Читать книгу Adams Letzte - Will Berthold - Страница 7

3

Оглавление

Cecil Casagrande war nach Verlassen der Hotelhalle in sein Apartment hochgefahren und hatte dem unerschöpflichen Fundus seiner Roman-Belegstücke — von der »Lufthansa« war ihm deswegen Überfracht berechnet worden — zwei Exemplare seines Romans »Der Biß der Jahre« entnommen. In eines schrieb er eine Widmung für den Direktor des »Oriental«, Paul Sarrasin, einen urbanen Westschweizer; für das zweite plante er einen besonderen Versuch.

»Oh, Mr. Casagrande«, sagte der Manager in seinem Office und erhob sich beflissen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich stör’ Sie doch nicht?« fragte der Besucher höflich.

»Aber ich bitte Sie, Mr. Casagrande. Unser Haus pflegt, wie Sie wissen, berühmte Autoren in ganz besonderer Weise.«

»Ich weiß«, bestätigte der hochgewachsene Schriftsteller mit der vorspringenden Nase und den sich andeutenden Tränensäcken. »Somerset Maugham, Josef Conrad —«

»— und natürlich Cecil Casagrande«, ergänzte sein erfahrener Gesprächspartner. Ein Hotelmanager, der beim plumpesten Kompliment auch nur mit der Wimper zuckte, war seiner Meinung nach eine Fehlbesetzung: »Ich bedauere sehr, daß Ihre Gattin Sie diesmal nicht begleitet.«

»Das bedauere ich auch«, behauptete der Autor. »Aber Sie wissen ja, Sarrasin, die Weihnachtsvorbereitungen und so —«

»Es ist uns jedesmal eine große Freude, Sie wieder bei uns zu haben.« Der Majordomus des »Oriental« dämpfte ein wenig die Stimme und beschleunigte die Sprechweise: »Sie erhalten selbstverständlich wieder den Prominenten-Rabatt, den wir nur ganz wenigen, ausgesuchten Gästen gewähren. Sie wissen, wir haben es nicht nötig und —«

»Ich hätte es auch nicht nötig, mein Guter«, erwiderte der Mann aus Monaco launig. »Doch ich akzeptiere mit Dank.«

Der Direktor, ein alerter, wendiger Mann — fünf Sprachen, zwanzig Jahre Erfahrung in den besten Hotels der Welt — kannte viele Autoren so gut, daß er manche von ihnen für Hofnarren der Gesellschaft hielt. Casagrande schnitt dabei nicht schlecht ab. Er fand ihn als Hotelgast wie als Romanschreiber angenehm. Jedenfalls war der Auflagen-Millionär kein Langweiler; er hielt immer Hof, das brachte Gäste, und Gäste brachten Gewinn.

»Hier, das habe ich Ihnen mitgebracht«, sagte der Besucher und überreichte Paul Sarrasin mit großer Geste sein letztes Buch.

»Oh, verbindlichen Dank, Monsieur Casagrande, ich bin Ihr ständiger Bewunderer. Es gibt kein Werk aus Ihrer Feder, das ich nicht gelesen hätte.« Er lächelte hintergründig. »Ich würde Ihre Romane sogar dann konsumieren, wenn Sie in anderen Hotels von Bangkok wohnten.« Der Manager schlug den Einband um und stellte fest, daß der Autor sein Geschenk bereits mit einer Widmung versehen hatte.

»Das ist für mich sehr interessant«, erwiderte Casagrande — er ließ den Ausdruck »konsumieren« ungerügt passieren — »Wissen Sie, mein Bester, Leser sind die einzigen Kritiker, die ich anerkenne.«

Sein anschließendes Schweigen forderte Sarrasin stumm zu weiterer Rezension auf.

»Ich weiß, wie schwer es ist, ein breites Publikum zu fesseln«, fuhr der Manager fort: »Die Art, wie Sie Ihre Leser in Spannung versetzen, amüsieren, düpieren, verzaubern, verärgern und am Schluß wieder einsammeln — ich beneide Sie um diese geniale Fähigkeit.« Er sah, daß sein VIP-Gast zufrieden war, fürs erste wenigstens — jedenfalls war es leichter gegangen als bei anderen Autoren, die sich am liebsten nächtelang Elogen angehört hätten.

Ein Dichter aus Nürnberg, der Stadt des Hans Sachs, des Schusters und Poeten zugleich, hatte sich zum Beispiel mündlich und schriftlich zu der Feststellung verstiegen: »Der liebe Gott und ich, wir haben den gleichen Beruf — beide erfinden wir Schicksale.« Ein anderer Autor war im Hochsommer als Weihnachtsmann verkleidet mit einem Fallschirm auf Sylt abgesprungen, ein seltsamer Reklame-Gag, mit dem er den offensichtlich eingesparten Werbeetat seines Verlages ersetzen wollte. Und ein Bestseller-Autor, in einem »Playboy«-Interview auf seine Wirkung auf Frauen angesprochen, hatte begeistert festgestellt: »Deppert vögeln könntest du dich in diesem Beruf.«

»Er kann überhaupt nicht vögeln«, hatte seine eben verlassene und offensichtlich humorlose Ehefrau anderenorts gekontert.

Paul Sarrasin glättete den Buchumschlag mit den Händen, verbeugte sich noch einmal dankend. »Ich hoffe nur, daß ich Ihnen auch einmal einen Stein in den Garten werfen kann«, sagte er dann.

»Ich zeige Ihnen gleich den Gartenzaun«, drohte ihm der Gast aus Monte Carlo lachend. »Es handelt sich um eine Wette, die ich vorhin eingegangen bin.«

»Ich stehe zur Verfügung.«

»Sie sind vor ein paar Minuten durch die Hotelhalle gegangen«, begann Casagrande. »An unserem Nebentisch saß eine Dame allein, eine wirkliche Schönheit —«

Der Manager nickte und lächelte. »Sie sind bereits der dritte, der mich auf sie anspricht«, antwortete er. »Die junge Lady macht Furore.«

»Mit Recht«, bestätigte der vielgereiste Autor. »Sie ist zum ersten Mal in Ihrem Haus?«

»In dieser Saison«, erklärte Sarrasin. »In der vorigen hat sie uns an ein paar aufeinanderfolgenden Tagen die Ehre gegeben — aber auch nur als Passantin.«

Er sah, daß Casagrande weitere Aufschlüsse wünschte und fuhr fort: »Sie ist immer um die gleiche Zeit gekommen, gegen siebzehn Uhr, saß in der Halle, trank Tee, las Zeitungen, immer an demselben Platz — sofern er frei war — und immer allein. Sie wartete auf niemanden; sie ließ sich nicht ansprechen, weder von Herren noch von Damen. Nach etwa einer Stunde verlangte sie jedesmal ein Taxi und verschwand wie Aschenbrödel im Märchen.«

»Aus dem Königsschloß«, hofierte Casagrande den Mann, den er brauchte. »Sie hat auch nicht telefoniert?«

»Nein.«

»Und sie wurde auch nicht angerufen?«

»Einmal«, erinnerte sich der »Oriental«-Manager. »Von auswärts.« Sarrasin dachte angestrengt nach. Er hatte das fotografische Gedächtnis, über das man in seiner Branche verfügen muß. »Wie gesagt, ein Anruf von draußen. Ein Mann; er beschrieb uns die Dame, und wir schickten einen Hotelboy mit der Tafel los, um sie in der Halle zu suchen.«

»Dabei muß doch ihr Name gefallen sein?«

»Jetzt überfordern Sie mich aber, Monsieur Casagrande«, entgegnete der Manager. »Aber irgendwie ist mir im Gedächtnis haften geblieben, daß es ein Dutzendname war: Müller oder Miller oder so ähnlich. Es fällt mir deshalb ein, weil ich mich damals wunderte, daß eine so ungewöhnliche Frau so einen Durchschnittsnamen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Verwunderung war natürlich idiotisch«, wies er sich selbst zurecht.

»Sagen Sie, Meister, Sie sind doch vom Fach: Hoteliers sind schließlich wahre Psychologen. Was halten Sie von dieser Vielbeachteten?«

»Schwer zu sagen —«

»Versuchen Sie’s.«

Sarrasin schüttelte den Kopf. Er wollte sich nicht durch eine Fehleinschätzung blamieren.

»Was ist sie?« fragte Casagrande. »Amerikanerin, Deutsche, Italienerin?«

»Sie könnte auch Französin sein, sogar Südamerikanerin.«

»Auf was würden Sie tippen?« pirschte Casagrande sich von der anderen Seite an. »Gehört sie zur Creme de la creme? Ist sie Halbseide oder sogar Halbwelt?«

»Ich nehme nicht an, daß eine dieser drei Möglichkeiten auf sie zutrifft«, entgegnete der Manager. »Aber das ist reine Gefühlssache.«

»Was könnte sie sein?«

»Eigentlich alles«, spielte Sarrasin das Orakel von Delphi. »Aber wie ich Sie einschätze, Monsieur Casagrande, werden Sie die Nuß vermutlich bald geknackt haben.« Er lächelte gewinnend. »Ist das Ihre Wette?«

»So ungefähr«, antwortete der Weltenbummler. »Ich halte am Freitag im Rahmen der Rotary-Veranstaltung eine Lesung. Ich würde die schöne Unbekannte gerne dazu einladen — ganz ohne Hintergedanken übrigens —«

»Natürlich«, erwiderte der Direktor beflissen. Hotelmanager sind Gentleman-Kuppler.

»Die Veranstaltung findet ja ausnahmsweise mit Damen statt. Es könnte nicht schaden, ein solches Schmuckstück im Vordergrund zu plazieren. Sie wissen ja, mein Lieber, Kunst braucht, Reklame; deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie der Dame meinen Roman mit einer Empfehlung von mir überreichen lassen würden.« Casagrande übergab ihm seinen literarischen Beitrag zur Bekämpfung der Alterungsvorgänge zwecks Erlangung langwährender Jugend.

»Wird umgehend erledigt«, versprach der Hotelmanager, und sein Gesicht wirkte viel zu ausdruckslos, um seine Gedanken ganz zu verbergen.

»Vielen Dank«, verabschiedete sich der Autor.

»Ich komm’ gleich mit«, sagte Sarrasin und erhob sich. »Ich werde meine Leute noch einmal befragen. So ich fündig werden sollte — Sie sind ja noch eine Weile in der Halle?«

Der Hotelgast nickte bestätigend und ging neben ihm in den Vorraum mit der Rezeption.

Es war wie geprobt: Während die beiden Herren noch ein paar höfliche Worte wechselten, erhob sich Aschenbrödel und zeigte den Gästen in der Halle bislang Verborgenes. Die Dunkelhaarige war etwa einen Meter siebzig groß, sie hatte schmale Hüften, makellos geformte Beine und einen melodischen Gang.

»Lupus in fabula«, machte der Manager seinen Begleiter auf die ihnen Entgegenkommende aufmerksam.

Sarrasin schaltete sofort, seine Position als Hoteldirektor nutzend. »Pardon, Madame«, sprach er die Unbekannte an. »Monsieur Casagrande, der berühmte Schriftsteller, hat unser Haus beauftragt, Ihnen sein neuestes Buch zu überreichen.«

»Mir?« fragte sie mit heller, angenehmer Stimme. »Warum?«

»Ich nehme an, daß er es Ihnen am besten selbst erklären kann«, gab Sarrasin den Schwarzen Peter weiter. »Darf ich verstellen: Mr. Cecil Casagrande.«

Der Literat verbeugte sich höflich und verfolgte, wie sie unschlüssig das Buch übernahm, einen Blick auf den Umschlag warf, der einen älteren, jedoch nicht alten Elegant mit einer jüngeren, jedoch nicht zu jungen Dame bei offensichtlicher Annäherung zeigte. Dann betrachtete sie den ergebenen Romancier. Es war der kritische Moment für ihn, und Casagrande hatte vor allem bei jüngeren Damen schon erlebt, daß sie nach der Präsentation sagten: »Sie sind Schriftsteller, interessant — was schreiben Sie eigentlich?«

»Ich hab’ Sie schon gelesen, Monsieur Casagrande«, sagte die Schöne in Englisch mit einem kaum hörbaren deutschen Akzent. »Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.«

Sie sah ihn voll an mit ihren leuchtend braunen Augen, und es war dem Romancier, als versprühten sie Funken; er müßte aufpassen, das sie bei ihm nicht in ein Pulverfaß fielen. Sie nickte ihm lächelnd zu. Ein Hauch von Herbheit ging von ihr aus, von Frühlingsfrische, von unverbrauchtem Leben.

Sie wollte weitergehen, zögerte noch einmal.

»Pflegen Sie Ihre Bücher eigentlich immer zu verschenken?« fragte sie.

»Nur an Prinzessinnen«, erwiderte er. Komplimente liefen ihm flüssig über die Lippen wie edler Wein, Spätlese.

»Da schätzen Sie mich allerdings entschieden zu hoch ein, Mr. Casagrande«, entgegnete sie mit einem Lächeln, das ihr Gesicht von innen heraus erhellte.

»Es ist nicht wichtig, was man ist, sondern wie man von seinen Mitmenschen eingeschätzt wird, Madame«, erwiderte der Autor. »Natürlich hatte ich — wie sagten Sie — bei meiner Aufmerksamkeit einen Hintergedanken.« Er merkte, wie sie sich in Erwartung eines Angriffes versteifte. »Davon abgesehen, daß es meiner Eitelkeit guttut, habe ich ein Attentat auf Sie vor —« Casagrande brachte seine Einladung zur Lesung an, und die Schöne entspannte sich.

»Am Freitag?« überlegte sie laut. »Vielleicht — wenn es sich ermöglichen läßt«, setzte sie unverbindlich hinzu.

»Ich würde in der ersten Reihe einen Ehrenplatz reservieren lassen«, entgegnete Casagrande rasch. »Darf ich fragen auf welchen Namen?«

Ihr Lächeln war eine höfliche Absage.

»Soll ich den Stuhl für Mrs. Sphinx belegen lassen?« startete er einen zweiten Anlauf. »Wir alle zerbrechen uns den Kopf, wer Sie sein könnten —«

»Besten Dank für Ihr Interesse«, ließ sie ihn wieder abblitzen. »Verraten Sie mir wenigstens, was Sie sind — Amerikanerin, Deutsche —«

»Well«, erwiderte sie. »Meine Mutter war Ungarin, mein leiblicher Vater Deutscher, mein Adoptivvater Amerikaner. Meine Kindheit verbrachte ich in Deutschland, in den Staaten und auch eine Weile in der Schweiz; dann zog ich nach Paris und später nach Rom.« Sie nickte ihm noch einmal zu. »So, jetzt können Sie ausrechnen, was ich bin«, sagte die junge Frau. »Und wenn Sie die Lösung gefunden haben, sagen Sie mir bitte Bescheid — ich wüßte es selbst sehr gern.«

Sie ging zum Hotelausgang. Gäste blieben stehen; sie mußte zwischen ihnen hindurch, aber sie lief nicht Spießruten, sondern schritt durch eine Allee der Bewunderung; es war der Abgang einer Primadonna assoluta.

»Erstaunlich, was?« sagte der Hotelmanager. »So langsam macht die Dame auch mich noch neugierig.«

»Eine höchst interessante Person«, erwiderte Casagrande. »Vielen Dank noch für Ihre Hilfestellung«, verabschiedete er sich, um an seinen Tisch in der Hotelhalle zurückzugehen.

»Leider ist unsere schöne Nachbarin gerade gegangen«, empfing ihn Odermatt.

»Ich hab’ die Dame soeben getroffen und zu meiner Lesung eingeladen«, entgegnete der Starschreiber mit großartiger Beiläufigkeit. »Und sie hat zugesagt?« fragte Martin Laimer.

»Nicht direkt«, räumte Casagrande ein. »Aber welche Lady würde denn auf Anhieb ja sagen?« Er sah auf die Uhr. »Was könnten wir mit dem heutigen Abend anfangen?«

»Ich muß mich noch vom Flug erholen«, antwortete Ponsardin. »Ich bitte mich ebenfalls zu entschuldigen«, kam von dem Industriellen Laimer eine zweite Absage. »Ich treffe mich mit einem wichtigen Thai-Geschäftsfreund. Wir wollen unsere Niederlassung in Bangkok ausbauen.«

»Und Sie, Mr. Whitehead?« fragte Casagrande.

»Ich bin zu alt für solcherlei Exkursionen«, erwiderte der Börsen-Jobber. »Ich überlasse sie lieber jungen Hüpfern wie Ihnen, Gentlemen.«

Ein paar Stunden später zogen sie los, zu dritt: Casagrande, der Bangkok-Kenner, war der Lotse, sein Verleger Bannister der Aufpasser und Odermatt der Voyeur des Sündenparadieses. Sie gingen zunächst zu Fuß durch die lange Silom-Road in Richtung Lumpini-Park. Hier liegen die Geldpaläste der Banken, die diplomatischen Vertretungen und die Büros der Fluglinien. Tagsüber ist dieser Stadtteil ein strebsames Viertel, aber wenn es dunkelt, gehört es zu den noch weit strebsameren Nachtschattengewächsen.

Obwohl sich die Tageshitze etwas abgekühlt hatte, kochte Menam-Babylon Bangkok by night: Autos jagten Fußgänger, Fußgänger waren hinter sexotischen Geschöpfen her. Die Gehsteige quollen über; lustige Thaiboys nebst hübschen Begleiterinnen mit geschlitzten Augen und geschlitzten Röcken, niedliche Teepuppen, doch grazil und springlebendig, promenierten in einem pausenlosen Strom. Ein bißchen sahen sie aus wie die junge Königin Sirikit. Wenn auch mehr schnellebig als blaublütig, machten sie deutlich, daß zwei Drittel aller Bewohner der Metropole jünger als zwanzig Jahre sind.

Amors Abenteuerer und Amors Sehmänner pflügten sich durch das Gedränge, vorbei an Schleppern und Neppern und an den Straßenküchen, deren Duft vom Benzingestank überlagert wurde. »Mein Gott, diese Speisen müssen doch von Bakterien verseucht sein«, sorgte sich Odermatt.

»Die kochen so scharf, daß die Bakterien kaputtgehen«, erwiderte Casagrande lachend.

»Gilt das auch für die Mädchen?« fragte der Schweizer. »Sind die auch so scharf?«

»Die machen sie mit Cayennepfeffer an«, behauptete der Globetrotter. »Das sind Tausenfüßlerinnen der Erotik.«

Odermatts Zunge fuhr über die Lippen bei der Vorstellung, daß diese zierlichen Goldblumen tausend Beine haben könnten. »Das ist schon etwas anderes wie Zürich-Niederndorf«, sagte er, »Außerdem kennt einen hier kein Mensch.«

Sicherheitshalber drehte er sich um.

»Bis auf ein paar Tausend Rotarier«, versetzte Casagrande lachend. »Aber die treiben sich nicht hier herum —«

»Wenigstens nicht alle«, ergänzte er boshaft.

Die Luft war wie warmes Spülwasser, sie legte sich auf den Brustkasten, machte das Atmen schwer. Das Hemd klebte schweißnaß auf der Haut. Rundum plärrte Musik und blinzelten die Neonlichter nervös. In den Massagesalons warteten zahllose Mädchen mit Orchideen im Haar darauf, gepflückt zu werden und dabei den Farangs, den Fremden mit der weißen Haut, eine Gänsehaut zu machen.

Die drei vom »Oriental« hatten jetzt das tiefste Pat Pong erreicht, das größte Lotterviertel der Stadt. »Wollen wir einen kleinen Umweg machen?« schlug Casagrande vor. »Ganz schnell und unverbindlich?«

Bannister brummelte etwas Unverständliches, aber Odermatt war voll bei der Sache. Sie stiegen die Treppe hoch, erreichten den Vorraum der Erwartung: Mädchen hinter einer Glaswand, nebeneinander aufgereiht, zwitscherten wie Vögel in einer Voliere. Sie hatten winzige Bikinis an oder pompöse Abendkleider, hautenge Shorts oder selbstentworfene Phantasiekostüme. Sie waren Nummern-Girls und trugen ihre Zahl sichtbar, bereit, unverzüglich Bestellungen à la carte auszuführen — Appetithäppchen oder große Menüs, wobei jeder Bahtschein zum Handgriff würde.

»Und die Damen nebenan«, erklärte Casagrande, dem es Freude machte, Odermatt und vielleicht auch seinen Verleger in Versuchung zu führen, »die tragen nur ein Kleid aus Wind und Himmel —«

»Was ist das?« fragte der Bankmann kurzatmig.

»So nennt man in der Stadt der Engel das Evaskostüm«, erläuterte der Cicerone des Lotterviertels.

Seine Begleiter nahmen mit den Augen Maß: Bannister noch immer distanziert. Odermatt traf eine theoretische Wahl, und er konnte sich nicht entscheiden, das Angebot überforderte ihn. Das Verlangen gärte in seinem Gesicht. Es lief auf, schwoll an, ließ seine Augen kleiner wirken; sie sahen aus wie Rosinen im Hefeteig.

»Weiter, Freunde«, trieb sie Casagrande hinaus.

»Aber nicht mehr zu Fuß«, stöhnte Bannister. »Ich denke, es reicht jetzt.« Sie winkten ein Taxi heran. Der Wagen hielt mit kreischenden Bremsen. Wie verabredet fuhren die drei zur Sukhumvit Road zu dem großen Fisch-Supermarkt-Restaurant mit dem Slogan: If it swims we have it, und es gab hier tatsächlich alles, was schwamm: Jede Art von Fischen, Krebsen, Hummern, tagesfrisch auf Eis gelegt; Kenner kauften mit dem Zeigefinger, dazu frisches Gemüse, Salate, Gewürze und die Getränke.

Sie zahlten an der Kasse, schoben den Wagen in den Garten, suchten einen Platz und erklärten dann dem Kellner, wie sie die Fische zubereitet haben wollten. Der Mann brachte den Einkauf zu den Köchen, die vor allen Augen in großen Kupferkesseln die Meeresfrüchte brutzeln ließen.

Die Freiluft-Köche waren Meister ihres Fachs und das Restaurant nicht nur pittoresk, sondern auch ein Gourmet-Treffpunkt. Bangkok-Besucher erhielten die Adresse als Geheimtip, der offensichtlich doch zirkulierte, denn das originelle Gartenrestaurant mit der Fisch-Folklore war ständig gut besetzt.

»Zubereitung im Preis inbegriffen«, erläuterte Casagrande, der Weitgereiste, »Nur das Trinkgeld geht noch extra.«

Odermatt war noch immer ein wenig durcheinander. »Vielen Dank für die Pat-Pong-Führung«, sagte er. »Daß es so etwas gibt — ich war schon mal auf der Hamburger Reeperbahn — auf der Ginza in Tokio und im Kopenhagener Tivoli — von Amsterdam gar nicht zu reden —, aber Bangkok schlägt wirklich alles —«

»Gut, daß Sie Ihr Rotary-Abzeichen zu Hause gelassen haben«, spöttelte Casagrande.

»Das ist Zufall«, behauptete der Gnom aus Zürich. »Ich hab’s beim Umziehen vergessen —« Er schenkte sich Wein nach. »Außerdem bin ich kein Knopfloch-Mensch.«

»Zwei Ausreden sind immer schlechter als eine«, belehrte ihn der Autor. »Aber wir glauben Ihnen ja«, besänftigte er gleich wieder, »daß Sie kein Liederjan sind.«

Überraschend schnell servierte der Kellner das Dinner, genau nach Wunsch. Bannister, der beim Einkauf noch die Nase gerümpft hatte, ging noch einmal in den Supermarkt zurück, um einen Lobster zu erstehen, den er sich dann grillen ließ. Odermatt holte zwei Flaschen des hervorragenden Chablis und lud seine Begleiter dazu ein. »In Paris bekomm’ ich ihn nicht besser.«

Leise Thai-Musik hatte es schwer, sich gegen das Stimmengewirr durchzusetzen. Die Gäste waren frohgelaunt; teilweise herrschte Biergarten-Atmosphäre. Die menschliche Annäherung war nicht schwierig, denn die leicht im Wind schaukelnden Lampions spendeten nur schummeriges Licht.

Odermatt saß Bannister und seinem Hausautor gegenüber, genoß den Hummer, den Abend und die Vorstellung, daß er morgen abend allein durch Pat Pong streifen würde. Er wunderte sich, daß ein solches Viertel so nahe bei einem Nobelhotel liegen konnte, aber in der Stadt der Kontraste steht alles auf engstem Raum: Buddha-Tempel und Stundenhotels, fromme Bettelmönche und brutale Heroinhändler, Armut und Verschwendung, Geld und Liebe.

Casagrande sah, daß Odermatts Blick plötzlich starr wurde. Die Augen im teigigen Gesicht weiteten sich vor Überraschung.

»Nicht umdrehen«, sagte der Mann aus Zürich. »Sitzen Sie gut auf Ihrem Stuhl, Casagrande? Am besten halten Sie sich auch noch am Tisch fest. So, und jetzt wenden Sie den Kopf, ganz vorsichtig nach links«, wies er ihn an. »In Richtung des gelben Lampions — übernächster Tisch.«

Der Mann aus Monte Carlo folgte der Anweisung, mechanisch wie eine schnurgelenkte Puppe, mehr höflich als interessiert.

»Dear me«, sagte Bannister, der der Blickrichtung gefolgt war. »Really unbelieveable.«

»Wirklich nicht zu fassen«, stimmte ihm Casagrande zu, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte.

Martin Laimer saß neben der schönen Unbekannten mit der ungarischen Mutter, dem deutschen Vater, dem US-Adoptiv-Daddy und der Jugendzeit in vielen Ländern der Erde. Im spärlichen Licht wirkten die beiden wie ein Liebespaar; sie machten auch keine großen Umstände zu verbergen, daß sie einander nahestanden.

»Alle Achtung«, stellte der Geldmann fest. »Dieser Laimer hat uns ja ganz schön geleimt —«

»Richtig schlitzäugig, seine Besprechung mit dem Thai-Geschäftsfreunds bemerkte Bannister und lächelte schief. »Seht euch diesen Narren des Glücks an —«

»Der Kerl wirft glatt das Konzept meines neuen Romans um«, grollte Casagrande. »Der bringt meine ganze Dramaturgie durcheinander«, setzte er aufgebracht hinzu.

»Vielleicht hat Mr. Laimer ausnahmsweise einmal mehr Phantasie gehabt als du«, versetzte ihm Bannister einen Seitenhieb.

Sie drehten sich alle drei noch einmal und sahen zum gelben Lampion hin, wie um sich zu überzeugen, daß sie richtig gesehen hatten.

Daran konnte es keinen Zweifel geben.

Adams Letzte

Подняться наверх