Читать книгу Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels - Winfried Paarmann - Страница 9
Das Baum-Auto
ОглавлениеDa stand er wieder - der jungen Schnorrer, gegen ein Plakat gelehnt, eine Zigarette in der Hand.
„Also nicht zurückgegangen?”
Der andere kniff die Augen zusammen, stieß eine Rauchwolke gegen ihn ab. Für Sekunden ein bohrender, fast feindlicher Blick.
„Nein, nicht.“
„Und sonst?”
„Alles klar.“ Erneut eine Rauchmauer; eine längere Stille.
„Schon unsern Baum besucht?” fragte Jonas. „Noch Luft in den vier Ballons?”
„Weiß nicht... Schon möglich.“ Der Bartflaum entwickelte sich in Richtung eines wolligen Überzugs, die Schatten von Erschöpfung, Übernächtigung waren unübersehbar, doch unverändert gemischt mit Härte.
„Ich gehe eben mal nachsehen,“ sagte Jonas.
„Gut, gehen wir hin,“ sagte der andere.
Von den Luftballons waren zwei zerplatzt, die beiden anderen baumelten noch wie kleine Gummizitronen an den Zweigen: Doch gab es eine andere Überraschung: Drei schmale Halstücher waren jetzt an den Ästen befestigt, eines wohl doch nur ein Taschentuch und auch die anderen schon etwas ausgebleicht und zerknittert - doch immerhin.
Als er sich auf dem Parkplatz umsah, entdeckte er auf einigen Autodächern alte Blechdosen und Flaschen, in denen welk gewordene Tulpen steckten, manchmal auch nur einfache Grasbüschel und Farne, in einem Fall eine Hyazinthe in hell leuchtendem Blau. Jonas staunte. Irgendwie schien es, sie waren hier nicht mehr allein.
Sie suchten wieder gemeinsam den Stehimbiss auf.
Der andere erzählte, er wohne zurzeit bei einem älteren Mann, ebenfalls „aus der Szene“. Er helfe ihm seinen Dachboden ausbauen, kostenlos, Steine schleppen und mauern, „fünfzig Prozent für das Quartier, fünfzig Prozent reine Freundlichkeit.“
Jonas hatte, eigentlich absichtslos, sein in der Nähe geparktes Auto erwähnt, das nun wieder eine gültige Tüv-Plakette hatte, der andere wollte es sehen, am besten gleich. Im Übrigen: sein Name sei Wulf.
Für einige Minute verschwand er noch einmal, ging eine größere Tasche aus einem der Schließfächer am Bahnhof holen.
Wulf umwanderte den Wagen wie ein Cowboy ein Pferd beim Pferdehandel, Jonas fühlte, dass mit einem betagtem Schlachtross wie diesem bei Wulf nicht zu punkten war, der beschränkte sich schließlich auf den Satz: „Wenn es nur fährt – ist doch alles o.k.“
Er hatte bereits seine eigenen Pläne damit. Ob Jonas ihn eben zu einem Schrottplatz hinfahren könne, fragte Wulf. Er sei auf der Suche nach alten Autoteilen - für das Auto seines Bekannten, das er neu in Schuss bringen sollte. Er hatte in der eben geholten Tasche bereits die notwendigen Autowerkzeuge und Autofarbsprays, gerade im Warenhaus neu beschafft, das ganze Auto sollte eine total neue hellgrüne Schale bekommen.
Jonas nickte. Sie fuhren los.
Jener Wagen gehörte ihnen beiden zusammen, ergänzte jetzt Wulf, er hatte ihn gemeinsam mit seinem Bekannten vorgestern einem Autoverkäufer abgefeilscht - für den Drittelpreis schließlich, den dieser anfangs verlangte. Er beschrieb nicht ohne Schadenfreude ihren Trick: Sie hatten den Mann, während der anderthalb zähen Verhandlungsstunden, mit einer Literflasche Likör „halb in Trance versetzt“.
Sie hielten bei einem größeren Autoschrottplatz, Wulf kletterte über den Maschendrahtzaun, Jonas erhielt nochmals die Anweisung zu hupen, wenn eine Polizeistreife käme oder irgendein Auto stoppte.
Nach einer Viertelstunde kroch Wulf aus den Wrackhalden wieder hervor, reichte einen Autositz über den Zaun, eine Stoßstange, ein Lenkrad, zwei Scheibenwischer, eine mit kleineren Metallteilen gefüllte Plastiktüte. Er schien von der Ausbeute selbst wenig begeistert.
Sie verstauten alles im Auto. Ob er den anderen Wagen selbst fahren wolle, fragte ihn Jonas, und was er täte, wenn er mit seinem Auto in eine Verkehrskontrolle geriete. Darf nicht passieren, gab Wulf zur Antwort. Dann beschrieb er den Weg zur Straße, in der sein Wagen geparkt stand.
Es war eine Einbahnstraße, die auf einen kleinen Stadtpark zulief, Wulf wurde still, schien selbst das Atmen jetzt einzustellen - nirgends ein Auto auf diesem letzten Viertel der Straße, er presste sein Gesicht an das Fensterglas, immer noch schwankend zwischen Ungläubigkeit und aufkochender Wut.
Sie fuhren die Straße wieder zurück, kontrollierten das Straßenschild, fuhren nochmals dem Park zu. Wulf stieg jetzt aus, stampfte auf dem Stück Pflaster herum, wo es noch gestern gestanden hatte, es fehlte nicht viel und er hätte sich wie ein weinendes Kind mit trommelnden Fäusten auf den Boden geworfen.
Ob es versichert gewesen sei, fragte Jonas, als Wulf ins Auto zurück stieg. Wulf schüttelte stumm den Kopf, sie fuhren nun wieder, nach drei Minuten fügte er dumpf, fast tonlos hinzu: Er hätte es dort nicht abstellen dürfen, so ohne Schlüssel, wo jeder sich heimlich und ungesehen darüber hermachen konnte; besser wäre eine belebte Verkehrsstraße gewesen.
Jonas begann zu begreifen, eine Bemerkung lag ihm nun auf der Zunge wie: Wahrscheinlich ist es so besser; es hätte ein paar weitere Monate Knast werden können. Schließlich beschränkte er sich auf den Satz: „Wahrscheinlich ist es so besser.“
Wulf wollte wieder ins Zentrum, er begann sich von seinem Zorn, seinem Schmerz zu trennen, „die kleine Schrottwanne!” sagte er jetzt.
Sie durchfuhren erneut die Straße mit ihrem Luftballonbaum, Jonas bremste sanft ab, dachte, die wehenden Tücher betrachtend, über das sonst hier Mögliche nach, die weiteren Chancen, die sicher bisher nicht ausgeschöpft waren.
Plötzlich kam der zündende Einfall: Sie lehnten den Autositz gegen den Stamm, ließen, vom stärksten der Äste, an einer Ballonschnur das Lenkrad baumeln, befestigten daneben die Scheibenwischer, grenzten alles nach vorn mit der Stoßstange ab. Schließlich schrieben sie „Baumauto” in den Sand um die Wurzeln.
Es sah wieder recht hübsch aus, auch bei Wulf war ein kleiner Begeisterungsblitz gesprungen.
Sie setzten sich ins Auto zurück.
In einer Nebenstraße trafen sie auf einen Plakat-bepflasterten Bauzaun: elfmal Sparkassenwerbung, immer war es dieselbe Zins-versprechende Großmutter, mit strengen Gesichtsfalten und erhobenem Zeigefinger, die dringend zum Sparen riet. Jonas hielt an, erinnerte Wulf an die Autospraydosen in seiner Tasche.
Sie besprühten die halbe Wand: Oma einmal mit grünen, einmal mit Orange-Händen; Oma einmal mit grüner, einmal mit Orange-Nase; Oma mit grünem Ohr und Orangeohr, mit grünem Haar und Orangehaar.
Eine ältere Frau kam vorbei, sah ihnen ungläubig, dann kopfschüttelnd zu. Einige weitere Passanten verlangsamten sichtbar die Schritte.
Sie verschwanden wieder im Auto.
Wulf hatte bei einer Straßenlaterne etwas ins Auge gefasst, rief „Halt“ und sprang aus dem Auto. Jonas sah ihn kurz darauf einem Pudel nachlaufen, der ohne sichtbare Begleitung über das Pflaster trabte. Nun aber, den Verfolger bemerkend, setzte er zu einem plötzlichen Spurt an, verschwand fast fliegend um eine Straßenecke. Wulf hastete hinterher.
Jonas bog um die Ecke, verfolgte die Jagd bis an eine schmalere Hofeinfahrt; wartete dort etwa drei Minuten. Schlendernd, mit verkniffenen Mundwinkeln, kam Wulf durch den Torbogen wieder zurück.
Jonas konnte sich keinen Reim darauf machen.
„Alles in Ordnung?”
„Bestens.“
Wulf wollte zum Bahnhof zurück.
Jonas hatte seit einer Woche die Angewohnheit entwickelt, vor dem Einschlafen in Gedanken die Ereignisse des vergangenen Tages zu überfliegen.
Dies entfaltete sich mit der Konsequenz der immer neuen Überraschungseffekte vor allem dann, wenn er mit den Geschehnissen des Abends begann und sich dann zurück in den Mittag und schließlich fort in den Morgen bewegte.
Er merkte, dass er mit dieser Rückschau auf Begebenheiten und Eindrücke stieß, die zunächst eine untergeordnete, kaum sichtbare Rolle gespielt hatten, nun aber, im emotionsloseren Nebeneinander, ein eigenes Leben zu entfalten begannen.
Eine barocke gut erhaltene Häuserfassade. Auf einer Steinmauer ein Schachtelhalm, handspannengroß, der auf kaum einem Teelöffel Erde wuchs. Zwei dicht stehende Bäume, deren zwei untere fest ineinander verschlungene Äste tatsächlich den Eindruck einer Dauerumarmung machten, ein friedvoll dahin wachsendes Liebespaar.
Ein Hund bellte den eignen Kopf in einer spiegelnden Pfütze an, je mehr es in wachsender Aggression geschah, desto aggressiver verhielt sich auch der gegnerische Hund unter ihm. Herrchen musste ihn schließlich energisch zurückpfeifen. Auf einem Balkon sang eine Frau mit schon etwas altersbrüchiger Stimme ein Kinderlied, offenbar vor dem Bett eines Kindes - manchmal mit so kläglich verrutschter Stimme und so falscher Tonlage, dass das Baby eigentlich laut hätte protestieren müssen. Irgendwo auf dem Pflaster krümmte sich eine halbzertretene Schnecke, auf der und um die herum sich bereits ein riesiger Tross von Ameisen versammelt hatte, ein sicheres Speiseangebot für viele Wochen.
Es war gut, all diese Mitteilungen mit Neugier noch einmal vorüberziehen zu lassen, bevor sie - viele vielleicht für immer - versanken.
Am Morgen war dann noch ein Vogelton, der ihn weckte, kurz darauf das Klappern der Müllkästen und der schmetternde Gesang eines Müllfahrers. Jonas sagte sich, dass er Minuten damit verbracht hatte, auf die Stimmen vor seinem Fenster zu lauschen. Es war nur scheinbar das Unerhebliche, mit dem er so seine Zeit verbrachte.