Читать книгу Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels - Winfried Paarmann - Страница 7

Die kleine Hüterin der Straßenmöbel

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Jetzt, im abendlichen Dämmer, im Schattenspiel der wehenden Gardinen, trieb er wieder durch diese Räume einer dröhnenden Stille.

Er lag auf dem Sofa und lauschte dem mahlenden Strom der Autos, dem knatternden Lärm vorüberbrausender Motorräder; den ächzenden, plärrenden Lauten der Stadt. Doch alles dies war zugleich wie Meilen entfernt. Es war nur die Oberfläche dieses anderen Dröhnens, eines das mit berstenden Lauten aus einer undefinierbaren Tiefe drang.

Das große Motorengetriebe der Welt. Das Hämmern aus dem Maschinenraum.

Die Welt rotierte in mahlender Sinnlosigkeit. Wie häufig in den vergangenen Wochen fühlte er, dass er hier, auf das Sofa gestreckt, erstarren könnte, dass ihn diese dröhnende, klopfende Leere, die ihn umschwemmte, plötzlich versteinern könnte, mumifizieren für immer.

Nichts würde ihn befreien daraus, wenn er nicht selber es tat.

Zugleich war es doch wie ein Spiel: wie der Blick in einen schwindelnden Abgrund, in den er sich probend hinab gleiten ließ.

Es war vergleichbar der Frage, die ihn als Junge manchmal beschäftigt hatte: Wo befindet sich das Ende des Alls? Und ist man an dieses Ende gelangt, was kommt danach? Wenn noch etwas kommt - was wieder kommt hinter dem? Kann etwas ganz ohne Ende sein? Gibt es ein Ende des Endes?

Er musste diese Fragen nicht denken. Er musste den Abgrund nicht anrühren.

Doch immer lag zugleich eine Verlockung darin.

Plötzlich fiel ihm die Party bei Z. ein. Sie musste seit einer Stunde begonnen haben.

Jonas spürte nichts, das ihn hinreißen könnte, noch dorthin aufzubrechen, am wenigsten dieser Zustand. Trotzdem, er ließ sich auf das Spiel der noch offenen freien Entscheidung ein.

Partys - ausgenommen die in den kleinen, bekannten Studentenkreisen - vor allem Massenpartys waren ihm häufig wie alberne Kostümfeiern erschienen, witzlos arrangierte Anstarr-Manöver.

Die Klüngel der umeinander hockenden Leute, oft gelangweilte Säulen, die die verordnete Heiterkeit und Geselligkeit zwischen Rocksound, Cocktails und kaltem Büffet allen sichtbar zu präsentieren versuchten. Die gewagte Garderobe der Partnerinnen, Maxi und Mini, die hoch toupierten, kühn gestylten Frisuren – alles wie Abziehbilder aus Hochglanzmodekatalogen.

Ansonsten dichter, nicht endender Rederauch, in dem jeder das ihm mögliche Quantum abstieß. Jeder beschwor die eigene imaginäre Potenz, brav eingereiht in diesen Tanz der Showgesten, der Kraftrituale wie manchmal auch Mitleidsgesten, immer war es ein Tanz der Verkleidungen, in denen jeder um seine Streicheleinheiten buhlte, im Rausch der fortgeschrittenen Nachtstunden und des gehobenen Alkoholspiegels selber bereit, sie willig auszuteilen.

Das letzte Mal, vor nun einem Jahr, hatte er schließlich diese Stauwelle in sich gespürt: Beinah wäre er plötzlich von Grüppchen zu Grüppchen gegangen und hätte angefangen, über den Abend zu sprechen -: diese Bespiegelungsrituale mit den Konservationsschallplatten, ihren nervtötend immer bekannten Sprungstellen, diesen Gedankenaustausch ohne Gedanken.

Eigentlich, fand er, hätte man ihm zustimmen müssen. Eigentlich hätte es möglich sein müssen, einen plötzlichen Sturm des Protests zu entfachen. Ganz unversehens würde die hier versammelte Mannschaft auf einmal die Gläser abstellen, würde über die Grönlandschrimps-Teller, die Hummerpastete-Teller, die Senfgurkenteller hinweg sich aufgeschreckt und plötzlich klar in die Augen blicken und sagen: So ist es! Verdammt! verdammt! Wir lassen uns das nicht länger gefallen!

Jonas spürte, dass sein Lustbarometer für Partyfreuden sich nur zögerlich von der Stelle bewegte.

Doch etwas rumorte in ihm. Es konturierte sich immer deutlicher, ein ungestillter Hunger.

Seit Monaten, seit Marlies verunglückt im Krankenbett lag, hatte er mit keiner Frau mehr geschlafen.

Es wäre ihm wie ein Verrat erschienen.

Und doch: der Hunger war da, ein unabweisbarer Drang. Er sehnte sich nach der Rundung einer weiblichen Hüfte, den Rundungen weiblicher Brüste, der Berührung zarter und nackter Haut.

Partys hatten auch etwas von einem „Ware feilbietenden“ Basar, jedenfalls für den, der ihn als Single aufsuchte: Ein Teil dieser ausgestellten Ware war man selbst, man hielt Ausschau nach einem irgendwie verlockenden Gegenstück, man feilschte mit den Mitteln des Flirts, eine Überraschung konnte immer dabei sein.

Doch: Diese Sehnsucht, wieder einen weiblichen Körper zu spüren, war stark.

Er würde nicht wählerisch sein.

Nur ein One-night-stand.

Er würde den Flirt ohne Umwege auf diesen einen Satz zusteuern lassen: „Ich habe Lust. Kommst du zu mir nach Haus?“

Nach einer Viertelstunde saß er im Auto.

Man hörte eben einen bekannten Hit durch zwei offene Fenster.

Hinter den wehenden Gardinen schaukelnde und sich beulende Tänzerschatten.

Möglicherweise würde er Gerd wieder antreffen, auch Charlotte und Jochen, wie es ihm ginge, würden sie fragen, was er jetzt tue, immer nachdem der eine geendet hatte der nächste.

Wahrheitsgemäß müsste er antworten: Es geht mir nicht schlecht, nicht mittel, nicht gut.

Es „geht“ mir nicht, so oder so nicht, weil es mich in Wahrheit nicht gibt. Ihr glaubt, mich hier vor euch zu sehen. Doch Jonas, der den ihr kennt, ist aufgelöst, plötzlich verschwunden. Auch wenn ihr meint, mich zu sehen, mich reden zu hören - dass es mich gibt, ist blanke Täuschung, ist Illusion. Jonas, dieser von früher, ist nicht existent.

Allerdings war es zweifelhaft, dass man seinen Betrachtungen soweit folgen würde.

Die Einweihungsparty hatte bereits den schwer schnaufenden Atem eines galoppierenden Nilpferds, das ganze Haus vibrierte unter satt dröhnenden Bassklängen. Im ausgebauten Atelierraum drängten sich Gruppen von Tanzenden, viele ältere Herren darunter mit ihren Gattinnen, Dozenten und Professoren.

In den Räumen darunter hatten sich zahlreiche Gesprächsgrüppchen formiert. Charlotte und Martina, gleichfalls frühere Kommilitoninnen, winkten ihm aus einem in einer Zimmerecke lagernden Menschenknäuel zu, er traf auf ein Dutzend halb- und viertelbekannter Gesichter, die zwei anderen Dutzend waren ihm fremd, ab und zu schob sich ihm wie ein Schneckenfühler eine grüßende Hand zu.

Er begutachtete das kalte Büfett - alles noch schüsselweise vorrätig wie für den sicher erwarteten Katastrophenfall -, endlich traf er auf Z., der fest überzeugt war, ihn schon begrüßt zu haben. Während der drei Minuten, in denen ihn Jonas vom Gegenteil überzeugen musste, schüttelte er ihm dafür ununterbrochen die Hand.

Gerd, sein Dauerkontrahent, fehlte - wie er fast mit Bedauern feststellte.

Jonas war wieder erstaunt, wie allein man in vier dicht mit Menschengruppen gefüllten Wohnräumen sein konnte. Er ließ sich weiter von Tisch zu Tisch treiben, von Zimmer zu Zimmer.

Er suchte wieder den Flur auf, entdeckte auf dem Boden vor der Garderobe einen großen, geschwungenen Federhut - offenbar war jemandem der Mut ausgegangen, ihn hier bei der Party zu tragen: Stirnschleier, ein Büschel handspannenlanger grünvioletter Federn.

Er hob ihn auf, schob ihn sich auf den Kopf. Auf dem Eingangstisch standen zwei größere Vasen mit Nelkensträußen, er nahm sich fünf rote Nelken heraus, steckte sich eine rechts und links in die Hosentasche, zwei hinter die Hosenschnalle, eine ins offene Hemd.

Er kehrte noch einmal ins erste Zimmer zurück, nahm Aufstellung vor dem dortigen Wandspiegel, rückte nochmals das fremde Monstrum von Kopfbedeckung zurecht. Einige Leute klatschten.

Eine korpulente Frau um die vierzig schwang sich, den Hut erkennend, mit einem leisen Schrei in die Höhe, Jonas ging auf sie zu, mit leichter Verbeugung, entfernte die Nelken aus Gürtel und Hosentaschen und reichte ihr beides, Kopfbedeckung und Nelken.

Sie bedankte sich, mit leicht theatralischer Geste, küsste ihm schließlich die Hand, wieder klatschten einige Leute, sie konnte sich inzwischen nicht davor drücken, den Hut auch aufzusetzen. Man klatschte erneut, sie verneigte sich samt der Nelken.

Auf einmal griff jemand sie bei der Hand, ein Mann mit bärtigem, verschmitztem Seemannsgesicht, zog sie auf die freien Quadratmeter vor dem Büfett und dann, in Rock’n-Roll-Manier, an die Brust, stieß sie zurück, versuchte sie wirbeln zu lassen. Die kleine rotierende Tonne schwankte unbeholfen von einem Bein auf das andere, plötzlich rutschte der Hut ihr fort, sie bückte sich, prustend, mit rotem, schwitzendem Kopf, presste den aufgehobenen Hut auf die Hüfte. Dort klemmte er fest, nichts konnte sie zu einem weiteren Tanzschritt bewegen.

Es war wie das Versprechen eines eben beginnenden Sketches - dem aber schon in den Sekunden des ersten Auftritts die Luft ausging.

Jonas dachte daran, was ihn auf diese Party getrieben hatte.

Der simple Hunger nach Sex. Er hatte diesen „Basar“ durchwandern und, irgendwo andockend und einen Flirt provozierend, kurz und direkt diese eine Frage stellen wollen: „Hast du Lust? Kommst du zu mir?“

Er stieg wieder hinauf ins Atelier, mischte sich unter die Tänzer.

Er begann den Flirt.

Mit einer ersten, mit einer zweiten Tänzerin.

Doch er spürte jedes Mal: sein Flirten blieb künstlich.

Er wechselte erneut die Tänzerin.

Immer fiel ihm etwas Störendes auf.

Die leicht fliehende Stirn, die etwas knöcherne Nase, die schmalen Lippen.

Jede befand sich wie hinter einem Kasten aus Glas.

Doch es war diese eigene innere Glaswand, hinter der er gefangen blieb.

Keine genügte.

Er hätte es wissen können.

Jeder Vergleich mit Marlies leitete gnadenlos einen Absturz ein.

Sein Glaube, ein schnelles Lächeln könnte ihn in die Welt des leichten Flirts, der raschen unverbindlichen Sexabenteuer zurückkatapultieren, war naiv.

Nach knapp einer Stunde befand er sich wieder im Freien.

Zu seinem Erstaunen saß sie, hundert Meter vor seinem in einer Seitenstraße geparkten Auto, immer noch da, neben der kleinen Birke, eingerahmt von zwei Bücherregalen und Kisten, Stehlampen, einer Couch, einem Schreibtisch, mehreren Stühlen, zwei Sesseln, einem Küchenbüfett. Ein leichter Nieselregen ging inzwischen auf die Einrichtung nieder.

Er schätzte sie auf dreizehn, möglichen Weise vierzehn.

„Hallo!“

Sie wandte ihm zögernd den Kopf zu. „Es regnet,” sagte Jonas.

Ihr Haar hatte einen rötlichen Schimmer, glitzerte regenbesprüht; er erkannte, ebenfalls rötlich schimmernd, Sommersprossenbahnen auf ihren Wangen, auf ihrer Nase.

Jonas lehnte, sich wie mit einer kleinen Schutzhacke arrangierend, den Arm gegen eines der beiden Regale. „Was tust du hier?”

„Aufpassen,” sagte sie ruhig.

Es war sicher, dass sie die Möbel meinte. Dennoch lag ihm jetzt eine Bemerkung auf der Zunge, die auf die späte Nachtzeit an dieser Straßenecke und ihre Person zielte.

„Ich liebe Regen,“ fügte sie ruhig hinzu. Das Licht der Laternen reflektierte auf ihren Augen, ein Stück Lichterstraße: zwei, drei Laternen in winziger Perspektive.

„Holt niemand dich ab?” fragte Jonas.

„Regen ist schön,” sagte sie. Es gab etwas Hüpfendes in ihrer Stimme, doch momentweise auch eine rauere Schwingung. War sie wirklich erst dreizehn?

„Hat man dich auf die Straße geworfen?”

„Eigentlich ist es ein Umzug…“ Sie versuchte ein Lachen. „Aber – so kann man es auch sagen.“

„Ich merke schon... Etwas ziemlich Verwickeltes. Und mitten in diesem Wolkenguss.”

Sie sprachen noch einmal über den Regen, der Bücherregale und Stühle inzwischen mit einem glitzernden Tropfennetz überzog. Sprachen über die „Lachmale” dort auf den Grünstreifen, die beiden Plastiken, die man nicht „Denkmal“ nannte: zwei Pinguine mit Froschfüßen und mit Giraffenhälsen.

„Ich helfe dir aufpassen,“ sagte Jonas.

„Du bist nicht der erste.“ Sie schob eine Haarsträhne aus dem Gesicht, halb abwehrend, halb wie Platz für ein Lachen zu machen.

„Ernst gemeint,” sagte Jonas.

Sie lachte; tatsächlich lachte sie nun.

Sie erwartete ihre Schwester und ihren Cousin, die sie mit einem Kombi abholen wollten, jetzt seit zwei Stunden. Möglicherweise hatten sie eine Panne, vielleicht einen Unfall. Überhaupt war auf die Zeitangaben und Zusagen der beiden wenig Verlass.

„Wenn sie nicht kommen,“ sagte Jonas, „kommst du ganz einfach zu mir.“

Sie war nicht dreizehn; vielleicht fünfzehn, sechzehn. „Gern...

Doch die Möbel, auf die ich aufpassen muss!“ Ein flüchtiges Mienenspiel des Bedauerns auf ihrem Gesicht, die Haarsträhne war wieder zurückgefallen. Und dann wie vorhin: „Du bist nicht der erste.“

Jonas klopfte gegen die Holzbretter vor sich, verzog abschätzig den Mund. „Sperrmüll!” sagte er kühl.

„Gehört mir nicht, nicht allein...“ Sie zuckte die Schultern, den Kommentar wie lässig abgleiten lassend, ihre Stimme klang wieder rauer. Plötzlich bemerkte Jonas, dass sie ihn blinzelnd musterte. Wieder der Griff nach der Haarsträhne, sie neigte etwas den Kopf, blinzelte fragend, mit einem Schimmer von Irritation, in seine Augen zurück.

Ein kleinerer Lastwagen näherte sich, nahm jetzt Kurs auf den Bürgersteig. Ein etwa dreißigjähriger Mann sprang heraus, kraushaarig, untersetzt und mit Lederjacke, spuckte hörbar, mit spitzem Knallton, aufs Pflaster. Er hatte einen roten Brandfleck über der rechten Braue.

Jonas traf ein misstrauisch linsender Blick aus dem breiten gebräunten Gesicht, während beide, der Mann und das Mädchen, zu räumen begannen, fühlte er sich immer nochmals von bohrend musternden Blicken getroffen. Zögernd tauchte der Gedanke in ihm auf, dies Blickeduell zu entschärfen, indem er seine eigene Muskelkraft anbot.

Doch er fühlte sich nicht erwünscht. Dieses mögliche Angebot war wie ein Fremdkörper in dieser Begegnung, eine Kategorie von Gedanken, die im Kopf des anderen nicht existierte.

Etwas in ihm spürte, der Mann betrachtete dieses Mädchen als seinen Besitz. Wer dies in Frage stellte, dem drohte eine feindliche Antwort, kompromisslos und hart wie die Züge dieses Gesichts.

Jonas winkte noch einmal zu der Kleinen hinüber, lächelnd, flüchtig bedauernd. Während er sich durch den Regen entfernte, über das spiegelnde Straßenpflasterparkett, hörte er doch weiter diese hüpfende, dann wieder raue Stimme im Ohr.

Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels

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