Читать книгу Hanussen - Hellseher und Scharlatan - Will Berthold - Страница 6
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Оглавление»Einen Moment Geduld noch, meine Damen und Herren«, sagt Erik-Jan Hanussen im Kursaal von Teplitz-Schönau und hebt die Stimme: »Gleich wird es sich entscheiden, ob es mir gelingt, diesen Mord – der sie so bedrängt hat – zu klären.« Das Raunen der dichtgedrängten Zuschauer erstirbt unter seiner erhobenen Hand. »Bitte keine Vorschußlorbeeren. Wie gesagt: Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß das große Experiment dieses Abends gelingen wird. Aber ich darf doch in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß ich bisher einige Verbrechen aufklären konnte, bei denen die Ermittlungen der Polizei nicht weitergekommen sind.«
Die Spannung steigert sich noch einmal. Im Saal herrscht Siedehitze. Der Mord am Gänsemarkt vor einer Woche erschütterte das kleine Städtchen, in dem Kapitalverbrechen äußerst selten sind. Und nun soll er geklärt werden – als Varieté-Coup. Noch wissen die Zuschauer nicht, ob sie zu Augenzeugen eines unerklärlichen Phänomens oder zu Narren eines abgefeimten Betrügers werden: Sie hören, sehen, stöhnen und staunen.
»Es handelt sich – Sie wissen es längst – um den ermordeten Bäckermeister«, fährt der Hypnotiseur fort, als wüßten es nicht längst alle Zuschauer: »Sie kennen den Fall aus der Lokalpresse, und viele von Ihnen haben das Opfer persönlich gekannt. Es gibt eine Reihe von Verdächtigen, mindestens ein halbes Dutzend, aber sie alle haben ein Alibi, das sich nicht erschüttern ließ. Die Ermittlungen der Polizei drehen sich deshalb im Kreise: Zu viele Möglichkeiten und zu wenig Beweise.« Hanussen scheint über seine Körpergröße hinauszuwachsen, er geht in Positur. »Wie gesagt, ich will versuchen, die Lösung zu finden und Ihnen hier – in den nächsten Minuten zu eröffnen, was die Polizei nicht herausgefunden hat. Wenn das zutreffen sollte, werden Sie die Bestätigung morgen in der Zeitung lesen.« Er bricht ab, als fiele ihm jetzt das Sprechen schwer. »Ich bitte Sie nur noch um ein wenig Geduld für meine Vorbereitungen.« Sein Medium kauert reglos im Sessel.
Hanussen redet Martha Farra II zu, streicht mit den flachen Händen über ihre Schläfen. Ihr Blick wird glasig, starr. Sie beginnt zu sprechen. Halblaut. Unverzüglich. Martha Farra ist in Trance. Silben addieren sich zu Worten. Worte ergeben einen Sinn, den nur der Hauptakteur auf der Bühne erfassen kann. Das Medium spricht stockend, leise, fast unhörbar.
Hanussen nickt und fragt zurück.
Auf einmal ist es, als übertrüge sich die Trance von dem Mädchen auf den Meister selbst. Fast gleichzeitig wird das Bühnenlicht gedämpft; der Stahl eines violetten Scheinwerfers huscht über das Gesicht des Hellsehers, bleibt auf ihm stehen. Die blasse Schminke und die lila Stahlen geben ihm etwas Unheimliches – er scheint nicht mehr von dieser Welt zu sein.
Erschöpft richtet sich Hanussen wieder auf, sieht wie blind in den Kursaal. Sein schweißnasses Gesicht ist zerfurcht, die Haare hängen ihm wirr in die Stirne, als er die Worte seines Mediums aufnimmt und in Klartext überträgt: »Ich … ich sehe jetzt den Mörder vor mir«, gibt er wieder, was er durch übersinnliche Fähigkeiten zu erkennen scheint: »Ein junger Mann … ein kräftiger Bursche … sehr groß, nicht sehr ordentlich gekleidet … Ich sehe ihn jetzt ganz nahe. Der Mann wirkt gehetzt, er hat Angst, er wird vom schlechten Gewissen getrieben … Er läuft und läuft … scheinbar ziellos. Er jagt den Bahndamm entlang. Er hat doch ein Ziel; er bleibt stehen. Er horcht.« Erschöpft murmelt der Magier: »Er ist am Ende … er weiß nicht weiter … er will Schluß machen. Die Verzweiflung, ja, die Verzweiflung … sie wird sein Geständnis sein … Der Mann heißt Walter, ein Bäckergeselle. Er steht am Bahnkörper, er starrt in die Nacht … Er wartet auf den Zug …nein, er wartet auf den Tod … Ich sehe eine Lokomotive, die beiden Lichter, die sich in das Dunkel fressen. Raubtieraugen, sie kommen näher.« Hanussens Stimme wird schrill: »Der Mann hat sich auf die Schienen gelegt, quer … gleich … da … jetzt. Die Räder drehen durch … Jetzt – Aufprall, Bremsen quietschen. Langsam kommt der Zug zum Stehen«, sagt Hanussen, der aus der Trance zu erwachen scheint. »Es ist geschehen«, sagt er mit keuchendem Atem. Er sieht benommen um sich, als wüßte er nicht, wo er ist und was er tut. »Es ist geschehen.« Noch immer atmet er stoßweise. Allmählich geht seine Stimme in ein Stöhnen über: »Der Zug … um Gottes willen … aus … Schluß … Gott sei seiner Seele gnädig.«
Hanussen wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Nur mühsam erlangt er seine Fassung zurück; doch bald ist er wieder der große Magier, der Alleswisser: »Der Bursche hatte in die Ladenkasse gegriffen, war dabei von dem Bäckermeister überrascht worden und hat ihn deshalb erschlagen. Walter galt als besonders zuverlässig, deshalb stand sein Name auf der Liste der Verdächtigen an letzter Stelle. Seine Freundin Maria, eine Kellnerin, war sein Alibi; sie hat ihn gedeckt und ausgesagt, daß er während der ganzen Mordnacht bei ihr gewesen wäre. Die Zeugin wurde gestern nachmittag noch einmal einem Routineverhör durch die Polizei unterzogen. Sie machte dabei einen unsicheren Eindruck, blieb jedoch bei ihrer Behauptung. Es muß ihr klar geworden sein, daß sie durch eine Lüge einen Mörder deckt. Und das stand sie nicht länger durch. Sie stellte am frühen Abend Walter zur Rede und teilte ihm mit, daß sie morgen der Polizei die Wahrheit sagen würde. Der Mörder schimpfte, weinte, bedrohte seine Freundin, aber sie blieb standhaft. Der Täter rannte kopflos davon. Er sah keinen anderen Ausweg mehr als die Schiene. Es ist«, sagt der Mann auf der Bühne im Plauderton, »schrecklich, aber wahr, und keiner konnte es verhindern.«
Das Licht geht wieder an. Verwirrte, erhitzte, verstörte ungläubige Gesichter versuchen vergeblich, sich in der Helligkeit zu verbergen.
»Meine Damen und Herren«, sagt Hanussen mit einer Verbeugung: »Ich bin sicher, daß dieses Experiment geglückt ist. Lesen Sie bitte morgen die Zeitungen, vergleichen Sie den Bericht mit dem, was ich Ihnen hier eröffnet habe.«
Die Zuschauer springen von den Stühlen, reden aufgeregt durcheinander. Es ist, als wären auch sie in Trance gefallen und würden sie erst jetzt wieder abschütteln. Ein Mann mit einem eingefallenen Gesicht, in dem die Falten wie Glassprünge wirken, schiebt sich zielstrebig durch das Gewühl, erreicht als erster den Ausgang: Staatsanwalt Dr. Swoboda hastet nach draußen wie ein Feuerwehrkommandant bei Brandalarm.