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III

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Es war fast siebzehn Uhr, die kleine schlauchartige Espressostube neben dem Luitpold-Theater füllte sich mit Männern und Mädchen, mit Nullen und Nutten, mit Hunden und Hausfreunden und anderen Produkten geselliger Langeweile. Unter ihnen an der Bar kauerte ich, Mann einer nervenkranken Frau, und trank Schnaps.

Ich hatte Gerd nicht erreichen können und auch meinen Flug nach Paris versäumt. Ich verschob die Abreise auf morgen, nahm mir ein Zimmer im Bayerischen Hof, weil ich nicht mehr nach Starnberg fahren wollte, wo wir wohnten. Es war zwar eine praktische Lösung, aber auch schon eine erste Flucht vor Sybille.

Der föhnige Vorfrühlingstag war für die Jahreszeit viel zu warm. Durch die Stadt wehte linde Krankenhausluft. Sie machte Gesunde zu Patienten. Mein Kopf schmerzte. Ich nahm Schnaps dagegen. Ich war nie ein großer Trinker gewesen, aber heute bekam mir der Alkohol. Ich konnte nicht an Sybille denken, ich wollte mich nicht an den Professor erinnern.

Ich hatte mit dem Internat telefoniert; nach achtzehn Uhr durfte ich mir meine Tochter ausleihen. Miggi war ein aufgewecktes, frühreifes Kind; ich mußte mein Gesicht erst ordnen, bevor ich ihr gegenübertreten konnte.

An der Theke hantierte ein hübsches Mädchen mit geschickten Bewegungen. Sie hatte ein genormtes Gesicht, rötliche Haare und ein parates Lächeln.

»Hast du schlechte Laune?« fragte die Rotblonde einen Stammgast neben mir.

»Nein.«

»Liebeskummer?«

»Unsinn. Gib mir lieber noch einen Whisky.«

»Egoist.«

»Dann also zwei.«

»Du könntest mich ruhig mal ansehen.«

»Lohnt es sich?«

»Das weißt du morgen früh«, antwortete das Mädchen ironisch.

»Wo ist denn Gerdi?« fragte der Stammgast.

»In der Bredouille.«

»Wer ist schuld?«

»Herr Plural«, versetzte sie.

Sie lachten beide. Es ging unter im Wechselspiel von Nichtigkeit und Wichtigkeit.

»Sonst ist mein Mann sehr großzügig, aber mit Geld …«

»VW-Aktien, ein Riesengeschäft.«

»Ich würde schon in seinen Salon gehen, aber er zieht doch alle falsch an: Bei ihm sehen die Damen wie Dirnen aus und die Dirnen …«

»Die ist doch andersrum – aber vielleicht könnte man doch einmal …«

»Da geht man nach Berlin, schnappt sich so einen verhungerten Arzt aus dem Ostsektor, der macht es schnell und lautlos, für hundert Mark West –«

»Nur feminine Männer taugen was im Bett.«

»Das ist doch der mit der Mäusetour; weißt du, er kauft den Mädchen immer italienische Modellschuhe, sie müssen sie anziehen, und dann läßt er die weißen Mäuse auf sie los.«

»Er hat den ganzen italienischen Charme, seitdem ich ihn kenne, glaube ich wieder an das Leben. Er liest Dante vor, ich Goethe – und dann …«

Ich zählte, sah in den Spiegel dabei, genau dem Mann ins Gesicht, der auf mich zukam – und war betroffen, ihn zu sehen. Es schien, daß ich in dem Maße kleiner wurde, in dem er nach oben wuchs. Er trug einen gekonnten Maßanzug; aber er ging, als ob er statt der modischen engen Hosen Schaftstiefel trüge.

Er war mein unterschlagenes Trauma aus dem Kriege – und er zeigte noch das gleiche arrogante Lächeln wie damals vor dreizehn Jahren, als er mich, mitten im Ansturm russischer Infanterie, aus einem brennenden Panzer gerissen hatte. Ich war schwer verwundet, eingeklemmt, und wäre ohne ihn einer der Unbekannten Soldaten geworden, derer man sich an den staatlich festgesetzten Gedenktagen pauschal erinnert. Er hatte mich in ein Loch gezerrt und seine Maschinenpistole hochgerissen. Er zielte mit seinen wasserhellen Augen, in denen Verachtung schwamm, so gelassen auf die Russen, als schösse er auf Tontauben.

René nickte mir zu. Er legte die Hand auf meine Schulter; sie wich der Berührung wie von selbst aus.

»René, du?« sagte ich; meine Backenmuskeln versteiften sich gegen das Lächeln.

René Debring war älter geworden, sonst aber wenig verändert: starre Pupillen, kurze glatte Haare von einem farblosen Blond, das sein Gesicht noch fahler machte, die Lippen deformiert vom Zynismus, eine leicht vorstehende Nase, schmal, spitz und aggressiv, wie ein feststehendes Messer.

Er hob die Oberlippe, als ob er einen Pistolenhahn spannte, lächelte dabei lautlos, mit leicht gekrümmten Raucherzähnen; seit dem Krieg war die Verachtung in seinen Mundecken hängengeblieben.

»Deine Wiedersehensfreude ist umwerfend«, sagte er und behielt die Hände in den Taschen. Sein Hals wurde lang, er schraubte den Kopf hoch, der sich den anderen zuwandte, in selbstherrlicher Überlegenheit, die nicht sprach, sondern befahl. Der starre Ausdruck der Augen gab ihm etwas Fischiges, etwas Raubfischiges.

»Ich hörte, du seist gefallen«, sagte ich schließlich.

»Irrtum.«

»Gratuliere.«

»Danke. Einen Schnaps?«

»Bitte«, erwiderte ich.

»Kognak?«

»Ja.«

»Zwei Doppelte«, rief er dem Barmädchen zu.

»Nein«, wandte er sich dann wieder mir zu, »ich bin rechtzeitig verschwunden. Kleiner Umweg via Waffen-SS zur Fremdenlegion.«

»Warum?«

Er winkte ab.

»Wo warst du?«

»In russischer Gefangenschaft.«

»Wie lange?«

»Drei Jahre.«

»Darum«, sagte er mit Betonung, nickte und assistierte seine Lektion mit einem blasierten Lächeln.

Wir tranken aus. Seine Hand zitterte leicht. Das war neu. Sonst war er ganz der alte geblieben. Der beste Soldat und der gefühlsarmste Mensch, dem ich je begegnet bin. Nicht nur ich. Auch die anderen Kameraden des Regiments hatten es so empfunden. Soldaten, von denen er nicht wenige aus verzweifelten Lagen herausgeboxt hatte; auch hinterher konnten sie ihn nicht leiden.

»Was machst du?« fragte ich ihn.

»Oh«, erwiderte er, »Neugierde oder Teilnahme?«

»Ganz wie du willst.«

»Du bist recht kühl zu einem alten Kameraden«, antwortete er spöttisch.

»Ich bin in Eile.«

»Nein«, sagte er lachend, »wir bleiben noch ein Weilchen zusammen. Oder hältst du nichts mehr von Zufällen?«

Es war eine Anspielung auf die Szene im brennenden Panzer – er strich sie mit einer Geste gleich wieder weg. Damals wollte ich mich hinterher bedanken. »Warum?« hatte er gefragt und wie jetzt die Brauen über seinen leicht mongoloiden Augen hochgezogen: »Das hättest du doch für mich auch getan. Oder nicht?«

Ich bestellte die nächste Runde.

»Wo lebst du?« fragte ich, weil mein Schweigen peinlich wurde.

»Teils in Cannes, teils in Paris.«

»Als was?«

»Ganz gut.«

»Ist das ein Beruf?«

»Nein, aber ein Leben.«

»Verheiratet?«

»Wer nicht? Du bist übrigens neugieriger geworden.«

Ich sah in sein ungesundes Gesicht mit den tiefen Furchen, betrachtete die Haut, die das Leben gegerbt hatte. »Wir werden eben alle einmal älter«, sagte ich mit Nachdruck.

Er winkte ab, hatte die Anspielung begriffen.

»Indochina«, erläuterte er, »gemessen daran war Rußland fast ein Vergnügen, alter Kriegskamerad.«

Wir schwiegen wieder. Teller klapperten, Registrierkassen tickten, ein Glas wurde umgeworfen, ein Hund winselte nach seinem Herm, eine Schnulze schmalzte, der Besitzer machte die Honneurs, ein Kurzatmiger reklamierte seine Erbsensuppe.

Erbsensuppe. Witebsk. Stellung nicht zu halten. Temperatur 18 Grad unter Null! Eiserne Verpflegung vor drei Tagen aufgegessen. Zuckerrüben ausgegangen. Schließmuskel entzündet. Darm leergeschissen. Hohle Augen. Nebel im Hirn. Schwäche in den Gliedern. Hunger. Würgender, bohrender, beißender, lähmender, wahnsinniger Hunger. Dicht am Kannibalismus vorbei. Pferdekadaver: drei Tote durch Fleischvergiftung. Nacht. Kälte. Der Soldat beißt ins Gras. Gras gibt es hier nicht, bloß Sumpf, Eis, Dreck, Raben, Krähen, Wölfe, Frost. Die Gedanken in der Hexenküche. Zu Hause. Am gedeckten Tisch. Kerzenlicht. Silberbesteck. Leibspeise. Mutters Küche, eine Fata Morgana. Kalte Küche Rußlands. Hunger wie Wölfe. Schlappe Wölfe. Gierige Wölfe. Bis auf den Leitwolf: frißt nicht und hat keinen Hunger, friert nicht und hat keine Nerven: Oberleutnant René Debring, Beutedeutscher aus dem Elsaß, hockt im Loch, gähnt, reißt Witze, soll die Stellung zurücknehmen, weigert sich, hält sie, nur so aus Zeitvertreib. Ihm schmeckt der Krieg. Er will marschieren, schießen, kämpfen, töten, niederbrennen. Frei von Haß. Sachlich, intelligent. Sein Metier.

Der Wind dreht, kommt von drüben, von den Iwans, säuselt leicht, jetzt nicht nur zu hören, auch noch zu riechen: Erbsensuppe. Dicke Erbsensuppe. Hausrezept: man nehme 500 Gramm Erbsen, 200 Gramm Speck, zwei Liter Wasser, eine Zwiebel, etwas Salz und Pfeffer. Man esse bei den Russen mit und werde satt davon.

Musik. Lautsprecher, Verstärker, Rückenwind. »Gute Nacht Mutter, gute Nacht.« Kitsch, egal. Sehnsucht frißt Hunger. Augen flackern. Einer weint. Tränen gefrieren bei minus 18 Grad.

Musik aus. Durchsage. Propaganda. Klares Deutsch:

»Kommt zu uns, werft eure Waffen weg! Wir behandeln euch gut. Es gibt Erbsensuppe.«

»Erb – s en – sup – pe –«, wirft der Wald den Schall zurück.

Sie schlucken die Silben. Werden nicht satt davon. Kauern im Loch. Vergessen Gott, die Mutter, die Braut. Wollen nicht mehr hoffen, nicht beten, nicht träumen, nicht warten; wollen fressen. Nichts wie fressen. Gierig. Bis sie umfallen. Bis es sie zerreißt. Fressen auch aus einem Schweinetrog, bereit zu allem: Baumrinde, Wurzeln, Kartoffelschalen, Ratten, Mäuse, Kadaver, Regenwürmer, alles – nur kauen, schlingen, würgen, fressen, beißen, schlucken.

Oberleutnant René Debring grinst mit gelben Raucherzähnen, stumm, geht nach rechts, auf die andere Seite, verschwindet in der Nacht, verschwommener, gehaßter Schatten, der immer wiederkommt. Scheißrussen, haben zu fressen – und treffen diesen Kerl nicht.

Marschmusik. Musik aus. Neue Durchsage. Worte, Propagandaworte.

»Kommt zu uns, habt keine Angst. Freßt euch satt! Werft die Knarre weg, Kameraden! Erbsensuppe mit dicken Speckbrocken, gebräunten Zwiebeln, gewürfelten Kartoffeln, appetitlich zubereitet, dick eingekocht, Wodka als Nachtisch. Erbsensuppe! Schickt einen Mann! Wir tun ihm nichts! Ihr werdet heute satt. Unsere Küche ist die ganze Nacht offen. Die Suppe ist dick. Der Löffel bleibt stecken.«

Erb – sen – sup – pe.

Einer dreht durch, springt auf, haut ab, geht nach drüben, gierig, aufrecht, breitbeinig. Am Angelhaken des Hungers, gezogen von der russischen Gerte, tut weh, beiß drauf! Kann man auch nicht fressen.

Noch 50 Meter. Der Narr mit den Kochgeschirren lebt noch. Es klappert. Blech auf Blech. Gleich Eisen ins Fleisch, in den Bauch, oder in den Hals, oder durch den Mund, oder sonstwohin.

Noch 30 Meter. Der Narr lebt, schreit, verschwindet in der russischen Stellung. Ende. Pause. Keine Gefangenen an diesem Frontabschnitt. Weder hüben noch drüben.

Marschmusik. Neue Durchsage:

»Wartet auf den Gefreiten Kumrich. Er kommt gleich zu euch zurück. Mit zehn vollen Kochgeschirren. Folgt seinem Beispiel. Kommt zu uns! Werft die Scheißknarre weg!«

Ein Scheinwerfer. Ein Schatten, Musik. Viervierteltakt. Die Zeit ist Blech. Der Narr kommt zurück. Erreicht die Stellung. Aus den Kochgeschirren steigt der Dampf. Die Erbsensuppe. Der Narr feixt breit, rutscht in den Graben, setzt die Beute ab, genau vor den Schatten – Oberleutlant Debring, der Kompaniechef, der auf einmal wieder da ist.

Kein Wort, ein Wink. Der Narr stellt die Kochgeschirre am Boden ab. Die anderen kommen näher. Wölfe, hungrige Wölfe, brutale Wölfe. Kein Fleisch mehr im Gesicht. Augen klein, tief in den Höhlen. Ein ganzes Rudel umgibt den Leitwolf, atmet schwer.

Oberleutnant Debring lächelt lautlos mit den gekrümmten Zähnen. Steckenpferd: Truppenführung. Nichts mit der Suppe: für einen zuviel, für alle zuwenig, Der Leitwolf winkelt das Bein ab. Die anderen hecheln nicht mehr.

Ein Tritt mit dem Offiziersstiefel. Suppe liegt im Dreck, rinnt träge über den Lehm. Einer legt sich auf den Bauch und schlürft.

Noch ein Tritt. Der Mann erhebt sich. Brühe klebt am Waffenrock. EK garniert mit Erbsen.

Der Bogen muß brechen. Einem wird es zu bunt. Er greift nach der MP, entsichert sie.

Der Leitwolf sieht es, grinst stumm, starrt den Mann an, lange, Sekunden aus Gummi. Der Lauf der MP sinkt nach unten. Die Raucherzähne stellen das Lächeln ein.

Oberleutnant Debring hebt die Hand, zeigt nach drüben. Erbsensuppe. Kübelweise. Eine ganze Feldküche voll. Keiner braucht vom Boden zu fressen. Die Wölfe nehmen die Witterung auf. Gehen auf Vordermann. Gefährliches, reißendes Rudel. Raus aus dem Loch. Hinüber zum Iwan. Der Leitwolf lächelt. Psychologie gegen Propaganda.

Die Wölfe greifen an. Sie springen, sie reißen, sie heulen, sie töten. Feindliche Stellung aufgerollt, neun Tote, vier Vermundete. Eine halbe Gulaschkanone mit Erbsensuppe.

Hurräh! Die Iwans kommen zurück. Greifen an. Munition verschossen. Lage aussichtslos. Zehnfache Übermacht. Stellung nicht zu halten.

Hurräh! Die ersten sind heran. Vorbei der Zauber. Der Leitwolf steht am Funkgerät, Oberleutnant Debring nimmt Verbindung zur Artillerie auf: Feuer auf den Eigenstandpunkt (EST), auf die eroberte Stellung, auf sich, auf die anderen.

Selbstmord auf Bestellung. Die erste Lage jault heran, krepiert mitten im Graben, zerfetzt Freund und Feind. Der Leitwolf überlebt, lächelt stumm. Nächster Volltreffer: sieben Russen, drei Deutsche. Noch ein Einschlag. Wer zählt noch? Artillerie schießt haargenau, großzügig, freigebig.

Vier Mann der Kompanie überleben, darunter Oberleutnant René Debring, der Leitwolf, Stellung gehalten. Für zwei Stunden. Erbsensuppe reicht für eine ganze Woche. Rezept à la Debring. Feuer auf den Eigenstandpunkt (EST). Manchmal glückt es. Meistens nicht.

»Nachdenklich?« fragte René Debring belustigt. Er sah nach rechts, wo das Barmädchen eben dem Kurzatmigen eine dampfende Terrine zuschob. René lächelte lautlos, hatte begriffen, verfügte noch immer über die zwingende Fähigkeit, Gedanken zu, erraten, Menschen zu beherrschen, sie starr zu mustern, sie zu quälen, sie zu provozieren und sie zu faszinieren; Hirn ohne Herz. Maschine ohne Seele. Macht ohne Moral.

»Du hast dich nicht verändert«, sagte ich.

Er nickte beiläufig. »Lebst du in München?«

»Ja.«

»Verheiratet?«

Ich nickte.

»Schiefgegangen?«

»Geht dich nichts an.«

»Immer noch so zimperlich?«

»Lassen wir das.«

»Wie du willst«, sagte er, betrachtete mich nachdenklich von der Seite, sah auf die Uhr, streifte dann mit einem starren Seitenblick die Rotblonde hinter der Theke, die ihm ausweichen wollte. Sie spürte die Blicke seiner Raubfischaugen wie Hände auf ihren Schultern. Hastig drehte sie sich um, aber er verfolgte sie noch im Spiegel, wartete, bis sie das eilig gespülte Glas absetzte, zog die Oberlippe hoch, beugte sich über die Theke, betrachtete sie wie damals die alte Russin – die ihm ins Gesicht gespuckt hatte –, deren Sohn er als Partisan erschießen lassen wollte, bis die fünfzehnjährige Schwester mit ihm ins Bett ging.

»Sie sind hübsch. Ab wann haben Sie frei?«

»In einer Stunde.« Ihre Augenlider zuckten.

»Gut, dann gehen wir zusammen.«

»Nein, aber das …«

»Sie kommen mit mir«, befahl René.

Sie wagte sich nicht von der Stelle zu rühren, stand da wie hypnotisiert, in plötzlicher Angst.

»Und Sie wissen auch, warum.«

Wasser lief über ihre Iris. Sie riß sich fast gewaltsam los, sah sich hilflos nach dem Chef um. René stand da und wartete, gleichgültig, bis er wieder seinen Blick gegen sie einsetzen konnte, um seine abstoßende Anziehung mit spielerischer Brutalität vorzuführen.

»Sei unbesorgt«, sagte er dann, »sie interessiert mich nicht. Den Abend verbringen wir zusammen. Ein so begeistertes Wiedersehen muß gefeiert werden. Wo wohnst du?«

»Im Bayerischen Hof«, versetzte ich.

»Trifft sich gut«, entgegnete Debring, »wir wohnen unter einem Dach.« Er sah dem Barmädchen zu, das jetzt verängstigt in der anderen Ecke die Gläser spülte, wandte sich dann wieder mir zu: »Mein Umgang mit Frauen mißfällt dir noch immer?«

Das Mädchen war mit den Gläsern fertig, griff nach den bereits gespülten, setzte sie grundlos noch einmal unter Wasser.

»Du änderst dich nie«, fuhr er gelassen fort, »teils Idealist, teils Romantiker. Aber wenn man genau hinsieht, sind es doch bloß die Keimdrüsen.«

René hatte sich selbst das Stichwort gegeben; was jetzt kam, kannte ich auswendig, noch nach zwölf Jahren.

»Zwei Dinge hat der Mensch: Intellekt und Sex, Kopf und Unterleib. Die ganze Kunst ist, das auseinanderzuhalten. Gefühle sind sublimierte Triebe, weiter nichts. Man schaltet sie aus, wenn man seinen physischen Bedürfnissen nachkommt.« Er lachte lautlos. »Wo kämen wir denn da hin, wenn die Gedanken auch noch einen Penis hätten?«

Um uns herum saßen und standen Leute, aber keiner hatte uns zugehört. Jeder war damit beschäftigt, sich selbst zu lauschen.

René warf einen Geldschein auf den Tisch.

»Also, um neun, in der Hotelbar«, sagte er, nickte und stapfte dann gleichmütig aus dem Espresso: ein Relikt aus dem Krieg, ein Trauma, das ich haßte und doch nicht überwinden konnte.

Ich sah seinen Abgang durch den Spiegel, seine charakteristische Art, in der Tür noch einmal stehenzubleiben, den Hals zu recken, seinen Kopf auszuschwenken wie ein Periskop.

Die Rotblonde kam zögernd näher.

»Ein komischer Kerl, Ihr Freund«, sagte sie.

»Komisch ja«, antwortete ich, »aber nicht mein Freund.«

Ich bestellte noch einen Schnaps. »Für Sie auch«, lud ich sie ein.

»Danke«, sagte sie, »auf den Schrecken nehme ich gern einen.«

Ich ließ mir ein Taxi bestellen. Ich mußte fast zehn Minuten warten, vergaß René und schaltete auf Sybille um, ließ Sybille stehen und ging wieder zu René zurück.

Dann spürte ich, wie der Schnaps die Konturen meiner Gedanken schliff: Ich konzentrierte mich auf Miggi, soweit es die Tiraden meiner Umgebung zuließen, der Menschen an der Bar, die Affären zerlegten, Schlagworte predigten, Aktien kauften, den Leberschaden pflegten, Kuchen aßen und dabei Entfettungsrezepte austauschten, in den Tassen rührten, Ehebrüche goutierten, ihren Chef entließen, Nikotin husteten und ihre Frau betrogen.

»Ein Jammer, daß die italienischen Puffs heuer geschlossen sind. Weißt du, die Italienerinnen, die haben ihren Stolz, da bist du kein Tourist, sondern ein echter Signore.«

»… kann sich doch nicht scheiden lassen, aber er geht fremd wie ein roter Fuchs …«

»… es fehlt überhaupt der Idealismus in der Politik.«

»Ihr Taxi«, rief mir das Barmädchen zu. Endlich lagen Gesundheitsschäden, Bettgeschichten, Börsentips und Schminkrezepte hinter mir.

Die Haut am Markt

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