Читать книгу Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels - Winfried Paarmann - Страница 10

Roswita

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Vor allem etwas wie Neugier hatte ihn hergetrieben, sicher auch Lust.

Aber sie kämpfte schon wieder gegen jene Barriere an - die Unlustbarriere mit ihrer Abstrahlung von Fremdheit, kalter Routine, Glätte.

Eigentlich könnte alles ganz leicht sein: Zunicken, das rasche einverständliche Lächeln, der gemeinsame Weg an die Tür, in die dunkle Geborgenheit ihrer Zimmerhöhle, ins sanfte Willkommen, ins schaukelnde Seidenschiff der gemeinsamen Lust. Körperzwiesprache, der selbstverständliche leise Körpergesang; Schwebelust, ohne Anspruch auf schwindelnden Höhenflug, ohne Gefahr des Sturzes, ohne Anspruch auf Dauer.

Er saß hier im Auto - im kleinen Beobachtungsiglu vor dieser altersbröckligen Toreinfahrt. Eine beugte sich jetzt an sein Fenster, warf einen schwarzwimprigen, Kettchen- und Ohrringe-blinkenden Blick durch die Scheibe. Jonas sah, dass sie dem Alter nach hätte seine Mutter sein können. Und sie hatte fast alles, was er nicht suchte: dieses gepuderte Puppengesicht, dieses Mienenspiel andressierter Dienstfertigkeit, begleitet von jenem zähnebleckenden Lächeln, das plötzlich in Starre verfiel, für Sekundenbruchteile etwas durchschimmern ließ von lauernder Beiß- und Raubtierlust.

Man postierte sich in seiner Nähe, zog schlendernd Schleifen um ihn. Und auf die Entfernung war alles noch immer versprechend und leicht: das Auf und Ab der schaukelnden Hüften und Täschchen, der unkoordinierte Tanz der wehenden, wippenden Röcke und Stelzschritte.

Er würde von Beginn an den Fehler vermeiden, an Gedankenaustausch zu glauben, etwas wie ein Gespräch.

Vor sechs Jahren hatte er zum ersten Mal den Aufbruch in ein solches Viertel unternommen, einfach in der Art eines Experiments.

Die erste, vor diesen sechs Jahren, hatte er damals - in einem lächerlichen Anflug von Anteilnahme und um die Stille beim Weg an die Wohnungstür zu durchbrechen - gefragt: was sie bei Regen hier auf der Straße täten in diesem Job? Er hatte einen fauchenden Wortstoß dafür erhalten: Was ihn das anginge, was sie dann täten!

Kurz darauf hatte er ihr dann gegenübergesessen - vor diesem quadratischen Doppelbett mit der grobseidenen Blümchenbettdecke, der ideenlosen Blümchentapete, der Blümchengardine. Sie hatte ihm allen Rest von Lust aus dem Leib geschlagen mit diesem Satz, aus den Augenhöhlen der ungeduldig kreisenden Blicke, dem Spalt schmaler Lippen lösten sich immer erneute Frostschauer, zusehends wuchs dieser Eisberg in ihrer Mitte.

Sie hatte kein Wechselgeld. Während sie fluchend ihr Portemonnaie durchwühlte, konnte er ohne Erklärungen und Entschuldigung zurück auf die Straße, dies war seine Rettung.

Sicher, einige - so wie diese - konnten es nicht mehr anders: auf diesen täglichen Pflasterstrecken war ihnen jeder Anhauch von Lust verloren gegangen. Nichts mehr von Anrührung, Öffnung, überhaupt Nähe, sie hatten sich völlig verpanzert, verpuppt. Sie gaben ihre Beschädigungen, die kalte Verachtung, mit der die Gesellschaft sie strafte, Rache-nehmend an ihre Kunden weiter. Jeder preisgegebene Zentimeter Fleisch bedeutete hartes Kalkül, der Panzer unter ihrer Nacktheit war doppelt dick.

Die eine hatte er inzwischen genauer ins Auge gefasst: Blond, schmale Stirn, zarte Brauen, eine fast gemütvolle Nase. Fünfundzwanzig vielleicht. Etwas an diesem Gesicht, dem fülligen, geraden Mund hatte ihn anzogen: etwas wie Abwesenheit von Spott.

Doch jetzt, mit einer flüchtigen Lippenbewegung, war alles beunruhigend schon wieder in Frage gestellt.

Möglich, er würde sie ansprechen.

Wieder klopfte eine ans Fenster. Man kreiste ihn ein.

Freier im Anmarsch. Junge, machs kurz! Bares Geld! - Der Wolf, der ein Schaf reißen will. Auf der Lauer nach diesen dressierten Wildkatzen, von denen eine die Rolle des Schafs spielen wird... Danach: Sie öffnet lässig die Tür, man steigt ihr die Treppen voraus. Schnell und zügig bedient. Vielleicht empfiehlst du sie: sie war schnell und korrekt...

Plötzlich sah er die Blonde in einem Gespräch: Irgendein Südländer, schien es, kraushaarig, braungebrannt, oder ein eingeschworener Solarien- und Saunaanhänger. Er redete auf sie ein, sie nickte schließlich - wieder bemerkte er diesen derben, fast ordinären Zug ihrer Lippen; sie ging über das Pflaster voraus.

Es war, als wäre irgendein Faden gerissen. Der einzige dieser Monologminuten und Wartezeit. Er hatte sich, wie er jetzt merkte, seltsam auf dieses eine Gesicht konzen-triert, als hätte es nur dieses gegeben.

Er startete wieder sein Auto. Fuhr in entgegen gesetzter Richtung davon.

Gut - sie stand täglich hier. Heute und Morgen war ohne Belang.

Plötzlich, nur eine Nebenstraße weiter, erkannte er - sie!

Zweifellos: Es war ihr Profil. Und sogleich war es umgeben von diesen Bildern einer nicht fernen Regennacht, einer Regen-schimmernden Möbeleinrichtung an einer Straßenecke.

Und doch, etwas irritierte ihn nun: Diese Gestalt dort schien größer, die Haare zeigten nur eine blasse rötliche Färbung, deutlich überwog ein dunkles Blond. Auch hätte er sie nun nochmals älter geschätzt.

Ihr Schritt war entschieden und rasch, schien getrieben von Hast. Noch einmal näherte er sich auf wenige Meter, hielt prüfend dieses Profil im Blick. Unübersehbar war es ähnlich, gewiss: die flache und zarte Nase, das kleine Kinn; doch schien es nun ebenfalls gröber, die Nase spitzer.

Er gab noch nicht auf. Folgte um eine weitere Straßenbiegung. Flüchtig drehte die junge Frau sich mehrmals um, beschleunigte ihre Schritte.

Schließlich verschwand sie in einen Hauseingang.

Jonas parkte für Minuten wartend und unschlüssig in zwanzig Meter Entfernung zur Tür.

Er hätte klingeln können. Fragen: Bist du es? Wir haben uns neulich gesprochen. Sie würde „nein“ sagen - und er würde ganz einfach weiterfahren.

Oder: sie erkannte ihn, sagte „ja”.

Er blätterte seinen Stadtplan auf, wenigstens die Lage der Straße wollte er ausfindig machen, sich den Namen einprägen.

Auf einmal stand sie, von der Straße kommend, genau vor der Treppe.

Zwei volle Einkaufsnetze baumelten an ihren Armen.

Unmöglich konnte sie das Haus soeben verlassen haben.

Sie drehte sich zu seinem Wagen um.

Sie war es. Ganz sicher.

Jonas stieg aus dem Auto, ging einen Schritt auf sie zu. „Hallo!“ Er wollte hinzufügen: wir kennen uns! - Aber es war nicht nötig, sie erkannte ihn längst.

„Wo kommst du her?” fragte sie.

Ein winziger Fluss von Röterinnsalen zog durch ihr Gesicht, ließ die Bahnen der Sommersprossen noch stärker aufleuchten.

„Ich sah dich in dieses Haus hineingehen, vor rund vier Minuten... als ich hier eben die Straßen entlang fuhr.“

„Vier Minuten?” Sie lachte. „Das ist unmöglich!“

Eine Verwechslung... Vielleicht... Ihm fiel jetzt auf, dass sie einen roten Pullover, keine rötlich gestreifte Jacke trug wie die Frau, der er eben gefolgt war. Auch der Rock war ein anderer.

Er sah auf die Häuserfront. „Du wohnst jetzt hier?”

„Ja, hier.“ Sie zeigte hinter sich auf die Eingangstür.

„Ist alles wieder getrocknet?”

„Getrocknet?” Sie schien nachdenken zu müssen, sagte dann, wieder mit Lachen: „Die Mö

bel, die Polster? - Wahrscheinlich fangen sie jetzt an zu schimmeln. Stehen sowieso alle im Weg in der Wohnung.“

Wohnt schon jemand drin? wollte Jonas fragen.

Der Bullengesichtige fiel ihm jetzt ein, der Rinnstein-Spucker, den sie „Cousin“ genannt hatte. Er zögerte mit der Frage.

„Übrigens - mir ist dies auch schon ein paar Mal passiert,” fuhr sie fort: „Ich sehe jemanden kommen - dann ist er es nicht. Doch kurz darauf kommt er wirklich.“

Sie hatte eins ihrer Netze zwischen die Füße gestellt, ihre Haltung nahm momentweise etwas Stämmiges an, nur die lebhaft wandernden Augen verrieten noch Unruhe.

Er nickte. Wieder fiel es ihm leicht, sie einfach so anzulächeln. Es schien, als hätten nur wenige Minuten ihr Regengespräch von neulich unterbrochen.

„Was seltsam ist,” sagte sie jetzt: „Ich habe dich auch schon gesehen.“

„Mich?”

„Gestern in einem Geschäftsviertel.“ Sie nannte Jonas die Straße.

Dies war keineswegs ausgeschlossen. „Welche Uhrzeit?”

Sie nannte die Uhrzeit.

Das wieder war nicht möglich.

„Es kann auch früher oder später gewesen sein,“ fügte sie an.

Sie merkte auf einmal, dass sie eine Tüte mit Obst in einem Gemüseladen vergessen hatte.

„Ich fahre dich hin,“ sagte Jonas.

Sie setzte, Haarsträhnen-verhangen und nun wieder aufgerichtet, zu einer Augen-freiräumenden Geste an, die Augen blinzelten prüfend in seine; immer mehr überwog ein klarer zustimmender Schimmer darin.

„Gut.“

Sie hatte die Netze jetzt wieder hochgenommen.

„Dann lege ich das eben nur ab und sage meiner Schwester Bescheid...”

„Deine Schwester wohnt mit dir zusammen?”

Sie nickte.

Die Schwester! Eine unerwartet banale Aufklärung dieser Verwechslungsszene.

Zum Obstladen brauchten sie kaum eine Minute.

„Wie heißt du?“ fragte sie ihn.

„Und du?”

„Roswita.“

Die blaue Obst-Tüte lag unversehrt auf dem Verkaufstisch neben der Waage. Sie kehrten zum Auto zurück.

„Ich habe Hunger,“ sagte Jonas. „Gehst du mit mir eine Pizza essen?”

Wieder der prüfend blinzelnde Blick. Sie nickte.

Sie fing an, wieder von ihrer früheren Wohnung zu reden, Vater hatte seit einem halben Jahr die Mietzahlungen eingestellt, also hatte man sie neulich kurzerhand vor die Tür gesetzt.

„Auch deinen Vater?”

„Vater ist tot - seit jetzt zwei Wochen.“

Ein halbes Jahr Mietschulden hatte sie nun, wie sie meinte.

„Wie alt bist du?” fragte Jonas.

„Sechzehn.”

„Also - dann bist du für diese Schulden nicht zuständig.“

„Von mir können sie sich auch nichts holen, sowieso.“

Sie nahmen in der kleinen Pizzeria Platz.

Sie erzählte von ihrer Lehrstelle: in einer Parfümerie bei einer guten Bekannten von Vater, Vater hatte es selbst noch vermittelt, doch die Arbeit „zwischen den Dufttürmen“ ödete sie an. Vor eine Woche hätte sie fast alles „geschmissen”. Die Chefin sagte ihr immer, sie müsse die Kunden mehr anlächeln, „nicht nur Waren aus den Fächern herausreichen sondern sie auch verkaufen.“

„Woran ist dein Vater gestorben?” fragte Jonas.

„Krebs. Lungenkrebs und noch viele andere Krebse.“

„Er starb zu Haus?“

Sie nickte.

„Er hatte eine Aversion gegen Krankenhäuser. Man holt sich nur immer neue Krankheiten dort, sagte er, und man kommt nie mehr raus.

...Jetzt, drei Tage vor seinem Tod -” sie schwieg eine Zeit, „er hat noch einmal ein großes Fest feiern wollen. Bei einer Hotelküche hat er eine große Bestellung gemacht, Torten- und Schinkenberge, und alle früheren Bekannten und Freunde zu sich ins Haus eingeladen. Ich musste die Karten schreiben. Ich musste schreiben: ‚Wir feiern das Sterbe- und Abschiedsfest.’

Keiner ist mehr gekommen. Die meisten wohnten in anderen Städten und konnten die rasche Reise nicht machen. Ein paar riefen an. Die meisten meinten, Vater sei einfach betrunken gewesen oder ein bisschen verrückt geworden. Keiner feiert sein eigenes ‚Sterbefest’. Keiner weiß seinen Tod, und wenn er ihn weiß, dann feiert er nicht. Doch dann, genau nach drei Tagen, war es vorbei.“

„Gut dass du deine Schwester hast,“ sagte Jonas. „Und deinen Cousin - es war dieser Kleine, Stämmige in dieser Nacht?

Sieht ein bisschen aus, als ob er schnell beißen würde... Er wohnt mit in der Wohnung?”

Roswita schüttelte den Kopf.

„Doch er ist ein bisschen dein Aufpasser, ja?

„Nicht auf mich,” sagte Roswita.

Sie verschluckte etwas.

„Welchen Job macht deine Schwester?

Sie wiegte unbestimmt den Kopf. Sie wollte darüber nicht reden.

Sie brachen zum Rückweg auf.

„Du hast studiert, bist ein 'Studierter' - nicht wahr?” sagte sie plötzlich.

„Studiert? Wie kommst du darauf?”

„Ich sehe es an deinem Gesicht.“

„An meinem Gesicht?”

Sie zögerte. „Ich lese oft in Gesichtern... Manchmal sehe ich ganze Geschichten darin: Etwa ob jemand sehr viel allein ist; ob er viel reist; oder ob er gerade unglücklich verliebt ist. Auch die Berufe kann ich manchmal erkennen.“

„Du kannst sehen, ob jemand unglücklich verliebt ist?”

„Ja… Natürlich erkennt man leichter das andere: wenn er verliebt ist. Doch das sieht schließlich jeder ganz leicht.“

„Welchen Job wünscht du dir?”

„Welchen Job? Das ist eigentlich ziemlich egal…“

Sie sprach nun wieder mit dem raueren Teil ihrer Stimme. „Wenn es nur nicht immer dasselbe ist. Ich kann das nicht: immer dasselbe tun. Dann sterbe ich vor Langeweile, glaube ich.“

Sie presste, fast heftig, die Lippen zusammen.

„Das ist, wie es vielen geht,“ sagte Jonas. „Und vielleicht ist tatsächlich erstaunlich, dass sie nicht sterben dabei...”

„Vielleicht auch sterben sie irgendwie... Sie verbleichen, sie sterben. Und sie merken es nicht einmal wirklich…“

Sie lachte.

Jonas lag ein Satz auf der Zunge wie: Nicht schlecht gesagt, weiter so, wirklich nicht schlecht!

Er hatte den Wagen zu ihrer Wohnung zurückgefahren. Roswita wies auf die Tür. „Ich muss jetzt hinein, meine Schwester ist krank.“

„Krank? - Aber sie kann das Haus doch verlassen?”

Sie schüttelte den Kopf. „Seit zwei Tagen sitzt sie nur in der Wohnung.“

„Ohne hinauszugehen?”

Jonas grübelte. Hatte er die so plötzlich einleuchtende Aufklärung des Rätsels noch immer verpasst?

Er schob das Thema beiseite – ein kleines Geheimnis; vielleicht war es nicht wichtig, alles begreifen zu müssen.

„Rechts oder links?” fragte er nun.

„Was meinst du?“ Sie stand bereits auf dem Treppenabsatz.

„Wo eure Fenster sind, will ich wissen.“

Sie zeigte nach rechts, Parterre. Wandte sich nochmals um, mit einem kreisenden Blick, malte eine Frage um ihn in die Luft.

Jonas verstand. Er winkte.

Sie winkte zurück.

Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels

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