Читать книгу Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels - Winfried Paarmann - Страница 4
Die Spuren der Erzählung
ОглавлениеAcht Jahre waren seit jenem Spätherbst vergangen. Plötzlich veranlasste mich etwas, mich nochmals intensiv mit den Ereignissen dieser Zeit zu befassen.
Jener Spätherbst: Jonas war zu einer Reise ins Tessin aufgebrochen und nicht mehr davon zurückgekehrt.
Die Spuren verliefen sich in einem Berghotel am Fuß des Basodino, dreißig Kilometer von Lucarno entfernt. Jonas hatte das Hotel in Richtung des Dreitausenders verlassen, an einem strahlend klaren Vormittag. Es gab keinen Wetterumschlag an diesem Tag, auch an den folgenden nicht.
Suchmannschaften durchkämmten zwei Wochen darauf das Bergmassiv. Ohne Ergebnis – bis auf den Fund von Rucksack, Reiseproviant und Feldflasche, alles ordentlich in einer kleineren Berggrotte abgestellt.
Die Tage zuvor hatte er bei seiner Schwester Andrea verbracht, mir teilte er in wenigen Zeilen mit, dass er „auf einen Trip“ in die Berge sei – für „einen Atemzug Höhenrausch“. Vielleicht bleibe er ein paar Tage, vielleicht auch länger.
Im zurückgelassenen Rucksack befanden sich keine Papiere – doch zwei Bücher mit einer Widmung und seinem Namen. Auch Andrea hatte keine Erklärung für diesen Aufbruch in die Berge und sein Verschwinden. Was sie selbst schwer verstörte. Hatte er doch, Seite an Seite mit ihr im herbstlichen Garten sitzend, über Tage hinweg von Dingen und Ereignissen gesprochen, die er allein ihr anvertraute, und die auch für mich, seinen jahrelang besten Freund, geheim geblieben waren.
Was war geschehen? So oft ich in den folgenden Wochen das gesamte Szenario an meinem inneren Auge vorbeiziehen ließ, stellte sich der Eindruck eines bewussten Arrangements und eines dahinter liegenden Plans ein – ein Gedanke, der mich mit den Jahren niemals völlig verlassen hat.
Acht Jahre nach jenem Herbst entschloss ich mich, auf der Durchreise bei Andrea „vorbeizuschauen“. – Ich traf sie beim Umräumen, sie saß zwischen Stapeln von Kisten, dann legte sie einen schmalen Hefter von handgeschriebenen Seiten vor mit ab. Das, so meinte sie, könnte mich interessieren.
Ich erkannte die Handschrift von Jonas. Eine Abfolge längerer und kürzerer Textpassagen, eher ungeordnet im ersten Eindruck und manches doch zu etwas wie Kapiteln zusammengefasst, das meiste Tagebuch-artige Notizen, immer wieder durchbrochen von philosophische Reflexionen, vieles nur rasch und Telegrammstil-ähnlich hingeworfene Textzeilen. Dennoch zog mich der Hefter bereits nach kurzem Blättern in Bann.
Vieles was Jonas auf diesen Seiten niedergeschrieben hatte, offenbar alles in den letzten Monaten vor seiner Abreise, ließ sich für mich in Kürze „entziffern“.
Er hatte ein Jahr zuvor die Wohnung, in der wir drei gemeinsame Studienjahre verbracht hatten, verlassen und war in ein anderes Viertel der Stadt gezogen. Dies bedeutete kein Ende unserer Freundschaft. In den folgenden Wochen verabredeten wir uns noch mehrmals.
Dann traf ihn ein schwerer Schicksalsschlag. Seine langjährige Freundin verunglückte bei einem Motorradunfall, sie lag mit schweren Kopfverletzungen danach im Koma, und die Diagnose der Ärzte war: Sie werde aus diesem Koma nie mehr erwachen, jedenfalls werde sie nie wieder in ein normales Leben zurückkehren können.
Er zog sich für Monate ganz zurück. Er betäubte sich in einer selbst gewählten Arbeit: der Niederschrift zweier Theaterstücke. Doch offenbar sah er, dass er den eigenen Ansprüchen nicht genügen konnte. Beide Manuskripte hat er schließlich verbrannt.
Ich traf ihn danach nur noch wenige Male.
Und auf eine rätselhafte Weise schien er mir jetzt völlig verändert.
Mit Andrea hatte ich nach dem Verschwinden von Jonas noch gelegentlich telefoniert. Doch ich spürte jedes Mal, dass sie in ihren Antworten auf meine Fragen immer nur kleine Bruchstücke dessen preisgab, was sie selbst von dem Bruder erfahren hatte.
Sein Verschwinden hatte etwas wie eine Verletzung in ihr zurückgelassen, eine Wunde, die offenbar immer wieder schmerzte, wenn man daran rührte. Und sie meinte, auch ihn zu schützen, wenn sie das, was sie wusste, als ein Geheimnis behielt. In der Tat: Es gab dabei einen Akt der Selbstjustiz, einen zweifachen Mord, wie ich ihn Jonas nie zugetraut hatte.
Diesmal doch sprach sie. Wir blätterten uns gemeinsam durch das Manuskript, und mehr und mehr entlud sich ein Redefluss, der die vielen Lücken füllte, die es auf diesen Seiten des Hefters doch gab. Diesen Redefluss begleitete manchmal ein leises Weinen, dann auch wieder ein Lachen, es war, als wäre ein Staudamm gebrochen und der ganze noch einmal aufgewirbelte Schmerz floss ab. Er sammelte sich in meinen wach lauschenden Ohren, ich durchlebte innere Stationen des Staunens und schließlich auch tiefen Erschreckens; doch vieles so Rätselhafte wurde mir mehr und mehr klar.
Der Teil der Tagebuch-artigen Aufzeichnungen beginnt mit der Beschreibung einer Art „Todesroulette“, ein Vorgang, von dem ich damals nie erfuhr. Andrea kannte ihn in allen Details. Es war ein „Spiel“, das in seinem Ausgang für ihn in der Tat völlig offen war und das auch seinen Tod hätte herbeiführen können.
Ich wusste von einer neuen Liebschaft – mit einem sehr jungen Mädchen namens Roswita, eine einfache Angestellte in einer Parfümerie, eine durchaus nicht unattraktive Erscheinung, doch stand sie weit unter seinem intellektuellen Niveau. Dennoch war es wohl über all jene Sommermonate hin eine intensive Nähe und Verliebtheit auf beiden Seiten.
Im Weiteren wusste ich von seiner Bekanntschaft mit einem jungen Freigänger, der sich nach diesen Tagen des Freigangs nicht entschließen konnte, ins Gefängnis zurückzukehren und seine Reststrafe abzusitzen. Er lebte seitdem gefährlich, was für Jonas jedoch kein Anlass war, die Beziehung abzubrechen. Er gab ihm sogar, als er ihn blutig geschlagen und nicht unerheblich verletzt in einer Kneipe traf, über Tage in seiner eigenen Wohnung Quartier.
Dieser junge Mann kam, gerade als er die Rückkehr ins Gefängnis beschlossen hatte, durch den Angriff einer brutalen Schlägertruppe zu Tode. Die Hintergründe blieben völlig unklar für mich, ich ahnte nicht im Mindesten, wie sehr dies alles mit Jonas selber zusammenhing; und wie sehr dies wiederum zusammenhing mit Roswitas. Dieses junge Mädchen befand sich zunehmend in einer Situation größter Bedrohung, und diese Bedrohung holte auch Jonas mehr und mehr ein.
Noch über eine dritte neue Bekanntschaft war ich im Bild: die mit einer älteren Schauspielerin, der Patentante Roswitas. Sie hatte eine kleinere Erbschaft gemacht und war so in der Lage, Mäzenin eines Filmprojekts zu werden, das sie freilich selbst entscheidend mit gestalten wollte. Diese Pläne zerschlugen sich dann auf traurige Art.
In den Aufzeichnungen von Jonas befindet sich ein langes Gespräch, eher ein langer Monolog, während einer gemeinsamen Bootsfahrt mit ihr; etwas daran muss ihn nachhaltig berührt haben. – Beide, Roswita und jene Schauspielerin, waren aus seinem Leben wieder verschwunden, als er die Stadt verließ, um Andrea noch einmal zu besuchen.
Oft hatten wir, Jonas und ich, nächtelang gemeinsam philosophiert. Doch auch in diesem Punkt blieb er nun verschlossen. In nur wenigen Andeutungen ließ er mich teilhaben an einer ungewöhnlichen neuen Lektüre, die ihn zu faszinieren begann und seinen Blick auf die Welt Schritt für Schritt veränderte. Dies geschah wohl für ihn selbst so bestürzend und irritierend, dass er noch einen sicheren Punkt der Klarheit suchte, um darüber zu reden.
Es traten damit auch einige Phänomene in sein Leben ein, die manchem befremdlich erscheinen mögen. Doch er hat Andrea detailliert Auskünfte darüber gegeben, und so muss ich sie als diese Realität annehmen und auch hier darüber berichten.
Ich sprach von seiner rätselhaften Veränderung.
Er schien mir, die wenigen Male die wir uns noch sahen, von einer seltsamen heiteren Gelassenheit, die ich vorher nicht an ihm kannte – alles zugleich um einen Kern völliger „Unberührbarkeit“.
Alles schien „wie ohne Gewicht“.
Wobei ich das Wort „unberührbar“ sogleich korrigieren muss. Ließ er sich doch hineinziehen in Formen des Engagements, die gefahrvolle Risiken bedeuteten. Er, der in meiner Rangordnung von „solider Lebensführung“ eher einen vorderen Platz eingenommen hätte, ließ plötzlich alle Spielregeln einer solchen Lebenshaltung zurück; bis an den Punkt der Leichtfertigkeit.
„Existenz“ war etwas für ihn geworden, das anders und größer war als das, was das gewöhnliche kleine Ich am Rotieren hält - seine Erfolge und Siege in den Tretmühlen der täglichen eingewöhnten Konkurrenzspiele, seine Bedrängnisse und Niederlagen.
Diese so andere innere Existenz, diese „Gewichtlosigkeit“ vor allem ist es, die mich noch einmal in Bann zog und deren Hintergründe ich inzwischen anders begreifen kann – in allen hellen und dunklen Farben. Und die doch weiter einen Kern von Geheimnis umschließt.
Mit den zahlreichen Ergänzungen durch Andrea ist jener schmale Hefter, den ich erwähnte, zu einer umfangreichen Erzählung gewachsen. Diese musste sich in manchen Details darüber hinaus verselbständigen. Doch immer folgt sie dem Ziel, einem Freund und seiner reichen Gedankenwelt wie seiner ganz eigenen Sprache gerecht zu werden.