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Die Sensation bringt den idyllischen Kurort um die Nachtruhe. Wie von Buschtrommeln gerufen, strömen die Menschen zusammen; von Haus zu Haus verbreitet sich die Nachricht von dem aufgeklärten Mord an dem Bäckermeister längst vor der Bestätigung durch die Behörden wie ein Lauffeuer bei Rückenwind. Wenn die Teilnehmer der Massen-Séance nach Hause kommen, lauern ihnen Nachbarn und Bekannte vor der Haustür auf, trotz der kalten Januarnacht oft nur im Schlafgewand mit einem hastig darübergezogenen Mantel, um zu erfahren, wie es wirklich im Kursaal gewesen war, wiewohl sie es längst wissen.

Vorübergehend wird das Kreisstädtchen Teplitz-Schönau, das seit 1918 offiziell Teplice-Sanov heißt, zweisprachig ist, und dessen Häuser sich an die barocke Jöhanniskirche aus dem 12. Jahrhundert anlehnen, zum Nabel der Welt. Von hier aus ziehen sich – zur Freude des Kurdirektors – die Wellenringe der Sensation über die ganze Welt. Der Kurort wird in aller Munde sein, in welcher Sprache man auch immer seinen Namen nennen wird.

Die Wirtshäuser, die schon vor einer halben Stunde dabei waren, dicht zu machen, sind auf einmal von Neugierigen überfüllt. Kein Mensch schert sich in dieser Nacht um die Polizeistunde, schon weil die Uniformierten, manche aus dem ersten Schlaf gerissen, ausnahmslos unterwegs sind, um mysteriöse Zusammenhänge aufzuklären. Sonst steht immer einer an der Theke, der, ermutigt durch Alkohol, gegen die Meinung im allgemeinen Bierstrom schwimmt, aber heute wagt keiner, Hanussens spiritistische Fähigkeiten anzuzweifeln. Der Mann, dem es offensichtlich gelingt, mit seinem inneren Auge Dinge zu sehen, für die normale Sterbliche blind sind, wird gefeiert – und gefürchtet. Das gelöste Rätsel der Bluttat am Gänsemarkt macht ihnen eine Gänsehaut.

Nicht nur für die Zecher in den überfüllten Wirtsstuben ist Hanussen ein Hellseher und kein Hochstapler. Tatsächlich sprechen erste Anzeichen dafür, daß es sich bei Hanussens Darstellung nicht um ein Hirngespinst handelt. Journalisten und Zaungäste, die auf der Suche nach der Unfallstelle an den Schienenspuren entlangeilen, stoßen auf die polizeiliche Abriegelung, werden dort zurückgewiesen und bestätigen nunmehr, daß tatsächlich ein junger Mann vom Personenzug überfahren und getötet wurde und daß es sich bei ihm allem Anschein nach um den Bäckergesellen Walter handelt. Plötzlich spricht sich herum, daß die Kellnerin Maria, die Freundin des Selbstmörders, inzwischen von der Polizei zum Nachtverhör abgeholt wurde.

Vielleicht eilen die Gerüchte ein wenig den Tatsachen voraus, jedenfalls sind sie übereinstimmend. Die ungeduldig erwartete Lokalzeitung wird mit einer halben Stunde Verspätung ausgeliefert und ist, trotz erhöhter Auflage im Nu ausverkauft; sie muß nachgedruckt werden, zum ersten Mal seit ihrem Bestehen.

Unter der Überschrift

NOSTRADAMUS 1928

– es ist eine Anspielung auf den Leibarzt des französischen Königs Karls IX., dessen düstere Prophezeiungen aus dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart weiterwirken – schildert ein mehrspaltiger Bericht Hanussens Auftritt so, wie ihn zum Beispiel auch Staatsanwalt Dr. Swoboda erlebt hat. Auch wenn die Polizei zu Redaktionsschluß die Stichhaltigkeit noch nicht bestätigen könne, spräche doch alles dafür, daß die Behauptungen des Erik-Jan Hanussen durch Tatsachen belegt würden. Absurd wäre unter diesen Umständen der Verdacht auf einen betrügerischen Trick. Es gäbe aber auch keine logische Erklärung des Ereignisses. Der Reporter rettet sich – nicht ungeschickt – in Shakespeares Hamlet und schließt seinen Bericht mit dem Zitat: »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumen läßt.«

Hanussen hat schon manchen Ärger mit der Presse gehabt, aber als er den Bericht des Lokalanzeigers liest, ist er sicher, daß ihn dieses Mal nicht einmal kritische Zeitungen verspotten können. Er legt das Blatt beiseite, zufrieden wie eine Katze, die ein ganzes Mäusenest ausgenommen hat.

»Und das ist erst der Anfang«, sagt Juhn, der Sekretär. »Warten Sie mal ab, was morgen erst die großstädtischen Zeitungen schreiben werden.«

»Seit wann bist auch du Hellseher?« fragt Hanussen lachend.

»Ich bin Journalist«, erwidert der Helfer und Vertraute des Illusionisten. »Und ich kenne die technischen Gegebenheiten – und meine früheren Kollegen. Alle waren vertreten, und ich weiß auch schon zum Teil, was sie an ihre Redaktionen durchtelefoniert haben.« Der Ex-Reporter aus Wien zündet sich eine Zigarette an. »Diesmal haben Sie sich wirklich selbst übertroffen«, lobt er, ohne zu schmeicheln. »Jedenfalls haben Sie gestern abend sogar mich ausgetrickst.«

»Und das will etwas heißen«, entgegnet der Meister. »Aber du solltest dich gewählter ausdrücken. Schließlich ist meine Fähigkeit kein Trickwerk.«

»Selbst ich muß es jetzt wohl glauben«, versetzt der Sekretär, halb ernst, halb spöttisch. »Allmählich werden Sie auch mir unheimlich, Herr Hanussen.«

Er hört es nicht ungern. An diesem Tag kann man ihm alles sagen. Sonst ist der Magier in seiner Umgebung wegen seiner Marotten und Launen gefürchtet. Der geborene Verschwender kann sich mitunter benehmen wie ein verknöcherter Geizkragen. Er kann verletzend wirken, taktlos, selbst aber beleidigt ihn jeder Anflug von Kritik, eine Mimose, die aggressiv ist. Chef und Sekretär sind schon häufig und heftig aneinandergeraten; nach Meinung des übrigen Hanussen-Gefolges war beim einen oder anderen Schlagabtausch der Bruch nur vermieden worden, weil die beiden gemeinsame Leichen im Keller haben.

Heute freilich hat Juhn nichts zu befürchten. Es ist einer der Tage, an denen Hanussens gute Laune Purzelbäume schlägt. Er trägt über dem Seidenpyjama einen Morgenmantel mit den riesigen Goldinitialen: EJH, das Monogramm eines Erfolgreichen, der sein Publikum lähmt, narrt, verhext und fasziniert.

Er hat für sich und seine Begleiter die Beletage des ersten Hauses am Platz gemietet und bewohnt selbst einen Salon mit nebenan liegendem Schlafzimmer. Zur Zeit benutzt die feine Welt Pyjamas und Bettwäsche im gleichen Muster, aber Hanussen, der ständig unterwegs ist, muß damit noch warten, bis er eine feste Residenz haben wird. Der uniforme Snobismus kommt aus Paris, die Seine-Stadt ist in der Mode noch immer führend, aber die Musik spielt in Berlin. Die deutsche Reichshauptstadt gilt weltweit als interessanteste Metropole des Vergnügens.

Wer etwas erleben will, fährt Ende der zwanziger Jahre nicht ins ›Tivoli‹ nach Kopenhagen, nicht zum Piccadilly-Circus in London, nicht auf den Montmartre in Paris. Er reist an die Spree, bewundert die Zuckungen reizvoller Geschöpfe in der letzten Charleston-Wut, des Tanzes, über den die alte Herzogin d’Uzès gesagt hatte: »Seinerzeit – zu meiner Zeit – machte man das nur im Schlafzimmer.« Berlin: Hier wirken ehemalige Gardeoffiziere als Gigolos, als Lohntänzer. Es gibt Etablissements, in denen sich Männer nur mit Männern und Frauen nur mit Frauen im Reigen bewegen. Die Prüderie und Heuchelei der Kaiserzeit schlagen in das Gegenteil um; die berühmte Tänzerin Josefine Baker führt sie im eigenen Haus hüllenlos wie hemmungslos vor: »Man hat seit einiger Zeit seinen Hintern zu sehr im verborgenen gehalten«, schreibt sie geradezu in ihren Memoiren. »Und er ist doch da, der Popo. Ich weiß nicht, weshalb ich ihm Vorwürfe machen sollte. Allerdings gibt es Hinterteile, die so erbarmungswürdig sind, daß sie nur zum Sitzen taugen und zum – na, ja …«

Hanussen zieht es schon lange nach Berlin, aber er wartet noch auf einen ganz großen Knüller als Einstiegsgag. »Vielleicht klappt es diesmal«, sagt er zu seinem Privatsekretär. »Wenn die Zeitungen wirklich ein Feuerwerk über meinen gestrigen Coup abschießen, werden wir schleunigst die Provinz verlassen und«, er nickt seinem Helfer zu, »dann werden wir dieses heiße Pflaster auf den Kopf stellen, verlaß dich drauf.«

Hanussen hat große Pläne; er will eine Zeitschrift gründen, seine Biographie schreiben und ein ›Haus des Okkultismus‹ eröffnen, in dem er einer reichen Klientel den Blick in die Zukunft deuten möchte. Ungeduldig wartet der Illusionist darauf, sich an der Seite von Filmstars zu zeigen, als Freund von Boxchampions, Rennfahrern, Sechs-Tage-Siegern aufzutreten, von Adeligen, Wirtschaftsmagnaten und jeder Art von Prominenz. Er will Schönheitsköniginnen an sich ziehen und auf dem UFA-Gelände in Babelsberg ein und aus gehen. Berlin, der große Pfuhl, die Stadt mit den Ringvereinen, den Filmbällen, der gesunden Luft und den geldbringenden Skandalen, die aufregende Hauptstadt der Superlative. Das große Lotterbett, in dem sich die Moral suhlt. Tummelplatz der Spekulanten, denen die Geldscheine locker in den Brieftaschen sitzen. Auf diesen Schauplatz gehört ein Mann wie Hanussen; erst wenn er zu den Attraktionen der Stadt zählt, hat er den Ritterschlag der Gesellschaft erhalten und kann von der Hauptstadt des Amüsements aus zu Gastspielen in andere Weltstädte starten – als Nummer 1 in seinem Metier: Und das steht dann in allen Zeitungen und nicht nur auf Provinz-Plakaten.

»Und jetzt möchte ich nicht mehr gestört werden«, ordnet der reale Träumer an.

Dann ordert er eine Flasche Schampus beim Etagenkellner. »Sie erwarten Besuch?« fragt Juhn.

»Vielleicht –«

»Damenbesuch? Prophezeiung oder Verabredung?« fragt der Helfer mit der Trickkiste grinsend.

»Vorahnung«, erwidert der Magier und gibt das faule Lächeln zurück.

»Keine Kunst«, mault der Ex-Journalist beim Abgang: »Sie fliegen ja schließlich auf alles, was sich bewegt.«

»Eine wird kommen«, prophezeit Hanussen mit einem anzüglichen Lächeln.

Es ist Eva Pflügler aus Prag.

Der Portier, der Anweisung hat, niemanden vorzulassen, fragt sicherheitshalber bei Hanussen zurück.

»Lassen Sie die Dame zu einer Privatberatung herauf«, erwidert der Magier. »Ich hab’ ihr das gestern in der Vorstellung versprochen – aber sonst bitte keinen mehr.«

Er steht auf, geht der Blondine entgegen, küßt ihr die Hand. »Ich wollte wirklich nicht kommen«, behauptet die Dreißigerin.

»Ich weiß«, entgegnet Hanussen mit einem gewissen Lächeln. »Ich wußte aber auch, daß Sie kommen würden. Und ich bin sicher, daß wir uns gut verstehen werden.« Albernd setzt er hinzu: »Morgenstund’ hat Gold im Mund.« »Es ist nicht meine Zeit«, erwidert die Pragerin. »Aber ich möchte wissen, ob Sie gestern abend Ihre Vorhersage über mich ernst gemeint haben.«

»Ich meine alles ernst, Gnädigste«, versichert der Mann, der die Zukunft deutet, gegen Geld und Beifall.

»Sie werden vielleicht verstehen«, versetzt die gustiöse Witwe angriffslustig, »daß mir ein vier Jahre jüngerer Liebhaber lieber ist als ein Ehemann mit einem dicken Bauch.« »… und einem dicken Konto«, ergänzt Hanussen. »Vergessen Sie das bitte nicht.« Er gibt der Besucherin Feuer. »Aber so ist das nun mal im Leben, Gnädigste. Man bekommt nicht immer, was man will, und dann nimmt man eben, was man bekommt.«

»Sie Philosoph«, erwidert die Besucherin. Der Spott kräuselt die Lippen in ihrem pikant-frivolen Gesicht. Männer, die etwas von ihrem Geschlecht verstehen, können es bei Eva zu etwas bringen, aber dann sollten sie freilich anders aussehen als dieser Dämon mit den dichten Brauen.

Hanussen schenkt Champagner ein, drückt der Blondine ein Glas in die Hand. »Sehr zum Wohl! Auf die Stunde, auf uns, und auf Ihre Zukunft!« Gläser klingen. »Ex!« sagt Hanussen und schenkt sofort nach. Er schnalzt mit der Zunge, und diese Unart paßt durchaus zu dem aufdringlichen Parfüm, nach dem er duftet.

Aber Eva Pflügler läßt sich gerne von ihm animieren, zumal mit einem Getränk, das pro Flasche vierzig Mark kostet.

»Möchten Sie dazu einen kleinen Imbiß, Teuerste?« fragt der Gastgeber: »Kaviar oder …«

»Nein, danke. Ich möchte etwas mehr wissen über das, was mir in meiner Zukunft bevorsteht«, erwidert die Besucherin und setzt hinzu: »Aber nur, wenn es erträglich ist.«

Der Hellseher nimmt ihre Hand, sieht ihr in die Augen. »Es steht nicht schlecht um Sie«, behauptet er dann, »bei Ihnen brauche ich gar nicht viel schönen.«

»Tun Sie das sonst?« fragt die Pragerin: »Wie haben Sie das nur geschafft – diese Tataufklärung?« will Eva Pflügler wissen.

»Das weiß ich selbst nicht«, versetzt Hanussen. »Wissen Sie, Eva, der eine ist musikalisch, der andere farbenblind, und der dritte womöglich ein mathematisches Genie – und keiner kann etwas dafür.«

»Und Sie sind hochmusikalisch und farbentüchtig und auch noch ein Adam Riese.«

»Ich habe noch ganz andere Fähigkeiten«, prahlt Hanussen, »und die werde ich Ihnen beweisen, und zwar bald.«

»Muß ich mich fürchten?«

»Das würden Sie ohnedies nicht. Sie wissen doch, wo Gott wohnt.«

»Und das sind Sie?«

»Nein«, entgegnet Hanussen. »Gewiß nicht, aber vielleicht eines seiner privilegierten Geschöpfe.«

»Am meisten bewundere ich Ihre Bescheidenheit«, versetzt die Blondine keß. Sie ist jetzt schon beim dritten Glas, und ein wenig beginnt sich der Raum bereits zu drehen. Sie möchte den Mann im Morgenrock anheizen und dann schleunigst verschwinden.

Hanussen beugt sich über sie und zieht sie behutsam aus dem Sessel hoch, küßt ihre Wangen, ihre Hand, ihren Mund, er legt den Arm um Evas Schultern. »Komm«, sagt er, »wir vertrödeln nur die Zeit – an so einem wunderschönen Tag.«

Sie will sich wehren, macht sich steif, aber es nützt ihr so wenig wie dem Kaninchen vis-à-vis der Schlange. EJH drängt sie einfach aus dem Salon in den nebenan liegenden Raum mit dem breiten französischen Bett.

»Mit mir nicht«, wehrt sich Eva, als Hanussen beginnt, sie auch mit den Händen auszuziehen. »Genauso habe ich mir das vorgestellt«, protestiert sie.

»Ich auch«, erwidert er keuchend. »Du bist eine schöne Frau, und schöne Frauen werden begehrt.«

Die Vorhänge sind bereits zugezogen. Wie von selbst setzt Musik ein. Schlummerschmalz. Eva Pflügler stemmt sich noch immer gegen den ungeliebten Verführer. Vergeblich. Sie wird diesen dämonischen Kraftprotz genauso über sich ergehen lassen müssen wie andere Frauen und Mädchen vor ihr und nach ihr, die ganz andere Vorstellungen vom Mann ihrer Träume hatten und haben.

Hanussen - Hellseher und Scharlatan

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