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Mein lebenslauf

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Fast dreizehn Jahre bevor mich ein französisches Schwurgerieht zum Tode durch die Guillotine verurteilte, war ich Sybille begegnet, einem Mädchen aus Berlin, das in München lebte. Sie war möblierte Unterinieterin, blond, frisch, ehrgeizig und begabt. Sie war sinnlich und intelligent, Falkenberg-Schülerin, zwanzig Jahre alt, wollte Schauspielerin werden, berufsmäßige Exhibitionistin, stand schon in kleinen Rollen auf der Bühne und somit sehr hoch über mir, wollte nichts von mir wissen und mußte erst Karriere machen, zur Zeit in einem seichten Konversationsstück, das Küß nie in Küßnacht oder so ähnlich hieß und sich konsequent an der Zeit vorbeidrückte. Sie stand – ein hübscher, bunter Fleck inmitten des verstaubten Gebrauchsplüschs – ganz vorne an der Rampe.

Ich saß ganz hinten. Sybille wußte es nicht. Ich kauerte zwischen Claqueuren und Banausen. Sie lachten und weinten über das Schmierenpathos, unter dem ein paar Millionen Leichen aus dem Zweiten Weltkrieg vermoderten. Sie lachten und klatschten willig an den falschen Stellen. Um ihre Gunst bewarb sich Sybille.

Nach dem ersten Akt ging ich nach oben auf die Galerie, um mir von der Proszeniumsloge aus diesen repräsentativen Querschnitt des anlaufenden Wirtschaftswunders zu betrachten, seine ersten Nutznießer: die Kohlenhändler und Schraubenhorter, die Strumpfgewinnler und sonstigen Profiteure nebst ihren unständigen Begleiterinnen: viel Persianer, viel Haut und Schmuck, darunter die ersten Nerze der Herbstzeitlosen wie paradoxe Frühlingsblüten des Wohlstandes.

An diesem Abend erlebte ich, der Außenseiter, die Vision eines gefährlichen Aufstiegs. Ich sah keine Gesichter, sondern Fratzen, horte keine Worte, sondern Parolen. Ich erlebte das Individuum zwischen Managern und Funktionären, korrumpiert durch Brosamen, die vom Tische fielen, gebückt durch die eigene Gier.

Alles drehte sich vor meinen Augen. Ich sah Broschen, Brillanten und Bundesverdienstkreuze, vor dem Haus die Straßenkreuzer, Verteidigung des Abendlandes an der Börse, Kruzifix in der Küche über dem Spülbecken, wo es keiner sieht, unsichtbar auch die Freiheitsglocke im Herzen und der Hortungsgewinn in der Schweiz.

Wieder hieß es: Rechts um, im gleichschritt marsch! Wer nachkleckerte, war wieder Rekrut und bald Verwundeter, des Booms zunächst. Es ging nicht mehr um die Schuld, sondern um die Konjunktur, nicht mehr um erfrorene Beine, sondern um hochliterige Kühlschränke, nicht mehr um Fußlappen, sondern um Nerzstolen. Dem Wahnwitz von der Kollektivschuld folgte der Irrsinn der Pauschalentlastung. Man dachte in Plakaten und hämmerte in Schlagzeilen, teils für den wirtschaftlichen Konsum, teils für den politischen Bedarf. Wir sind ein Rechtsstaat. Übrigens: man trägt wieder hut. Der Antisemitismus ist tot. Persil bleibt persil. Der Kommentator der Nürnberger Gesetze wird Staatssekretär. Denn zigarren raucht der mann.

Ich ließ die Universität, mied Sybille, kündigte die Käseberichterstattung, setzte mich hin, um zu schreiben. Der Narr zwischen totalem Krieg und totaler Motorisierung stieg aus dem Schützengraben des Zweitem Weltkriegs um in das Treibhaus des deutschen Wunders.

Ich kam erst weiter, als ich es aufgab, nach Besetzungsfragen zu schielen, Ausstattungskosten zu kalkulieren, mich um die Dramaturgie zu kümmern, nebst innerer Aussage, um Exponierung, Kontrastierung, um Peripetie und Finale.

Ich wollte versuchen, wie in Blindenschrift zu schreiben. Es sollte konsequent sein, ohne Halbheit, ohne Heuchelei, ohne Moralin, ohne Verbeugung vor Wirtschaftsinteressen, vor den Interessenverbänden, vor der Markenartikelindustrie, vor der Konfessionslobby. Ich wollte keinen Bauchaufschwung machen vor dem Wohlanstand des Bürgertums, nebst seinen nationalen und traditionellen Werten, mit denen es sich täglich die Zähne putzte.

Als ich nach meiner Vergangenheit griff, hatte ich auf einmal das Motiv; wenn auch noch keine Handlung, so doch ein Thema, ein Trauma. Ich schrieb nicht mehr, ich übersetzte bloß noch oder versuchte es wenigstens, folgte blindlings dem dumpfen Druck am Hinterkopf, wollte nur noch diesen dröhnenden, wütenden, rasenden Schmerz loswerden, mit dem sich der Trigeminusnerv dreizackig in den Schädel bohrte, solange die grausame Melodie in den mit alten Luftschutzrollos verdunkelten Raum plärrte, ihn mit Synkopen des Wahnsinns füllte – da sah und dachte ich nichts mehr und duckte mich vor den grellen Dissonanzen der Fanfaren, vor dem Fortissimo des Heldentods, immer wieder die gleiche Stelle: Les préludes – g – fis – g – Rußlandfanfare – Romantisches Poème von Franz Liszt – g – fis – g – Sondermeldung.

Lyrische passage: slawische Landschaft. Forte: Feindberührung. Crescendo: Panzerdurchbruch. Pizzicato: Stalinorgel. Schlagbass: Trommelfeuer. Stakkato: MG-Garben. Piu forte: die Schreie der Verwundeten. Fortissimo: Flammenwerfer. Musikantischer sturm von aggressiven chromatismen und gewaltsam verminderten septimen: zerrissene Därme, Bauchschüsse, Halsdurchschüsse, Augenschüsse; rollende Köpfe, zuckende Lider, erfrorene Hände, rasselnde Panzerketten; Wanzen, Läuse, Ratten; Standgerichte, Aufhängestäbe, Einsatzkommandos; EK am Waffenrock, Triller, Tripper, Truppenbetreuung, Bretter, die die Welt bedeuten, stekken im Schlamm, darauf Tingeltangel, hoch das Bein. Jede Menge Filzläuse, jede Menge Leichen, Panzerleichen, klein wie Schrumpf köpfe, plattgewalzt von Gliedketten, blutig-roter Brei, bald stinkendes Gallert, Endprodukt des Heldentods. Schneeleichen, Sumpfleichen, Wasserleichen, Wüstenleichen, zersetzt von der Witterung, angefressen von den Hyänen und Aasvögeln. Der führer liebt die tiere!

Partisanenkinder zur Vergeltung mit den Köpfen an die Wand geworfen. Der führer liebt die kinder!

Wer noch nicht verreckt ist, brüllt sein Leben in den Dreck. Schreie, schrill, laut, einsam, grell, immer wieder: g – fis – g – Sondermeldung.

Romantisches poème, steigert die spannung bis zur apotheose des dramatischen kodas – g – fis – g, komponiert von Franz Liszt, variiert von Adolf Hitler, erlebt von erfrierenden, erschlagenen, erstochenen, verblutenden, verstümmelten, krepierenden, verreckenden Kameraden. Der führer ist bei seinen soldaten!

Der lange Maier hat einen Hodenschuß und brüllt noch eine halbe Stunde lang. Dem blonden Cerny reißt ein Granatsplitter den Bauch auf. Die Gedärme quellen heraus. Er hält sie in der Hand, betrachtet sie entsetzt, fällt dann um, wird endlich blaß und still. Der führer kennt die nÖte seiner soldaten am eigenen leib!

Dem kleinen Auer rasiert es beide Beine ab. Sie liegen neben ihm, leicht angesengt, als wär’s ein Stück von mir. Schultze II erwischt es am Kopf, schräg seitlich. Beide Augen, pendeln wie herausgedrückt an blutigen roten Fäden. Der führer hat blaue augen und einen magnetischen blick!

Russische Gefangenschaft. Ruhr. Rache. Rübensuppe. Flecktyphus. Schläge. Denunziation. Heimweh. Fortsetzung des Heldentods mit anderen Mitteln. Der führer ist gefallen!

Aus. Vorbei. Passé. Basta. Schluß. Funkstille.

Ich zog die Vorhänge hoch, ließ Licht herein. Die Kopfschmerzen waren weg. Ich gab das Manuskript Sybille zum Lesen. Sie schüttelte den Kopf, lächelte verwirrt. In dieser Nacht blieb sie zum ersten Male bei mir. Wir liebten uns und machten Pläne.

Dann überredete Sybille einen Dramaturgen, mein Stück zu lesen. Ich hatte es G – fis – g genannt. Es wurde umgetitelt: Die Haut am Markt, und ich hieß künftig in den Feuilletonspalten der Zeitungen nicht mehr Paul Kerbach, sondern Gerhard Nobis.

Die Premiere fand in Berlin statt. Mit Sybille als Claudia. Sicherheitshalber fehlte ich. Siebzehn Vorhänge. Lizenzträger Dr. Schonbach (Brillanz ohne Charakter) schrieb in seiner Zeitung: »Das ist die exzessive Explosion einer introvertierten Dynamik, eine einzigartige Exklamation des Individuums, animalischer Intellekt und intellektuelle Animalität.«

Die Haut am Markt wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erlebte Aufführungen in London, Paris, Rom, Hamburg, Göttingen und Hintertupfing.

Ich fuhr von Aufführung zu Aufführung, wurde um Interviews gebeten. Die Zeit hob mich auf ein Karussell des Erfolgs, wirbelte mich herum, überschüttete mich mit Tantiemen.

Kurz nach der Uraufführung heirateten Sybille und ich. Bald wurde Miggi, unsere Tochter, geboren.

Immer wieder versuchte ich, ein zweites Stück zu schreiben, aber ich kam über die Ansätze nicht hinaus. G – fis – g hatte ich fast somnambul geschrieben, jetzt, da ich ein Stück bewußt erarbeiten wollte, fehlte mir die Fähigkeit. Ich spürte, daß es die subversive Rache der Konjunktur war, deren Negation mich in ihren Genuß gebracht hatte.

Dann aber, Jahre später, kam ein anderes Drama auf mich zu: ich war wiederum nicht sein Urheber, sondern bloß sein Medium. Ich schrieb nicht mehr, ich erlebte es: Meine Haut am Markt.

Die Haut am Markt

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