Andras wurde dann in eine ziemlich unflexible Gummihose gesteckt und abgelegt. Wenn Andreas schrie, was auch sehr oft nachts passierte, konnte dies zwei Gründe haben. Entweder war die Windel randvoll oder er hatte ganz einfach Hunger. Gegen den schnellen Hunger gab es Gemüse- oder Obsteintopf aus dem Schraubglas, gegen den planmäßigen Hunger wurden alle Zutaten im frischen, natürlichen Zustand gekocht und zu einem Brei verrührt. Beide Varianten hatten viele Aufbauvitamine, die Andreas groß und kräftig werden lassen sollten. Bei Andreas bewirkten die Aufbauvitamine allerdings nur, dass er kräftig wurde. Mit der Größe hatte er so ein Problem. Trotz aller Pflege und Hege durch seine Eltern wollte Andreas S. nicht in dem Maße wachsen, wie man es bei anderen Kindern beobachten konnte. Er war und blieb immer der Kleinste. Trotz stärkender und viel versprechender Kindernahrung und Vitaminzufuhr. Seine Eltern sahen das ziemlich gelassen. Sie dachten in Relation zu sich selbst. Das bei ihren Körpergrößen ihr Kinde kein Gardemaß erreichen würde, war ihnen von Anfang an klar. Alle anderen Annahmen von ihnen waren reines Wunschdenken gewesen. Andreas kümmerte das alles nicht. Er lag in seinem Laufstall, die Kinderrassel aus Celluloid in der einen und einen Teddybär in der anderen Hand. Er genoss sein Umfeld. Er sah auf zur Zimmerdecke, hatte seinen Spaß, wenn eine Fliege versuchte, auf seiner Nase zu landen. Oder er lag ganz ruhig und in sich gekehrt, wenn er die Windel gestrichen voll hatte. Wenn er allerdings meinte, es würde unangenehm in dem langsam erkaltenden Brei zu liegen, brüllte er aus Leibeskräften. Er weinte nicht, nein, er brüllte. Allerdings, ohne dem Gebrüll irgendwelche phonetische Formung zu geben. Schon sehr früh war Andreas in der Lage, sich an den Gitterstäben des Laufstalles hoch zu ziehen. Er stand dann, ruhig und gelassen, eine Hand lässig herabhängend, die andere mit festem Griff um einen Gitterstab und amüsierte sich köstlich. Welch ein Ereignis für Hilde und Rudolf! Ihr Andreas hatte eine weitere Stufe des Kind Werdens geschafft. Das gleiche Krafttraining wiederholte er auch im Kinderwagen. Es machte ihm überhaupt nichts aus, dieses Aufstehen, Hinlegen, Aufstehen und so weiter mehrmals hintereinander durchzuführen. Er strahlte auch nach dem zehnten Mal locker und vergnügt, wenn er sich aus dem Sitzen mit einer Hand an der Seite des Wagenkorbes hochzog. Zack, schon stand er in Siegerpose. Seine Eltern beobachteten ihn mit Stolz, wenn er, fast wettkampfmäßig, sich diesem Kraftsport widmete. Andreas kam in das Alter, wo er ausprobierte, wie man auf seinen Beinen vorwärts kommen konnte. Die hinderliche Windel hatte er hinter sich gelassen und seine Mutter konnte ihn ballastärmer kleiden. Er sah nun schon wie ein richtiger Bub aus. Alles saß wie angegossen. Bis auf die Hosen, die man in den üblichen, auf das jeweilige Alte des Kindes bezogenen Größen kaufen konnte. Diese mussten in der Ausführung ein bis zwei Nummern kleiner gekauft werden. Dies blieb auch in den kommenden Jahren so. „Rudolf“, sagte Hilde eines Abends, nachdem sie Andreas ins Bett gebracht hatte, „ich mache mir große Sorgen um das Wachstum unseres Sohnes. Er ist nun schon fünf Jahre, aber… Meinst Du nicht auch, wir sollten einmal mit einem Facharzt darüber sprechen“. „Ich habe auch gerade daran gedacht“, sagte Rudolf. „Kümmerst Du Dich um eine Überweisung von unserem Hausarzt? Vielleicht für die übernächste Woche. Ich würde dann einen Tag Urlaub nehmen, um Euch zu begleiten.“

Andreas S.

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