Читать книгу Hanussen - Hellseher und Scharlatan - Will Berthold - Страница 8
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ОглавлениеAm Morgen kann sich Kriminalkommissar Molitor nur noch mit Kannen voll starkem Kaffee auf den Beinen halten. Die Stunden der Nacht hängen wie Trimmgewichte an seinem korpulenten Körper. Er ist am Ende seiner Leistungsfähigkeit, aber lange noch nicht am Schluß seiner Ermittlungen. Er muß sich ein paar Stunden hinlegen und ausruhen, aber statt nach Hause zu gehen wird er erneut zu Staatsanwalt Swoboda gerufen.
»Wie weit sind Sie?« empfängt ihn der lange Hagere ungeduldig.
»Der Mord ist geklärt«, berichtet der Kripobeamte. »Wir haben uns die halbe Nacht die Kellnerin Maria noch einmal vorgenommen. Ohne Einschränkung hat sie gestanden, dem Bäckergesellen aus Hörigkeit vorsätzlich ein falsches Alibi gegeben zu haben.« Nach einer kurzen Pause fährt Molitor fort: »Er war in der Mordnacht nicht bei ihr. Maria hat ihrem Freund gedroht, heute bei der Polizei die Wahrheit auszusagen und dadurch den Selbstmord Walters ausgelöst.«
»Und wie hat dieser Scharlatan von diesen Vorgängen erfahren können?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortet der Erschöpfte. »Es grenzt wirklich an Hexerei.«
»Fallen Sie nicht auch noch auf diesen faulen Zauber herein«, brummelt Swoboda gereizt. Auch er müßte ins Bett. Sein erschreckend eingefallenes Gesicht ist grau, plissiert von einer schlaflosen Nacht; er gleicht einem Patienten, der Schwierigkeiten mit der Verdauung hat, aber nicht der Magen macht ihm zu schaffen, seit gestern abend spürt er seine Galle, übrigens zum ersten Mal.
»Ich muß Ihnen gestehen, Herr Staatsanwalt, daß mir jede natürliche Erklärung fehlt«, gesteht Molitor.
»Es muß sie aber geben«, entgegnet der Vorgesetzte gereizt und sieht einen Moment ins Leere. »Haben Sie die Uhrzeit zwischen dem Unfall und Hanussens Auftritt im Kursaal verglichen?«
»Das ist die einzige Abweichung«, erwidert der Kriminalbeamte: »Der Selbstmörder hat sich genau 13 Minuten vor Hanussens Direktschilderung vor den Zug geworfen.«
»Sie haben den Bäckergesellen überwachen lassen?«
»Ja«, antwortet Molitor. »Am Anfang nur aus Routine, wie die anderen potentiellen Täter, aber gestern nachmittag wurde seine Beschattung verschärft.« Er fängt Swobodas fragenden Blick auf. »Die Zeugin Maria hat sich so seltsam benommen – ich spürte, daß etwas faul sein mußte und das Alibi platzen würde.«
»Und der Bewacher hat geschlafen?«
»Keineswegs«, versetzt der Kriminalkommissar. »Aber es ist verdammt schwer, einen Verdächtigen auf freiem Feld zu verfolgen, ohne daß er es bemerkt. Kriminalobersekretär Slowik ist ein äußerst zuverlässiger Beamter, aber er mußte sich außer Sichtweite halten und dabei doch so in der Nähe des Beschatteten bleiben, daß der Kerl ihm nicht entschlüpfen konnte.«
»War er der erste, der den Selbstmord entdeckte?«
»Unmittelbar nach dem Lokomotivführer, gut dreißig Sekunden später.«
»Und 13 Minuten bevor dieser Scharlatan im Kursaal den Vorgang schilderte, als erlebte er ihn gleichzeitig.«
»Richtig«, bestätigt Molitor müde. »Es tut mir leid, aber es gibt einfach keine natürliche Erklärung …«
»Dann werde ich sie Ihnen geben«, entgegnet der Jurist grimmig. »Gestern nach der Vernehmung hat, wie auch immer, Hanussen aufgeschnappt, daß Sie den Bäckergesellen verdächtigen, und er witterte eine Chance, es vor Walters Verhaftung hinauszuposaunen. Vielleicht ließ er ihn selbst überwachen – oder aber Ihr vorzüglicher Slowik hat zuerst Hanussen verständigt statt uns – gegen eine entsprechende Summe natürlich.«
»Ausgeschlossen«, behauptet Molitor. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Dann eben ein anderer, der sofort nach dem Unfall ans Telefon gestürzt ist.«
»Unmöglich, Herr Staatsanwalt«, erwidert der Kripobeamte aufsässig. »Es ist ganz und gar ausgeschlossen, von der Unfallstelle in 13 Minuten an ein Telefon zu kommen.«
»Auch nicht mit einem Auto oder einem Motorrad?«
»Es wurde keines in der Nähe des Unfallorts gesehen. Ich habe mit mindestens einem Dutzend Zeugen gesprochen und einen in meiner langen Praxis seltenen Fall von Übereinstimmung erlebt.«
»Glauben Sie jetzt eigentlich auch schon an Hellseherei?« fragt Swoboda – er spuckt die Worte förmlich aus, und tatsächlich hängt ein Speicheltröpfchen an seinen Lippen. »Auf keinen Fall«, behauptet Molitor.
»Dann klären Sie die Vorgänge gefälligst auf«, befiehlt der Vertreter der Anklage die Quadratur des Kreises.
»Wenn Sie einen Hellseher suchen«, erwidert der Kriminalkommissar patzig, »dann müssen Sie sich an einen wenden, an Erik-Jan Hanussen, zum Beispiel, Herr Staatsanwalt.« Swobodas Gesicht läuft rot an, aber er beherrscht sich und bringt es sogar fertig, trocken zu lachen. »Entschuldigen Sie, Molitor«, zeigt er sich wieder umgänglich: »Ich zweifle weder an Ihrer Tüchtigkeit noch an Ihrem Eifer. Wenn einer mit dieser faulen Geschichte fertig wird, dann sind Sie es. Ich bin nur so durcheinander, weil ich beim Entschlüsseln der Zusammenhänge auch nicht weiterkomme als Sie – und dieser Halunke uns bei der Bevölkerung zum Gespött macht.« Er bietet dem Kommissar eine Zigarette an. »Bleiben Sie um Gottes willen am Ball. Es liegen längst Betrugsanzeigen vor. Recherchieren Sie, wer bei diesem Gauner noch in Privatbehandlung war, wem er gesundheitliche oder finanzielle Ratschläge erteilt hat und wer dadurch geschädigt worden ist. Sehen Sie zu, daß Sie noch ein paar Anzeigen bekommen. Kleinvieh macht auch Mist.« Er reicht Molitor die Hand. »Wenn das stimmt, was in diesem Käseblättchen steht, dann wird der Hellseher in der nächsten oder übernächsten Woche noch einmal in Teplitz-Schönau auftreten – bis dahin sollten Sie so weit sein. Wenn wir ihn nicht schleunigst entlarven, verwandelt er noch die ganze Gegend in ein Irrenhaus.«
»Ich tu’, was ich kann, Herr Dr. Swoboda«, verspricht der Kriminalbeamte.
Der Staatsanwalt nickt. »Verschaffen Sie mir die Spur eines Beweises, und ich garantiere Ihnen, daß ich beim Untersuchungsrichter einen Haftbefehl gegen diesen Hochstapler durchpeitschen werde.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, versetzt Molitor mit einem Anflug von Ironie. Statt sich auszuruhen, geht er zu seiner Dienststelle, um festzustellen, wer gestern nach der Vernehmung Marias nicht sofort nach Hause gegangen ist und womöglich bei einem Glas Bier aus der Schule geplaudert hat – und wer dabei zugehört haben könnte.
Der Fall erinnert den Kriminalisten an Hanussens Reklamegag bei der Nationalbank in Wien. Durch seine Verwandtschaft mit dem Tresor-Franzl damals lagen Vermutungen nahe, die rasch zu Indizien wurden, doch offiziell hat die Polizei in der Donaustadt die Manipulationen nie aufgeklärt, um sich nicht noch mehr verspotten zu lassen.
Aber Teplitz-Schönau ist nicht Wien.