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3. Kapitel

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So verging das Jahr. Vera war wieder so glücklich, wie zu der Zeit als Kind, als es noch den Vater für sie gab. Es fiel ihr zunächst nicht auf, dass Bernd sie von den Menschen, die für ihn wichtig waren, fernhielt und auch nie davon sprach, dass er sie seinen Eltern vorstellen wollte. Zu Tanzvergnügen, zu gemeinsamen Ausflügen und zu bestimmten Freunden, die er in einem Lokal traf, nahm er sie mit. Das war so eine richtige Kneipe, in der Zigarettenqualm und nachdenklich ausgestoßener Pfeifenrauch unter der Decke hingen und die Luft vernebelten. Die Freunde waren ein Kreis von Studenten, die tranken und eifrig debattierten. Sie wollten die Welt verbessern! Es roch nach Bier und Schnaps. So mancher von ihnen blickte im dämmerigen Licht der Kneipe bald aus glasigen Augen in die unvollkommene, spießige Welt, der sie es noch zeigen würden. Es war Ende der sechziger Jahre. Jetzt waren sie dran, die Jungen, jetzt wollten sie alles anders, besser machen als die Alten, als die Generation des verlorenen Krieges, die Schuld auf sich geladen hatte. Prüderie, das war etwas von gestern; freier Sex sollte das Gesetz werden. Hier und da gründeten junge Leute Kommunen, zogen zusammen. Sie sprachen so frei darüber, dass Vera rot wurde. Es war nichts mehr dabei, dass man zusammenzog, wenn man sich liebte oder einfach nur Sex miteinander haben wollte. Hauswirte, die erst einen Trauschein verlangten, waren doch von gestern. Man steckte sich Blüten ins Haar, trug Schlabberkleider oder aufreizende Miniröcke und wollte nur Spaß haben. Man schloss sich verbissen zusammen und protestierte gegen alles, was die Gesellschaft und die Politik vertrat.

Das waren die Kreise von Studenten und jungen Leuten, zu denen Bernd gehörte. Ganz aufgeregt war Vera, als er sie dahin das erste Mal mitnahm. Noch scheu betrat sie eine Welt, die sie bisher nicht gekannt hatte. Zuerst fühlte sie sich geschmeichelt, als sie sichtlich anerkennend gemustert wurde – ach nein, eigentlich wurde ja Bernd dafür bewundert, dass er eine so blutjunge Freundin für sich gewinnen konnte. Doch das begriff Vera noch nicht. Sie hörte Meinungen, bei denen ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Von Entjungferung war die Rede, begleitet von anzüglichen Blicken zu ihr. Wenn auch geflüstert wurde, sie bekam es mit. Das trieb ihr das Blut ins Gesicht. Das mochte sie nicht. Da machte sie Bernd zum ersten Mal eine Szene auf dem Nachhauseweg. Er aber lachte nur, nahm sie in die Arme und sagte: „Ach, lass sie doch! Die verstehen es nicht besser. Solche Anzüglichkeiten fallen nun einmal, daran musst du dich gewöhnen.“

Doch Vera gewöhnte sich nicht daran. Die Freunde waren eben alle schon älter als sie, erfahrener, freizügiger, auch die jungen Frauen, die keine Mädchen mehr waren wie Vera. Auch sie flüsterten manchmal miteinander und lachten so verhalten. Vera spürte, dass sie über etwas sprachen, was sie nicht hören sollte. Es beunruhigte sie. Doch Bernd fühlte sich sichtlich wohl unter ihnen und lachte manchmal selbst über das, was man ihm zuflüsterte. Dann traf sie so ein eigenartiger Blick von ihm. War es Besitzerstolz oder war es Unsicherheit, Angst, sie könnte etwas erfahren, was nicht gut wäre?

Bald hatte Vera den Eindruck, die andern wussten mehr von ihm als sie. Irgendetwas verschwieg er ihr. Eifersucht kam in ihr auf, Eifersucht auf Menschen, die mit ihm vertrauter zu sein schienen, als er es bei ihr zuließ.

„Gibt es etwas, das ich wissen sollte, was du mir verschweigst?“, drängte sie ihn, als sie allein waren.

„Kleines, wie kommst du darauf? Aber nein!“ Er lachte und nahm sie in die Arme.

„Versprich mir, dass du mich nie belügen wirst“, forderte sie.

Er zuckte zurück. „So etwas muss man nicht erst versprechen.“

„Du willst es mir nicht versprechen?“

„Nun hör aber auf! Ich mag solche Szenen nicht! Entweder du vertraust mir, oder du kannst gehen.“ Eiskalt sagte er das.

Sofort ergriff Vera Panik, Angst ihn zu verlieren. Das wollte sie nicht. „Nein, nein, ist gut! Aber du musst verstehen ...“

„Komm her, Kleines! Lass dich von den andern nicht verwirren. Die reden manchmal dummes Zeug. Du musst nicht alles glauben.“ Da war er wieder ganz der väterliche Liebhaber. Er verstand es, sie, die er eben in Panik versetzt hatte, in den Arm zu nehmen und zu trösten.

„Ich will dir ja auch glauben“, stammelte sie.

„Da tust du recht dran“, murmelte er, zog sie zu sich aufs Bett und ließ sie alle Zweifel vergessen.

*

Aber die Zweifel brachen doch wieder auf. Eines Tages, als sie in einem Lokal in fröhlicher Runde mit den andern zusammensaßen, kam die Schwester Alice von Bernd dazu. Ihm war das sichtlich unangenehm. „Aha, das ist also deine kleine Freundin, von der ich gehört habe“, sagte sie, gab Vera die Hand, hielt sie einen Moment fest und musterte sie abschätzend.

Vera wollte sagen, sie freue sich, Bernds Schwester kennen zu lernen, doch dieser seltsam prüfende Blick von ihr ließ sie verstummen.

Die Schwester wandte sich auch gleich den andern zu. „Wisst ihr schon, Daniela kommt aus Amerika zurück“, rief sie in die Runde.

Alle Augen richteten sich auf Bernd. Verblüfftes Schweigen für einen Augenblick, bis sich einer räusperte und fragte: „Ist die Zeit bereits um?“ Dabei warf er kurz einen Seitenblick auf Vera.

„Bin gespannt, was sie erzählt“, überlegte eine junge Frau.

Nun redeten alle durcheinander: – „Amerikanisch kann sie jetzt bestimmt perfekt sprechen“, vermutete jemand und „War bestimmt eine interessante Studienzeit für sie“ eine andere. Bis sich einer vorlehnte, Bernd herausfordernd ansah und rief: „Pass nur auf, vielleicht hat sie sich einen Ami mitgebracht, hahaha!“

Abrupte Stille danach.

„Na und?“ Bernd tat betont gleichgültig.

Eine Frau kicherte, die Männer grinsten vor sich hin.

Vera saß wie versteinert. Sie verstand nicht, was hier vorging. Wer war diese Daniela? Das wollte sie wissen.

Und sie fragte Bernd auf dem Nachhauseweg darum. Er reagierte sofort verärgert. „Jetzt fang nur an, bei jeder Gelegenheit eifersüchtig zu werden. Das kann ich überhaupt nicht haben. Merke dir das! Du kannst nicht auf jede Bemerkung von den andern etwas geben!“

Diesmal nahm er sie nicht tröstend in den Arm, ließ sie einfach vor ihrer Tür stehen und ging allein nach oben.

Vera schlich in ihr Zimmer, fiel auf ihr Bett und weinte, weinte vor Angst, weil sie spürte, ihre wundervolle Beziehung zu Bernd war in Gefahr. Nein, sie wollte nie mehr Fragen stellen, die ihn ärgerten; sie wollte die andern reden lassen, gar nicht mehr hinhören, wenn sie damit nur Bernd halten könnte. Wie sollte es ohne ihn weitergehen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie zitterte bei dem Gedanken, noch einmal verlassen zu werden, so, wie ihr Vater sie damals verlassen hatte.

*

In der nächsten Zeit nahm Bernd sie nicht zu den Treffen der Freunde mit. „Du hast nichts davon. Wir stehen vor einer wichtigen Klausur und besprechen nur alles, was dazu nötig ist. Das ist für dich langweilig“, behauptete er.

Vera war ratlos. Er holte sie auch nicht mehr von ihrer Arbeitsstelle ab. Gelangweilt verbrachte sie die Abende zu Hause. Wenn er nicht da war, wusste sie nichts mehr mit sich anzufangen, lauschte nur zur Treppe hin. Sobald sie dann meinte, seine Schritte zu hören, rannte sie zur Tür.

„Du machst dich lächerlich! Lass ihn gehen, wenn er gehen will.“ Die Mutter beobachtete sie mit Sorge.

„Wer redet denn davon, dass er gehen will!“ Vera wies das entrüstet von sich. Irgendwann holte er sie doch wieder nach oben und ließ sie all ihre Zweifel vergessen. Nein, das wollte sie der Mutter nicht eingestehen, wie sehr sie sich um ihre Liebe sorgte. Und sie gab sich Mühe, alles für ihn zu tun. Was er von ihr auch verlangte, ob er sie in seiner Wohnung putzen ließ, ob sie ihm etwas besorgen sollte oder wann er Lust auf Liebe mit ihr zeigte, nichts schlug sie ihm ab. Wenn sie sich unentbehrlich machte, würde er sicher merken, was er an ihr hatte, und sie nie verlassen, davon war sie überzeugt.

„Was bist du, seine Putzfrau?“, fragte die Mutter, als sie es mitbekam.

Doch Vera ließ sich nicht beirren. Sie begann für jedes gute Wort von ihm, für jede liebevolle Geste, dankbar zu sein. Nur zu Marita sprach sie von ihrer Sorge darüber, dass er sich in seinem Verhalten verändert hatte.

Daraufhin begann Marita auf sie einzureden: „Vera, komm mit zu dem Kreis meines Freundes, wenn Bernd dich allein lässt. Du musst auf andere Gedanken kommen, kannst dich nicht so abhängig von ihm machen.“

Doch Vera schüttelte den Kopf und lehnte ab. „Das wäre, als würde ich ihn hintergehen.“

„Auch wenn er inzwischen eine andere hat?“

„Das glaube ich nicht!“ Vera war entsetzt, wie Marita das denken konnte. Sie gab nicht zu, dass ihr diese Daniela nicht aus dem Kopf ging.

Bis - ja, bis eines Tages ein flotter Schritt von Stöckelschuhen zu hören war, der die Treppe hochkam. Da ging jemand hinauf bis unter das Dach zu Bernd.

Vera stand hinter der Tür und lauschte ins Treppenhaus. Oben wurde die Tür geöffnet. Sie hörte Bernds Stimme, hastige Worte, gleich fiel die Tür wieder ins Schloss. Vera kämpfte mit sich, sollte sie nach oben gehen und ihn überraschen? Was würde sie vorfinden? War es Ahnung, war es Eifersucht? War es Angst, ihn zu verlieren? Schon wollte sie nach der Türklinke greifen, da stand die Mutter hinter ihr.

„Ist es so weit? Spionierst du ihm nach?“

„Blödsinn! Wer wird schon gekommen sein?“

„Ja, wer weiß?“

Vera antwortete nicht, drehte sich um und ging in ihr Zimmer. Aber sie lauschte nur nach oben. Es dauerte lange, bis bei Bernd die Tür wieder zugeschlagen wurde und stöckelnde Schritte die Treppe herunterkamen. Sie hastete ins Wohnzimmer zum Fenster zur Straße hin. Sie wollte sehen, wer das Haus verließ, wer das war, der da von Bernd kam. Es kroch ihr eiskalt über den Rücken, als eine junge Frau heraustrat, vielleicht so alt wie Bernd. Jeder ihrer Schritte zeugte von Selbstbewusstsein. Die wusste, was sie wollte. Weshalb war sie so lange bei ihm gewesen? Die Fremde drehte sich um, blickte suchend zu den Fenstern hoch. Bemerkte sie Vera dahinter? Wie gut sie aussah! Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. Erschrocken trat Vera einen Schritt zurück. Wie selbstsicher diese Frau sich gab. Was, wenn sie ein Anrecht auf Bernd hatte, von dem Vera nichts wusste? Allein bei dem Gedanken, es könnte so sein, geriet sie in Panik.

Jetzt erst bemerkte sie, auch die Mutter stand am anderen Fenster und sah dieser jungen Frau nach. „Eine bemerkenswerte Erscheinung“, sagte sie knapp. Das traf Vera mehr, als die Mutter mit vielen Worten hätte erreichen können.

Vera zögerte nicht mehr. Sie lief an der Mutter vorbei, hoch zu Bernd.

Er öffnete ihr zögernd die Tür. Fast sah es so aus, als wollte er sie nicht hereinlassen. Vera schob ihn zur Seite. Sie konnte ihre Aufregung kaum beherrschen. Er reagierte darauf mit ablehnender Haltung.

„Nanu, mit dir habe ich heute nicht mehr gerechnet“, sagte er kühl.

Vera sah alles, Weingläser standen auf dem Tisch, das Bett war offensichtlich hastig wieder glatt gezogen worden und der Aschenbecher lief über von Zigarettenkippen. Die Rauchschwaden hingen noch in der Luft, obgleich Bernd das Fenster geöffnet hatte.

„Wer war das?“, fragte Vera heftig. In ihr zog sich alles zusammen. Angst, ihr Verdacht könnte stimmen, trieb ihr das Blut durch die Adern, dass es in ihren Ohren rauschte.

„Wie klingt diese Frage? Darf ich keinen Besuch haben?“

„Ich darf wohl fragen, wer das war?“

„In anderem Ton, bitte!“ Ärgerlich ging er zum Fenster und schloss es wieder.

Vera nahm sich zusammen. „Willst du es mir nicht sagen?“

„Wie kommst du darauf? Das war Daniela ...“

„Die Daniela?“

„Ja, die Daniela aus Amerika! Sie gehört zu unserm Studien- und Freundeskreis.“

„Und was wollte sie von dir?“ Veras Blick und Stimme bekam etwas Lauerndes, und noch immer stand sie hilflos herum und zupfte an ihren Ärmeln.

„Nun ist es aber genug! Wird das ein Verhör?“ Er wandte sich von ihr ab und wischte zornig mit der Hand ein paar Krümel vom Tisch.

„Nein, natürlich nicht“, stammelte sie. Sofort, von einem Moment zum andern, schlug ihre Erregung in Furcht um, er könnte sich von ihr abwenden, wenn sie ihn so erzürnte. Tränen würgten in ihrer Kehle. Sie wollte ihn nicht wütend machen. Sie wollte alles tun, damit er sie lieb hatte. Sie bereute, überhaupt gefragt zu haben.

Als sie schwieg, drehte er sich um, sah ihr in die tränennassen Augen, erkannte wohl ihre Hilflosigkeit, nahm sie in die Arme und redete auf sie ein. „Du bist ein Dummchen. Sie hatte nur ein paar Fragen wegen einer Klausur. Daran musst du dich gewöhnen, das wird jetzt öfter vorkommen.“

„Ach so!“ Nur zu leicht ließ sie sich beruhigen, ließ sich tröstend umfangen. Jede Geste schien ihr wieder ein Beweis seiner Liebe zu sein. Wie konnte sie zweifeln.

Gelöst ging sie hinunter und ertrug den misstrauisch fragenden Blick ihrer Mutter. Nein, sie wollte an Bernd glauben. Versprach er ihr nicht seine Liebe, wenn er in liebevoller Stunde zu ihr sagte: „Du bist mir wichtig, Kleines. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne dich zu sein. Ich brauche dich, nicht nur heute und morgen“? Meinte er damit nicht: „… für alle Zeit“, also fürs ganze Leben?

Danach bemühte sie sich noch mehr, alles zu tun, was er von ihr erwartete. Aber es half nichts, als Daniela wieder bei ihm war, er darum keine Zeit für sie hatte, beschlich sie erneut das Gefühl, beiseite geschoben zu werden um einer anderen willen.

*

Bald geschah es häufiger, dass Bernd allein abends wegging und sie nicht mitnahm. Ging er dann zu Daniela? War Vera bei ihm, so fiel es ihr leicht, all ihre Zweifel zu verdrängen; doch sobald sie allein war, kehrten ihre misstrauischen Gedanken quälend zurück.

Und dann begann er von einer Wohngemeinschaft, einer WG, zu schwärmen. Immer mehr Studenten schlossen sich ja in dieser Zeit zusammen, um sich eine Wohnung und die daraus entstehenden Kosten zu teilen. Bald bekam sie mit, dass er oft zu einer bestimmte WG ging. Ob Daniela dort wohnte?

Da sie nun häufig abends allein war, suchte sie wieder die Nähe von Marita. Staunend erkannte sie, wie die sich so leicht und locker in der Beachtung junger Männer sonnte.

„Wie kannst du dich nur so sehr an einen hängen?“, fragte Marita verständnislos. Der Reiz des Neuen bei diesem oder jenem faszinierte sie. Manchmal war sie bis über beide Ohren verliebt; manchmal ließ sie auch eine flüchtige Beziehung bereits sehr intim an sich heran. Das verstand Vera nicht. Wie konnte sie, wenn sie es nicht ernst meinte.

Marita lachte darüber. „Komm mit in meinen Kreis! Du musst auf andere Gedanken kommen, wenn dein Bernd keine Zeit für dich hat“, forderte sie Vera erneut auf.

Doch auch diesmal lehnte Vera es ab. Sie liebte Bernd und hatte ihm gesagt, dass sie ihn immer lieben werde. Dazu musste sie stehen. Aus ihrem Verständnis heraus war sie ihm das schuldig. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte nicht einfach mitgehen, um ein anderes Vergnügen zu finden. Das wäre für sie Verrat gewesen.

„Du bist doch noch nicht an ihn gebunden“, versuchte Marita sie umzustimmen. „Wer weiß, vielleicht macht er sich gerade schöne Stunden und du hängst hier sauertöpfisch herum.“

„Ach, was!“ Vera wehrte es ab. Aber wusste sie wirklich, wo er war und was er gerade tat? Er erzählte ihr nichts davon, redete immer drum herum, gab nie genaue Auskunft, wurde sogar böse, wenn sie zu hartnäckig fragte. Das machte sie Marita gegenüber unsicher.

„Glücklich siehst du nicht aus. Was ist los?“, drängte Marita.

Da erzählte sie ihr von Daniela, und wie sehr sich Bernd verändert hatte, seit diese junge Frau aufgetaucht war. Am Ende versuchte sie es aber gleich zu entschuldigen. „Es ist sicher dumm, mir darüber Gedanken zu machen, schließlich studieren sie zusammen“, sagte sie und zupfte dabei nervös an ihren Händen.

Schweigend hatte Marita zugehört. Doch nun hielt sie ihr die Hände fest und beschwor sie: „Vera, wach auf! Bernd hat niemals ernste Absichten mit dir.“

„Wie kannst du das sagen?“, erregte sich Vera und zog ihre Hände zurück. „Wenn diese Daniela nicht wäre, dann ...“

„...wäre es eine andere!“, vollendete Marita den Satz.

Sprachlos sah Vera sie an. Ärgerlich, abwehrend und ihren eigenen Verdacht wegwischend, schlug sie mit der Hand durch die Luft. „Hätte ich dir nur nichts erzählt! Du verstehst ja gar nichts! Er hat eben weniger Zeit. Das ist sicher alles!“ Nein, sie wollte es nicht wahrhaben, was Marita eben angedeutet hatte. Noch kämpfte sie darum, jedes aufkommende Misstrauen zu verdrängen, wollte jede eigene warnende Stimme des Zweifels nicht hören.

*

Und dann kam ein Tag, der sie ratlos machte. Bernd brachte Umzugskartons mit nach Hause und begann zu packen. Sprachlos stand sie bei ihm in der Tür. „Was machst du ... wohin willst du ... du hast nichts gesagt.“

„Aber doch! Oder hast du es nicht richtig verstanden. Ich ziehe in eine Wohngemeinschaft. Dort zu wohnen, ist viel billiger für mich. Da ist eine tolle Truppe zusammen.“ Er erklärte es ihr, als würde er nur für ein paar Tage verreisen.

„Und ich?“ Den Tränen nah, stand Vera hilflos vor ihm.

„Was, und du?“

„Was wird aus mir? Soll ich nicht mitkommen?“

Bernd lachte.

Das tat Vera weh.

Die Frage war ihm sichtlich unangenehm. „Wie stellst du dir das vor?“, fragte er leicht gereizt.

„Ich dachte ... du sagtest doch ...“

„Was dachtest du? Was soll ich gesagt haben?“

„Du sagtest: Ich sei dir wichtig und du brauchst mich …“

„Ja, und? Ich bin nicht aus der Welt.“

„Aber hier sind wir uns nah, und dort …? Ich dachte, von hier würden wir nur gemeinsam wegziehen“, antwortete Vera leiser und zaghafter werdend.

„Wie kommst du darauf? Ich habe dir nie Flausen in den Kopf gesetzt, nie etwas versprochen. Mach jetzt nicht so ein Theater!“, erwiderte er heftig.

Vera erschrak und schwieg verletzt. Als „Flausen, nie versprochen und Theater“ tat er ab, was ihr so wichtig war. Das war alles? Sie begriff es nicht. Enttäuscht sank sie in sich zusammen.

Er sah es und nahm sie in die Arme. Besänftigend redete er auf sie ein: „Kleines, du wirst sehen, es ändert sich nichts. Wir haben es nur etwas weiter zueinander. Das ist alles.“

Sie ließ sich gerne trösten und beruhigen, nahm die Liebkosung hin. Aber es war nicht mehr so für sie, als würde damit alles Bedrückende beseitigt. Nein, einst ging bereits einer von ihr, der sie trösten wollte. Ihn hatte sie nur noch hassen können.

*

Wie damals der Vater, so ging auch Bernd. Zuerst brauchte sie nicht lange auf ihn zu warten. Er holte sie ab und sie verbrachten den Abend miteinander. Doch nie nahm er sie mit in die WG. Irgendwann dauerte es bereits länger, bis er sich wieder meldete. Dann kam er nur kurz zu ihr. Misstrauisch wirtschaftete die Mutter draußen vor der Tür herum, während sie in ihrem Zimmer zusammen waren. Vera hatte Sehnsucht nach seiner Nähe. Er aber versuchte nicht einmal, intim zu werden, sondern hatte es jedes Mal nur eilig, wieder zu gehen. Schließlich kam er nicht mehr.

„Den bis du los. Wurde auch Zeit!“, stellte die Mutter fest.

Vera kniff die Lippen zusammen und schwieg. Doch am nächsten Abend, nachdem die Mutter das gesagt hatte, ging sie zu der WG. Jetzt wollte sie es wissen.

Als sie dort beklommen eintrat und nach Bernd fragte, hatte sie das Gefühl, als erwarteten alle eine Sensation, die nun geschehen müsse.

„Ist Bernd da?“, rief derjenige laut, der sie eingelassen hatte. „Hier fragt eine nach ihm.“

Überall gingen die Türen auf. Junge Männer und junge Frauen traten hastig heraus, musterten sie neugierig, fast sensationslüstern, und wiesen auf die einzige noch geschlossene Tür.

„Bernd, da will eine was von dir!“, rief einer, klopfte bei ihm an drehte sich zu Vera um und grinste sie ungeniert breit an. Alle warteten offenbar gespannt auf das, was nun geschehen würde.

Bernd war nicht erfreut, das sah sie auf den ersten Blick. Hastig zog er sie ins Zimmer und schloss schnell hinter ihr die Tür, ehe noch einer hereinsehen konnte. Es roch seltsam anders in diesem Zimmer als sonst bei ihm, das nahm Vera sofort wahr. Dann sah sie zwei Betten und daneben lag Frauenkleidung auf einem Stuhl. Alles in ihr zog sich zusammen.

Noch ehe sie ihn fragen konnte, was das zu bedeuten hätte, fuhr er sie an. Sie könne doch hier nicht so einfach bei ihm auftauchen, was das solle, wollte er wissen.

„Warum? Ich dachte ... Du bist so lange nicht gekommen“, Vera war verstört.

„Ja, denkst du, ich habe sonst nichts zu tun?“ Sichtlich in die Enge getrieben reagierte er zornig darauf.

Das konnte nur bedeuten, Bernd lebte hier mit einer anderen Frau zusammen. Er hatte sie hintergangen. Ganz klar sah sie es jetzt. Es gab keinen Vorwand mehr, es zu verdrängen. Das schmerzte, zog ihr die Brust zusammen. Die Knie wurden ihr weich. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, so dass sie glaubte, kein Wort mehr herausbringen zu können. Hilflos wies sie auf die Frauenkleider. „Das ist der Grund, weshalb du nicht gekommen bist, nicht wahr?“ Ihre Stimme gehorchte ihr nicht und zitterte.

„Willst du mir jetzt eine Szene machen? Ich dachte, du hast das längst kapiert. Du hast doch nicht etwa geglaubt, du wärst die große Liebe für mich, für alle Ewigkeit.“ Das klang kalt und ablehnend.

Vera sah ihn an, als hätte sie ihn nie gekannt. „Doch, ich habe daran geglaubt. Du hast es gesagt, und ich dachte, du stehst dazu, hältst dein Wort.“ Leise, ganz leise brachte sie das hervor.

„Welches Wort? Mädchen, ich habe dir nichts, aber auch gar nichts versprochen. Es war schön mit dir, aber nun ist es vorbei. Kapier das endlich!“

Ungläubig sah Vera ihn an, wie er da erregt vor ihr stand. Dann erkannte sie sein wahres Gesicht. Alle Liebe zu ihm brach in ihr zusammen. Tief ging der Schmerz und ließ sie nur noch wütende Verachtung spüren, so, wie damals vor vielen Jahren bei dem Vater. „Du Lügner! Du verdammter Lügner!“ schrie sie ihn an, drehte sich um und rannte zur Tür. Weg strebte sie, weg von ihm. Genauso wie den Vater damals wollte sie ihn nicht mehr sehen. Doch ehe sie an der Tür war, wurde die geöffnet. Daniela trat ein. Fast wäre sie mit ihr zusammengestoßen. So war das also! Sie stolperte an ihr vorbei und jagte wie gehetzt aus der Wohnung. Sie rannte und rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her. Erst langsam fand sie wieder zum ruhigen Schritt zurück. Was war nur geschehen? Alles war so wund in ihr vor Schmerz. Sie konnte kaum noch die Tränen zurückhalten, als sie zwischen all den Menschen auf der Straße ihren Weg nach Hause lief. Er schien kein Ende zu nehmen. Ach, könnte sie sich doch verkriechen, wie sie es als Kind im Schuppen bei den Kaninchenställen getan hatte.

*

Vera lief wie blind die Straßen entlang. Sie litt, es tat so weh, dieser Sturm in ihr, dieses Aufbäumen gegen die Wahrheit. Zugleich spürte sie die Leere, die sich in ihr auszubreiten begann. Warum nur, warum hatte Bernd sie so belügen können? Auf was sollte sie vertrauen, wenn nicht auf das Wort eines Menschen? Was hatte sie falsch gemacht? Es musste doch einen Grund geben. Verstand sie es nicht, einen Menschen liebend zu halten? Auch der Vater war gegangen, obgleich er wissen musste, was das für sie bedeutete. Nein, auch er hatte nicht einmal zögernd daran gedacht, ihretwegen bei ihnen zu bleiben. Sie war wohl nicht wert, geliebt zu werden. Was sollte sie jetzt ohne Bernd machen? Sie hatte doch getan , was er von ihr verlangte. Nie hatte sie sich dagegen gewehrt, auch wenn sie es lieber abgelehnt hätte. Schon aus Angst, ihn zu verlieren, hatte sie ihm stets nachgegeben. Sie war zwanzig Jahre alt und zweifelte an sich und der Welt, die ihr so etwas antun konnte.

Den ganzen weiten Weg nach Hause kämpfte sie gegen die Tränen. Doch kaum dort angekommen, brachen sie hervor. Sie sah die Mutter nicht an, bemerkte nicht ihren besorgten Blick, als sie die Wohnung betrat. Sie lief an ihr vorbei in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und rührte sich den ganzen Abend nicht mehr heraus.

Es war schon spät, als die Mutter zu ihr hereinkam. Sie fragte nichts, sie sagte nichts. Es war, als wisse sie alles. Sie brachte ihr ein belegtes Brot und Tee, drängte es ihr aber nicht auf, stellte es nur neben sie hin. Vera wandte sich ab und versteckte ihr Gesicht in ihr Kissen, um die Mutter nicht ansehen zu müssen. Aber das war nicht nötig, ihre auf dem Bett in ihrem Schmerz zusammengekrümmte Gestalt sagte mehr, als ihre Augen hätten verraten können. Die Mutter setzte sich still zu ihr. Kurz hörte Vera auf zu atmen, presste ihr Gesicht noch tiefer in die Kissen und verkrampfte sich in Ablehnung. Leise, vorsichtig war die erste Berührung der Hand der Mutter auf ihr Haar. Sacht tröstend strich sie darüber, wieder und wieder. Vera ließ es geschehen. In all ihrem Schmerz gab sie sich dem Gefühl hin, das die Mutter mit dieser Geste auf sie übertrug. Die Mutter, die Vera immer nur als fordernd empfunden hatte, ließ sie ihre tiefe Zuneigung spüren, was sie sonst kaum zu zeigen vermochte. Und Vera nahm sie an. Langsam, ganz langsam entkrampfte sich ihr Körper, drehte sie ihr Gesicht aus dem Kissen der Mutter zu. Wie ein Kind drängte sie ihrer tröstenden Hand entgegen und ließ sich die Tränen aus den Augen wischen. Noch nie hat sie eine so starke Verbindung zu ihrer Mutter empfunden, als in diesem Augenblick ihrer Not. Behutsam neigte sich die Mutter nieder und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Kein verbittert mahnendes Wort sagte sie wie sonst, nur: „Vielleicht isst du doch noch etwas. Das wäre gut“, ehe sie aus dem Zimmer ging.

Ganz still lag Vera, lauschte ihrem warmen Gefühl nach, das sie für ihre Mutter empfand. Es tat gut, in diesem Moment Zuneigung zu spüren, da sie sich ungeliebt und zur Liebe untauglich glaubte. Aber dann überwältigte sie wieder die ganze Wahrheit, Bernd gab es für sie nicht mehr. Er hatte sie verstoßen, verlassen, wie einst der Vater. Ihre Gedanken kreisten darum die ganze Nacht, die ihr kaum Schlaf brachte. Erst gegen Morgen weinte sie sich in den Schlaf.

Danach weinte sie nicht mehr. Sie ging ins Büro und machte ihre Arbeit. Dabei war ihr, als müsse sie schreien, so wund vor verzweifeltem Schmerz. Doch dieser sich aufbäumende Schrei in ihr wurde leiser. Als er verstummte, wich er der Resignation. Ihre Schultern sanken herab und sie blickte aus glanzlosen Augen verstört in die Welt. Nicht einmal hassen konnte sie Bernd wie damals ihren Vater. Warum auch? Es lag doch sicher an ihr, dass man sie nicht lieben konnte, sonst hätten sie weder der Vater noch Bernd verlassen.

Du hast es mir versprochen!

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