Читать книгу Du hast es mir versprochen! - Wilma Burk - Страница 7

4. Kapitel

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Es dauerte lange, bis sie wieder mit Marita lachen konnte. „Verkriech dich nicht! Das hilft nichts. Komm mit zu dem Motorradverein von meinem Freund. Die sind eine vergnügte Truppe. Das wird dich aufmuntern.“ So redete Marita auf sie ein. Sie hatte längst einen neuen Freund. Den wievielten? Und jeder war für sie wunderbarer als der, den sie vorher hatte. Sie verstand nicht, wie Vera einem wie Bernd nachtrauern konnte.

Als auch die Mutter Vera zuredete, gab sie nach und ging mit. Ehe sie es sich versah, saß sie als Sozius hinter einem Detlef auf einem Motorrad und fuhr mit ihm und den andern durch die Gegend. Wenn Rast gemacht wurde, ging es lustig zu. Bald steckte sie das Lachen der anderen an. Sie spürte auch, wie Detlef sich um sie bemühte und ihr gerne näher gekommen wäre. Aber sie wich ihm aus. Es ging nicht, obgleich es sie schmerzte, wenn sie sah, wie glücklich Marita mit ihrem Freund war oder wie verliebt die anderen Pärchen miteinander umgingen. Wie gern hätte sie auch jemanden gehabt, an den sie sich anlehnen konnte. Doch sie war unfähig, sich zu verlieben oder dem Werben von Detlef nachzugeben. Zu tief saß noch die Verletzung, die Bernd ihr zugefügt hatte. Bald zog sie sich aus dem Verein wieder zurück.

„Was ist los, Vera? Ich dachte schon, mit dir und Detlef, das wird etwas.“ Marita begriff es nicht.

Vera war einundzwanzig Jahre alt und wollte von Männern am liebsten nichts mehr wissen. Doch sie litt darunter, ihre Sehnsucht nach Liebe war groß.

In ihrer Ratlosigkeit trieb es sie nach langer Zeit wieder zu Onkel Achim. Er hatte sie immer verstanden, ohne dass sie viel sagen musste. Es tat ihr gut, als sie ihm gegenüber in seiner kleinen Küche bei einer Tasse Kaffee saß und über all ihren Kummer und ihre Zerrissenheit reden konnte.

Ruhig hörte er ihr zu. Danach schwieg er kurz, nahm seine Brille ab, putzte sie nachdenklich, setzte sie wieder auf und sagte: „Was hast du erwartet? Dass man seinen Schmerz so bald betäuben kann? Zurückgewiesene und verletzte Liebe heilt nicht so leicht. Das braucht Zeit. Dafür gibt es keinen schnellen Trost mit einem andern. Du musst Geduld haben. Glaube mir, ich weiß das, habe es auch in jungen Jahren erfahren.“

Onkel Achim? Hatte er darum nie geheiratet? Eine Scheu hielt sie zurück, ihn zu fragen, was damals gewesen war. Nie ist irgendwann darüber gesprochen worden. Was allerdings kein Wunder war, denn dabei ging es sicher um Gefühle, und wann konnte ihre Mutter schon über Gefühle reden? Hatte sie jemals ein Wort darüber verloren, was sie empfunden oder sogar gelitten hatte, als der Vater sie verließ? Nein, bei aller Verbundenheit, die Vera für sie inzwischen empfand, solche Gespräche wie mit Onkel Achim konnte sie mit ihr nicht führen.

Doch nun wollte sie wissen, was Onkel Achim angedeutet hatte. Gleich als sie nach Hause kam, drängte sie ihre Mutter, ihr davon zu erzählen. Zuerst wollte sie mit der Sprache nicht heraus. „Das ist so lange her. Das war gleich nach dem Krieg gewesen, als die ersten Männer aus der Gefangenschaft heimkehrten.“

„Ja, und? Was war da?“ Vera ließ nicht locker.

„Wenn er es dir nicht gesagt hat, wieso willst du das dann wissen?“, wand sich die Mutter unwillig.

Warum tat sie das? „Weil er etwas angedeutet hat, was du wissen musst“, erklärte Vera und fragte drängend: „War er unglücklich verliebt? Kanntest du die Frau, um die es ging?“

Die Mutter blickte Vera unsicher an.

„Nun sag schon, kanntest du sie?“

„Es war keine Frau, es war ein Mann.“ Widerwillig antwortete die Mutter.

„Wie – ein Mann?“ Vera war sprachlos. „Er ist ... ist er homo...?“ Sie konnte es kaum aussprechen.

„Ja! nach dem Krieg jedenfalls.“

„Aber kann denn ein Mann einen anderen Mann wirklich lieben?“ Gehört hatte Vera schon davon, aber viel darüber nachgedacht noch nie. Wie sehr wurde so etwas verachtet. Niemand ging offen damit um. War es nicht sogar strafbar? Und Onkel Achim ... ausgerechnet Onkel Achim?

Die Mutter sah ihr wohl all ihre Gedanken an. „Sei jetzt nicht überheblich. Ehe du ein Urteil fällst, solltest du gründlich darüber nachdenken. Ja, ein Mann kann einen andern Mann genauso lieben wie sonst nur eine Frau und Achim hat das getan. Es war schlimm für ihn, als er begreifen musste, dass sich sein Traum von einer gemeinsamen Zukunft nicht erfüllen konnte, dass der andere ihn hintergangen hatte. Ich habe mir damals sehr große Sorgen um ihn gemacht. Er wurde krank darum, hat sehr gelitten, denn das ist doppelt schwer, wenn man sich von der Gesellschaft nicht anerkannt fühlt und seinen Schmerz verstecken muss, weil ihn niemand verstehen würde.“

„Und du hast ihn verstanden?“

„Ja, ich habe ihn verstanden und zu ihm gehalten, auch als sich alle in der Familie darüber empörten und es abartig nannten. Die Menschen sind ja so schnell dabei zu verurteilen, vielleicht sogar, um ihre eigenen seltsamen Vorlieben zu verstecken.“

„Armer Onkel Achim. Das muss schlimm für ihn gewesen sein.“ nachdenklich sah Vera ihre Mutter an. Sie wirkte manchmal so kalt, doch welche warmen Tiefen verbargen sich in dieser Frau. Sie stand zu dem, was sie sagte, und zu den Menschen unbeirrt, die ihr etwas bedeuteten. Nicht nur Zuneigung, auch Achtung empfand Vera in diesem Moment für ihre Mutter.

Vera war, als würde sie ihre Mutter jetzt erst richtig kennen und verstehen lernen. Es gab zwar keine großen Gesten der Zuneigung zwischen ihnen, aber sie fühlte sich ihr tief verbunden.

Nach der Erfahrung in dem Motorradverein, ging Vera jeder Möglichkeit, sich zu verlieben, aus dem Weg. Marita dagegen hatte bald einen neuen Freund, der kein Motorrad besaß. Sie lachte und war wieder so verliebt und glücklich wie in jeder neuen Liebe.

„Dass du das kannst, so von einem zum andern.“ Vera war es rätselhaft. Zugleich bewunderte sie aber die leichte Lebenslust von Marita. Fast wünschte sie für sich selbst, nur etwas davon zu haben.

„Das Leben kann so schön sein, wenn du es nicht zu ernst nimmst“, antwortete Marita fröhlich.

*

1972 waren Marita und Vera zweiundzwanzig Jahre alt. Vera war fleißig im Beruf. An Anerkennung im Büro mangelte es ihr nicht. Stolz war sie darauf. „Das kannst du auch sein!“, lobte sie sogar die Mutter.

Marita hatte erneut eine große Leidenschaft und Liebe, einen Christian. Sie schwärmte von ihm, wie sie es von noch keinem vorher getan hatte.

Irritiert sah Vera sie an. „Na, wie lange wird das dauern?“, fragte sie misstrauisch.

„Ewig!“, erwiderte Marita. „Wir ziehen zusammen?“

„Du machst was?“ Vera war sprachlos.

„Ja, du hast richtig gehört, wir ziehen zusammen. Es wird Zeit, von zu Hause wegzugehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Wer um die zwanzig bleibt heute noch bei den Eltern. Du solltest das auch tun. Bist lange genug mit deiner Mutter zusammen.“

„Wie stellst du dir das vor? Bei dir bleiben Mutter und Vater zusammen zurück, aber meine Mutter bleibt dann allein. Das kann ich ihr nicht antun.“

„Es ist aber der natürliche Verlauf im Leben, dass Kinder einmal weggehen. Wenn du heiratest, dann ...“

„... dann ist das etwas anderes.“

„Wieso? So oder so bleibt sie allein.“

„Der Grund dafür ist ein anderer. Wenn ich jetzt gehe, sieht es so aus, als wollte ich von ihr weg. Das muss sie kränken. Doch wenn ich ...“

„Wenn du heiratest, ist sie sogar noch glücklich darüber, allein zu bleiben. Das ist verrückt!“, lachte Marita. Dann aber sagte sie ernst: „Pass nur auf, dass du überhaupt noch von ihr loskommst!“

„Ach, was!“ Darüber machte sich Vera keine Gedanken. Wer weiß, ob sie jemals heiraten würde, wenn sie weiter so vor jedem Annäherungsversuch eines Mannes zurückwich.

„Willst du etwa eine alte Jungfer werden?“, fragte Onkel Achim bereits mit Augenzwinkern.

Eigentlich nicht, nein, die Sehnsucht, sich anlehnen zu können, geliebt zu werden, war groß, wenn sie dabei auch nicht mehr an Bernd dachte. Den hatte sie aus ihren Gefühlen gestrichen.

*

Marita zog nicht nur zu ihrem Christian, nein, gleich im darauf folgenden Jahr heiratete sie ihn. Vera war Trauzeugin. Was für ein aufregender Tag. Die kleine und zierliche Marita stolperte fast über ihr langes weißes Kleid, während der etwas schlaksige Christian mit seinem dunklen Beatleskopf, aufgeregt an seinen Manschetten zupfte. Er wusste offenbar nicht, wie er ihr helfen sollte. Resolut raffte Marita ihren Rock zusammen. Dabei bemerkte Vera zum ersten Mal ihr sich rundendes Bäuchlein.

„Bist du schwanger?“, fragte sie überrascht.

Marita lachte: „Was glaubst du, warum ich heirate!“

Ungläubig sah Vera ihr hinterher und beneidete sie fast um ihre Sorglosigkeit. Wie locker sie mit Christian über die Tanzfläche glitt. Alles, was Marita machte, wirkte so leicht. Immer wusste sie einen Ausweg, nie war sie darum verlegen. Nun heiratete sie eben, weil ein Kind kam.

*

Auch das Leben von Vera sollte sich bald ändern. Noch immer radelte sie gerne mit ihrem Fahrrad umher. Wenn es wärmer wurde, fuhr sie sogar bis zu ihrer Arbeitsstelle in die Stadt. Das machte der Mutter Sorgen. Von Jahr zu Jahr wurde der Autoverkehr auf den Straßen dichter, und Vera dazwischen mit dem Fahrrad. „Pass nur auf! Du kennst die Verkehrsregeln nicht. Dass du mir nicht unter ein Auto kommst!“, mahnte sie.

„Mama, rechts vor links und Vorfahrtsschilder kenne ich. Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Vera lachte, nein, das war unnötig, sie wusste, wie sie fahren musste, außerdem kannte sie ihren täglichen Weg genau.

Aber dann war es doch einmal anders. Sie fuhr nach ihrem Arbeitstag zu Marita durch den Feierabendverkehr tiefer in die Stadt hinein. Marita und Christian wohnten in einer verkehrsreichen Straße, in der auch Straßenbahnen quietschend ihren Schienen folgten. Hier hatten sie im Hinterhaus eines Mietshauses eine kleine Wohnung gefunden. Der Hof, auf den sie blickten, war kahl. Dort gab es weder Kaninchenställe noch eine Linde, nur Mülltonnen. Da es aber nicht leicht war, preiswerten Wohnraum zu bekommen, war Marita glücklich gewesen, diese kleine Wohnung, die sogar eine Innentoilette hatte, gefunden zu haben. Sie trug bereits einen beachtlichen Bauch vor sich her. Lange konnte es bis zur Niederkunft nicht mehr sein. Längst wartete ein Kinderbett auf den neuen Erdenbürger und Marita kannte nichts, als Vorfreude auf ihr erstes Kind.

„Wie willst du das eigentlich regeln? Verdient Christian genug oder gehst du bald wieder in deinen Beruf als Verkäuferin zurück?“, fragte Vera.

„Du bist gut! Natürlich verdient Christian keine Reichtümer. Sobald ich kann, gehe ich wieder arbeiten, vielleicht zuerst halbtags. Du glaubst gar nicht, wie einem die Decke auf den Kopf fällt, wenn man den ganzen Tag zu Hause ist.“

Vera sah in den tristen Hof. Hier, wo kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte, wollte sie auch nicht den ganzen Tag sein. „Aber das Kleine?“, fragte sie, „Was machst du damit?“

„Das findet sich schon. Vielleicht nimmt es meine Mutter in der Zeit.“

„Wohnt ihr dazu nicht zu weit auseinander?“

„Was zerbrichst du dir den Kopf? Erst einmal kommt es auf die Welt. Und ich bin froh, wenn ich das hinter mir habe. Danach bleibe ich ja zuerst zu Hause. Alles andere bringt die Zeit.“ Marita machte sich keine Sorgen. Unnütz nannte sie solche Überlegungen. „Kommt Zeit, kommt Rat!“

Noch in Gedanken darüber, wie leicht Marita alles nehmen konnte und wie sie auch immer eine Lösung für ihre Probleme fand, rollte Vera mit ihrem Fahrrad vom Hof. Sie fuhr durch die breite offene Einfahrt unter dem Vorderhaus hindurch und hinaus auf die Straße. Kein Passant auf dem Bürgersteig behinderte sie. Kräftig trat sie in die Pedale, um an einem parkenden Auto vorbei die gegenüber liegende Fahrbahn der Straße zu erreichen.

Da – ein Auto von links – es war für sie durch das parkende Fahrzeug verdeckt gewesen, sie hatte es nicht gesehen. Bremsen kreischten, sie trat den Rücktritt, es reichte nicht. Sie klammerte sich an den Lenker des Fahrrades. Unaufhaltsam näherte sich das Auto mit quietschenden Reifen. Sie konnte nicht mehr ausweichen, knallte vorn gegen den Kotflügel, schoss über den Lenker des Fahrrades hinweg, flog auf die Motorhaube und fiel hart auf die Straße vor das Auto.

Geschockt blieb sie liegen. Sie war nicht fähig, sich zu rühren.

Die Autotür flog auf, ein Mann sprang heraus, Menschen liefen zusammen, manche blieben auf Entfernung, andere drängten sich neugierig heran. „So ein Leichtsinn!“ – „Konnte sie nicht aufpassen!“ – „Der Autofahrer hat wohl auch geschlafen!“ – „Ja, ja, die Radfahrer!“ – „Wer ruft die Polizei?“ So redeten die Leute durcheinander.

Vera sah alles, hörte alles und nahm doch nichts wirklich wahr. Was war geschehen? Warum taten ihr Kopf und Arm so weh? Ein fremdes Gesicht neigte sich über sie. Helle Augen sahen sie durchdringend und besorgt an. „Mein Gott, Sie sind mir direkt ins Auto gefahren. – Sie bluten ja!“ Der Mann zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und tupfte ihr vorsichtig damit die Stirn ab. Ach, darum tat das Gesicht weh. Vera hielt still. Es tat ihr gut, dass es einen gab, der wohl wusste, was zu tun war. „Haben Sie sich sonst noch etwas getan? Können Sie aufstehen? Versuchen sie es!“

„Ja, ja, gleich! Sicher kann ich aufstehen!“, murmelte sie. Jetzt erst begriff sie, was geschehen war.

Er neigte sich zu ihr hinunter, seine braunen Haare fielen ihm ins Gesicht. Seine kräftigen Hände schob er unter ihre Schultern; er wollte ihr aufhelfen.

Sie schrie auf vor Schmerz.

Er ließ sie sofort los.

Sie versuchte, sich allein aufzurichten. „Mein Bein, mein Arm! Ich kann mich nicht aufstützen“, jammerte sie. Sobald sie ihren Kopf hob, drehte sich alles um sie. Was war das? Sie musste aufstehen, irgendwie nach Hause kommen. Ihr Rad? Was war mit ihrem Fahrrad? Verzweifelt bemühte sie sich hochzukommen.

Doch die kräftige Hand, die sie eben noch hochheben wollte, drückte sie nieder. „Bleiben Sie ruhig liegen, bis Hilfe kommt“, sagte er.

„Aber warum? Ich muss doch ...“

„Sie müssen jetzt gar nichts, nur warten, bis Ihnen geholfen wird.“ Der Druck seiner Hand wurde energisch.

Plötzlich war Marita da. „Vera, was ist passiert?“

Der Mann trat einen Schritt zurück, ließ Marita zu ihr. Er strich sich nervös durch sein Haar und sah nachdenklich auf Vera herab. Wieder begegnete sie seinem Blick aus den hellen Augen und sah irritiert weg. „Komm Marita, hilf mir, allein schaffe ich es nicht aufzustehen“, bat sie.

Marita fasste sich an ihren Bauch. „Vera, wie soll ich das machen?“

Da stand der Mann gleich neben ihr. „Bleiben Sie liegen! Seien Sie vernünftig!“

Groß und breit von Statur kam er Vera in diesem Moment vor, als sie von unten zu ihm aufsah. Er war es wohl gewöhnt zu befehlen. Brav wie ein Kind machte sie keinen Versuch mehr aufzustehen. Sie sah ihm zu, wie er nun nervös hin und her lief. O Gott, sie hatte ja Schuld an dem Unfall! Das wurde ihr bewusst. Er würde sicher Schadenersatz verlangen. Was konnte das kosten? Aber wütend war er nicht, er hatte sie nicht beschimpft. Ob man sich mit ihm gut einigen konnte? Sie musterte ihn bang. Gerade und aufrecht war sein Gang. Trotz seiner Nervosität wirkten seine Bewegungen ruhig. Vielleicht wird es nicht so schlimm. Wenn sie doch nur aufstehen könnte. Warum tat denn alles so weh? Wirr gingen ihre Gedanken im Kopf herum. Und während der ganzen Zeit redete Marita auf sie ein. Was sagte sie?

Mit dem Krankenwagen kam zugleich die Polizei. Zeugen meldeten sich, die alles genau gesehen haben wollten. Ja, Vera sollte Schuld an dem Unfall gewesen sein. Er konnte also zufrieden sein, dachte Vera. Jetzt war sie müde, nur müde, wollte Ruhe haben. Sie wehrte sich nicht mehr dagegen, als sie auf eine Trage gehoben wurde, schrie nur kurz auf, als man ihr Bein anfasste. An eins dachte sie aber noch: „Marita, kannst du meiner Mutter Bescheid sagen, und vielleicht kann Christian später mein Fahrrad zu ihr bringen?“

Doch Marita brauchte nicht zu antworten. „Das mache ich! Wenn Sie mir die Adresse geben, fahre ich sofort zu ihrer Mutter und bringe auch das Fahrrad hin“, rief der Mann ihr zu.

Während Marita ihm die Adresse gab, wurde Vera in den Krankenwagen geschoben. Die Türen schlossen sich hinter ihr und der Wagen fuhr los zum nächsten Krankenhaus.

*

Das linke Bein und den linken Arm in Gips, Pflaster im Gesicht, Prellungen und Schürfwunden am Körper, so lag Vera in einem hellen Krankenzimmer und grübelte, wieso dieser Unfall geschehen konnte. Zwei Mitpatientinnen im Zimmer musterten neugierig die Neue. Sie redeten viel und sie fragten viel. Dabei wollte Vera nur nachdenken. Da war etwas, das sie beunruhigte. Dieser Mann, sein Blick, so durchdringend und doch besorgt, sein Handeln so bestimmt und klar, so dass man selbst nicht mehr zu denken brauchte, das beschäftigte sie.

Noch an dem gleichen Abend kam die Mutter. Ja, der Fremde hatte das Fahrrad zu ihr gebracht und ihr schonend erklärt, was geschehen war. „Aber so, wie das Fahrrad aussah, Lenker und Vorderrad total verbogen, konnte er lange reden, es beruhigte mich nicht. Nun sehe ich auch, was los ist. Musstest du mit dem Fahrrad noch mitten in die Stadt zu Marita fahren?“, fragte die Mutter vorwurfsvoll.

Ein paar Tage später, kam auch der Fremde. Georg Söllner war sein Name. Er brachte einen großen Blumenstrauß. Er wolle sehen, wie es ihr gehe, erklärte er. Aber er fragte sie so viel nach ihrem Leben aus, dass es wohl nicht nur Interesse an ihrem jetzigen Befinden war. Das jedenfalls könne man aus seinem Verhalten annehmen, meinten die beiden Mitpatientinnen.

„Ach was! Der wollte sicher nur wissen, ob ich den Schaden an seinem Auto bezahlen kann.“, wehrte Vera ab.

Doch es blieb nicht bei diesem einen Besuch. Bald kam er regelmäßig und begegnete dabei auch ihrer Mutter. Die zeigte von Mal zu Mal mehr Interesse an ihm. Jetzt war sie es, die ihn ausfragte. Vera war das peinlich, auch wenn sie so erfahren konnte, dass er um die dreißig war, Juniorchef in einer kleinen Strickwarenfabrik und noch unverheiratet. „Auch ohne Freundin“, versicherte er lachend und sah Vera dabei so komisch an, dass sie errötete.

„Mama, du kannst ihn doch nicht ausfragen“, warf sie ihrer Mutter danach vor.

„Warum, Kind? Es ist immer gut, wenn man rechtzeitig weiß, mit wem man es zu tun hat.“ Die Mutter schien sich bestimmte Hoffnungen zu machen, was Vera gar nicht gefiel. „Nanu, kommt er heute nicht?“, fragte sie bereits, wenn er mal an einem Sonntag nicht da war. Und kam er dann, so konnte sie, die sonst ernste Frau, so eigenartig lachen. Sie lobte ihn, hörte ihm aufmerksam zu und bewunderte stets aufs Neue den Wald von Blumen, den er mit jedem Strauß, den er brachte, in das Krankenzimmer zauberte.

Vera war es peinlich. „Mama, das kannst du nicht machen! Was soll er nur denken?“

„Na, was wohl? Dass er eine nette Schwiegermutter bekommen könnte“, erwiderte die Mutter unbekümmert.

„Nun gehst du aber zu weit!“

„Wieso? Schau ihn dir an! Gut sieht er aus, Geld scheint er zu haben, Interesse zeigt er auch für dich, sonst käme er nicht so oft, und einen liebenswürdigeren Menschen kann ich mir nicht vorstellen. Sei nicht dumm. Wann begegnet einem schon mal so einer.“ Das Herz der Mutter hatte er bereits erobert.

Unsympathisch war er Vera auch nicht. Es gefiel ihr, wie besorgt er um sie war, seine sichere Art, mit der er regelnd eingriff, wenn es für sie Probleme gab, die er erledigen konnte. Das geschah ganz selbstverständlich, so, wie er auch die nun hochschwangere Marita mit seinem Auto abholte und wieder nach Hause brachte, damit sie Vera besuchen konnte.

„Das ist ein Mann! Der könnte mir gefährlich werden, wenn ich nicht schon vergeben wäre“, flüsterte sie Vera zu und klopfte sich dabei auf ihren Bauch. Besonders toll fand sie, dass er ein Auto hatte. „Für so eine Bekanntschaft kann ich dich glatt beneiden.“

„Du nun auch noch! Was redet ihr nur? Wieso Bekanntschaft? Er hat mich angefahren und verletzt. Nur deshalb kommt er her.“

Marita zwinkerte ihr zu. „Richtig ist wohl eher, dass du ihn angefahren hast. Es gäbe keinen Grund für ihn, ein schlechtes Gewissen zu haben. Hätte das ein anderer als du getan, dem hätte er wohl eine dicke Rechnung für die Beulen an seinem Auto präsentiert. Und die Beulen waren erheblich, das kannst du mir glauben. Doch von dir nimmt er nicht einen Pfennig. Warum wohl?“

Darauf wusste Vera nichts zu antworten. Es begann sie zu beunruhigen. Er gefiel ihr ja auch. Es war ihr nicht unangenehm, wenn er sie berührte, ihr das Kissen richtete oder einen Bissen in den Mund schob. Alles tat er behutsam, fragte erst gar nicht, ob es ihr recht sei. Und es war ihr ja recht. Nur, sie lauschte vergeblich in sich hinein, ob eine alles vergessende Verliebtheit in ihr erwachte, so, wie sie die Liebe zu Bernd empfunden hatte. Viel eher erfüllte sie ein wunderbar beruhigendes Gefühl der Geborgenheit in seiner Nähe. Entsprach das aber nicht bereits einer gewissen Zuneigung, die sie für diesen Georg Söllner empfand? Doch musste sie überhaupt darüber nachdenken? Wenn sie erst einmal das Krankenhaus verlassen konnte, würden sich ihre Wege wieder trennen.

Du hast es mir versprochen!

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