Читать книгу Höhentänzer oder Die leichte Berührung des Himmels - Winfried Paarmann - Страница 5
Der neue Tag
ОглавлениеEr fiel nun doch in einen gewöhnlichen Schlaf.
Kein Traum, der ihm erinnerbar war, als er zurück in den Tag tauchte.
Er schob die Gardinen beiseite. Es folgte der morgendlich gewohnte Blick durch sein Zimmer.
Er sah aus dem Fenster - auf eine Gruppe von Zirruswolken, die wie Haarflaum auf einem entfernten Dachgiebel lag; sah auf dem Rasen zwei streitenden Amseln zu, die auf denselben Regenwurm einpickten. Der lag apathisch, ließ reglos die schließlich Frieden schaffenden Aufstückelung geschehen.
Er ging von Möbel- zu Möbelstück, horchte auf das Knarren der Dielen unter den Füßen, an den immer bekannten Stellen. Vier Bücher lagen aufgeschlagen noch auf der Erde.
Zunächst allerdings sollte er sich, wie er fand, um seinen hörbar rumorenden Magen kümmern, seit vorgestern Mittag hatte er nichts Essbares mehr angerührt.
Er setzte den Kaffeetopf auf den Herd, stellte Brot und Marmelade zurecht, Käse und Butter.
Ein halb vertrockneter Blumentopf neben dem Kühlschrank hatte dringend eine Wässerung nötig, auch um das Blumenfenster im Wohnzimmer hatte er sich eine längere Zeit nicht gekümmert. Jetzt tat er es, mit Sorgfalt - immerhin: Hunger- und Durstempfindungen waren ihm eben wie selten vertraut. Schließlich setzte er sich.
Alles war wie gewohnt. Alles war anders.
Beim Essen kam es ihm momentweise vor, als ob er sich füttere; es war, als durchbräche er den üblichen Ablauf immer wieder mit Fragen wie: Willst du dies oder das -? Willst du es so oder so -?
Diese ganze Mahlzeit, die unerwartet mit einem wässrigen Schnurren aus der Tiefe des Magens endete, reizte ihn plötzlich zum Lachen. Es war keine neue Erkenntnis, doch selten hatte er es mit gleichem Witz sehen können: in welchem seltsamen Tier er da hauste, dieses kauende, speichelnde, verdauende Etwas, das in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen nach Futter schrie, gestreichelt sein wollte, gewaschen und spazieren geführt.
Er konnte sich damit identifizieren - in der Art einer Theaterrolle, die er mit Humor und vielleicht auch Hingebung spielte, wechselnd mit Besonnenheit und Distanz. Doch vor allem Humor. Er war dieses Tier nicht, bestenfalls „ritt“ er auf ihm - oder „in ihm“, teilte die Stallluft mit ihm
Freilich, er hätte auch jetzt nicht bestritten, dass sie eng miteinander verkoppelt waren.
Wieder griff er nach seinen Büchern, die unverändert zu kleinen Stapeln getürmt vor dem Regal lagen.
Jonas hörte sich Atem holen, als ginge es um einen Sprung in die Tiefe, in die er lustvoll für einige Stunden zu tauchen plante.
Aufs Neue spürte er es: die Aussicht auf diese noch unbekannten Gedankenstrecken, möglichen inneren Trimm-Dich-Pfade war tatsächlich verlockend, eigentlich erschien ein Leben zu kurz angesichts dieses Angebots.
Wieder ein Telefonklingeln, das ihn aufschreckte. Etwa vier Stunden, zeigte der Blick auf die Uhr, waren seit Beginn des Lesens vergangen. Zeit wieder aufzutauchen.
Nur etwa fünfmal klingelte es diesmal; er hatte sich soeben erneut auf ein längeres Zählen eingestellt.
Er ging ins Bad sich rasieren, wechselte Hemd und Jacke, kämmte sich, rückte den Kragen zurecht.
Ein Mensch mit passablem Outfit und das gleichfalls passable Gesicht eines jungen Mannes blickte aus dem Spiegel zurück. Nein, er hatte keinen Grund, sich über dieses Gesicht zu beklagen.
Es zog ihn hinaus an die frische Luft.
Er holte die Einkaufstasche vom Haken. Dann stellte er fest, es gab noch genügend Brot im Fach, auch der leise surrende Bauch des Kühlschranks war noch für Tage ausreichend gefüllt.
Aber eine Zeitung vom Kiosk zu holen, wäre für diese Mittagszeit eine sinnvolle Aufgabe. Überhaupt, es gab diese Sache, die ihn betraf und in der er sich besser doch kundig machte.
Erst beim dritten Kiosk, eine halbe Stunde Fußweg von seiner Straße, wurde er fündig: In einem Regal lag noch eine Zeitung des gestrigen, auch des vorgestrigen Tags. Er blätterte auf den Lokalteil zu.
„Fahrerflucht“. Die Kapitelüberschrift sprang ihm ohne Schonung ins Auge, es folgte das Wort „Totalschaden“. Durch seine Finger lief momentweise eine prickelnde Hast, die Augen saugten gierig den folgenden Satz auf. Mitten im nächsten brach er ab und schlug die Zeitung sanft wieder zu.
Ein Schäferhund trottete heran, hielt an und jaulte nach oben. Die Verkäuferin, eine Frau mit dem watschelnden Gang einer übergewichtigen Ente, beugte sich vor und warf einen Drops aufs Pflaster. Der Schäferhund leckte ihn auf, zerkaute ihn knirschend.
„Er kommt jeden Tag hier vorbei,“ sagte ein Mann, der sich eben zwei Totoscheine herausreichen ließ. „Er trinkt auch Bier aus der Flasche, und Herrchen putzt ihm täglich die Zähne, wegen der Drops. Er tut alles, was Herrchen tut.
Die Kioskfrau warf noch zwei weitere Drops aufs Pflaster, Herrchen war eingetroffen und bestellte sein Bier. Er leerte die Flasche zu etwa zwei Dritteln, dann führte er es den Umstehenden vor: schob sie dem Hund ins Maul, der daran sog wie ein Welpe am Euter.
Der Mann mit den Totoscheinen fuchtelte mit dem Kugelschreiber über den vorgedruckten Kästchen, sichtbar ratlos für einen Moment, er wandte sich kurz entschlossen wieder an Jonas und wünschte einen Tipp zum Ausgang eines Spiels zweier Mannschaften, die am Wochenende gegeneinander antreten würden.
„Unentschieden”, sagte Jonas. Der Mann hob misstrauisch die Brauen, vor allem wegen der unvermutet raschen Reaktion, dann aber machte er folgsam sein Kreuzchen. Schließlich wünschte er noch zwei weitere Tipps und Jonas verblüffte ihn wieder: drei zu eins Tore, sagte Jonas beim nächsten weiteren Spiel, vier zu null beim dritten.
Der Mann protestierte heftig, auf diesen letzten Tipp reagierte er ärgerlich.
Jonas hatte von beiden Mannschaften nie mehr als die Namen gehört, immerhin war ihm bekannt, dass sie mit Fußball zu tun hatten. Er erklärte jetzt, dass es im Fußball immer Überraschungen gebe, und dass das Überraschende deshalb meist das Wahrscheinliche sei.
Der Mann dachte nach und nickte. Er fand jetzt auch selber eine Erklärung für den gegebenen Tipp - der krankheitsbedingte Ausfall des Liberos, während Jonas wieder kennerisch die Mundwinkel verzog.
Im Übrigen hatte er, der Mann, selber als „junger Bursche“, also im Alter von Jonas, Fußball gespielt. Dabei hatte er „Überraschungen“ am laufenden Meter erlebt. Er hatte „Hunderte solcher Geschichten im Koffer“. Er begann, einige davon auszupacken, sich immer wieder mit einem Schrei des Entsetzens oder des Überschwangs, je nach eigener Mannschaftszugehörigkeit, unterbrechend. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm dann, dass er es „höllisch eilig“ hatte, mit geröteter schwitzender Nase ging er davon.
Unerwartet erschien Gerd am Kiosk, ein früherer Kommilitone.
Er hob grüßend die Hand, ließ ein „Hallo“ hören, bestellte dann eine Currywurst, fragte Jonas, was er so mache zur Zeit, auch Charlotte und Achim hätten nach ihm gefragt.
Jonas hatte keine Lust, mit Gerd zu sprechen.
Mit Gerd und zwei andern Bekannten und Freunden hatte er während des ersten Studienjahrs eine Fünf-Zimmer-Wohnung geteilt - ein Experiment, von dem er nachträglich nicht mehr verstand, wie er ihm hatte zustimmen können.
Vor allem Gerd war etwas wie eine schrille „Gegenfarbe” zu ihm, ein Gegenakkord, der sich schließlich zur offenen Dauerdissonanz entwickelte; endgültig nachdem ihm Jonas versehentlich einen Pokal, eine silberne Radfahrertrophäe, von einem alterswackligen Schrank gestoßen hatte.
Beide wussten, dass dies den Bruch nicht ausgelöst, nur die Antipathie zementiert hatte. Gerd hegte sie wahrscheinlich vom ersten Moment, noch bevor Jonas selbst einen Anlass dazu hätte geben können.
Nachträglich hatte Gerd lächerliche Gerüchte um Jonas verbreitet wie: Er hätte die Wanne jedes Mal mit einem schmutzigen Rand hinterlassen - die Wanne hatte permanent einen dunklen Rand, auf den keine Bürste und Seife mehr Einfluss hatte; Jonas hätte fremde Briefe geöffnet - es stimmte, einmal hatte sich Jonas bei einer Druckpostsache geirrt; Jonas hätte mit einer alten Flohmarktjacke Nissen in die Wohngemeinschaft geschleppt.
Jonas hatte alle Zusammenstöße von Anfang an strikt vermieden, Gerd suchte sie auf.
Warum man ihn so selten noch sehe, fragte ihn Gerd. Und: Ob er inzwischen einen festen Job habe. - Jonas hatte keine Lust, mit Gerd zu reden.
Sie standen beide am selben Tisch, Gerd aß seine Curry, seine Pommes Frites, Jonas trank einen Orangensaft. Gerd machte noch ein paar Mal den Anlauf, das Gespräch zu beginnen, erzählte von seiner gegenwärtigen etwas schlecht bezahlten Arbeit bei einer Lokalzeitung. Es half nichts. Jonas zeigte keine Reaktion.
Schließlich verstummte auch Gerd. Zwei, drei, vier Minuten vergingen, und Jonas spürte, wie über dem Tisch eine Wolke von Beklemmung emporstieg, sich mit jeder Sekunde verdichtete, anwuchs zur schwarzen Gewitterballung, sich dringend entladen wollte. Er beobachtete diese Beklemmung, wusste, dass Gerd sie teilte, fühlte sie intensiv und genoss es, ihr immer noch stand zu halten.
Er hatte nichts gegen Gerd. Gerd war ihm gleichgültig. Einen Moment überlegte er jetzt, ob dies der Grund sein könnte, dass Gerd Aversionen gegen ihn hegte. Jonas Gleichgültigkeit beleidigte ihn, vielleicht, er interpretierte Hochmut daraus, er wollte geliebt und gewürdigt werden, nicht nur teilnahmslos registriert; er bestand auf Würdigung und Beachtung, auf seine Streicheleinheiten wie alle.
Jonas sah auf, wanderte das sommersprossenbleiche Gesicht ab, den schmalen Mund, die unruhig zuckende Stirn, die goldumrandeten Brillengläser, und er stellte sich vor, er würde ihn streicheln und würdigen. Die Vorstellung fiel ihm nicht leicht, auch hätte es Gerd wahrscheinlich erstaunt, und er hätte entschieden bestritten, dass er so etwas brauchte.
Jonas dachte an den Pokal, die Reihe kurzer Zeitungsausschnitte über kleine Vereinssiege neben Gerds Bett. Es schien ihm jetzt, seine Gedanken träfen seltsam genau ins Schwarze und er sähe dies alles in einer neuen Vollständigkeit.
Schweigen, unverändert. Jonas hatte keine Lust, mit Gerd zu sprechen. Gerd sah ihn jetzt mit fast flatternden Blicken an, knüllte die Pappschalen zusammen, auch die noch zu einem Viertel volle mit den Pommes Frites, leckte sich hastig die Zähne. „Freitag große Einweihungsparty bei Zehringer,” sagte Gerd, „sein Dachatelier ist fertig.“ Er rückte sich unter der wieder zuckenden Stirn mit hageren Fingern die Brille zurecht, die Lippen zusammengepresst, wandte sich zum Gehen.
Jonas winkte ihm plötzlich nach, aus der Entfernung schon einiger Meter, im selben Moment drehte Gerd sich um, die Verwirrung auf seinem Gesicht war komplett. Es schien, er wollte zurückkehren, dann verschwand er doch um die nächste Straßenbiegung.
Gerd, so wusste Jonas, musste dieses Zusammentreffen und die vollständige Ignorierung seiner Person wie das Stück aus einem irrationalen Filmstreifen erscheinen.
Nichts war so gleichgültig wie das.
Jonas – jener von früher – existierte nicht. Und es gab auch keine Notwendigkeit, dies zu erklären.
Mit drei Zeitungen unter dem Arm kehrte Jonas heim.
Er schlug den Lokalteil auf.
Ein ausführlicher Unfallbericht.
Totalschaden an beiden Unfallfahrzeugen. Das eine ein Lieferwagen, der Fahrer konnte nach ambulanter Behandlung aus dem Krankenhaus wieder entlassen werden, der Fahrer des folgenden PKW hatte möglicher Weise ein Schleudertrauma erlitten.
Die übliche Bitte um Zeugen. Der Wagentyp des flüchtigen Fahrers war genannt. Kein Hinweis auf das Autokennzeichen.
Jonas las erneut den bekannten Firmennamen des Lieferwagens, legte sich nochmals dar, welch unterschiedliches Loch die Schadensbehebung in die verschiedenen Kassen riss - seine und die jener Firma.
Blieb der Fahrer des Pkws. Er konnte ihm nur sein Bedauern schicken. Auch wenn er sich als Unfallverursacher gestellt hätte, hätte dies dem Mann in seinem Zustand keine Hilfe gebracht.
Niemand war tot. Niemand war schwerverletzt.
Auch solche Bilder hatten vorübergehend in seinem Kopf gegeistert.
Er öffnete sein Schreibtischfach, besah seine Kontozahlen, er kannte die Summe, doch es war gut, sich ihrer noch einmal zu vergewissern.
Genug um drei bis vier Monate weiter davon zu leben.
Alles danach war ungewiss.
Er stellte sich intensiv diesen Zeitraum vor, empfand ihn als weitläufig für diesen Moment, prall angefüllt mit abertausend Sekunden; jede konnte das Geschenk einer Überraschung bringen.
Am Nachmittag meldete sich plötzlich klar und bestimmt der Gedanke, nach seinem Auto zu schauen.
Er ging in den Keller, löste das Drahtschloss des Fahrrads - es war gewissermaßen der rituelle Moment, in dem er es aus seinem fünfmonatigen Winterschlaf weckte. Während er es die Kellertreppe hinaufschob, entdeckte er Spinnweben zwischen den Radspeichen, dann auch die dazugehörige Spinne. Sie flüchtete auf das Katzenauge, er wollte sie sanft auf die Erde knipsen, doch eine innere Stimme sprach plötzlich dazwischen: Warum sie nicht mit auf die Fahrt nehmen?
Also schwang er sich in den Sattel, das Rad ächzte leise, dann schüttelte es die Winterstarre nach und nach ab, er atmete tief, so plötzlich wieder im Sattel zu sitzen, war ein bisschen wie fliegen – so hatte er das als Junge häufig empfunden.
Nach eineinhalb Stunden bog er in die Waldwege ein, die Luft wurde zunehmend besser, es war ein Vergnügen, die Lungen damit zu füllen. Endlich bemerkte er das schimmernde Blech seines Autos. Es stand auf dem erwarteten Platz zwischen den Tannen - ein Haustier, das ruhig vier Nächte fern am Rand eines Waldes verbracht hatte und nie daran denken würde, sich zu beklagen. Es hatte ihn durch Spanien und durch Griechenland gefahren, sechs Jahre lang hatte es ohne nennenswerten Widerstand seinen Wünschen und Befehlen gehorcht; gemeinsam hatten sie zwei Reifenpannen und einen Achsbruch, mitten auf einer löchrigen Schnellstraße, durchgestanden.
Eine Empfindung überkam ihn für einen Moment, die mit Rührung nicht unzutreffend beschrieben ist.
Er umwanderte sein Fahrzeug zweimal, versprach ihm feierlich, es übermorgen, spätestens in drei Tagen in seine gewohnte Straße zu fahren. Überhaupt wiederholte er seine Entschuldigung, es so nachlässig behandelt und ihm die rechtzeitige Erneuerung der Tüv-Plakette verweigert zu haben - ein unverzeihlicher Leichtsinn.
Als er wieder sein Fahrrad bestieg, fiel ihm auf einmal die Spinne ein, er hatte sich mehrmals bereits nach ihr umgedreht, unbeweglich, zusammengekauert hielt sie sich während der Fahrt auf dem Schutzblech. - Jetzt war sie tatsächlich fort, trabte wahrscheinlich irgendwo über Waldwege, stieß sich an Grashalmen; sicher ein seltsamer Wechsel mit ihrer dunklen Kellerbehausung dies alles, der ihr Innenleben noch über Tage beanspruchen würde.
Eine Kindergruppe kam ihm entgegen, kreischend wie ein Vogelschwarm, die Hälfte mit Stöcken bewaffnet, einige Jungen schlugen zornig und stolz auf alles ein, was neben dem Gehweg an dürrem Unterholz wuchs; in der Mitte zwei dunkelzöpfige Mädchen, die Hand in Hand gehend artig ein Lied vor sich hinlallten, unbeirrt und als sängen sie es für alle.
Ein Stück weiter zwei ältere Frauen mit bunten Wollmützen, die eine zog eine Tüte hervor, schwenkte sie schnalzend und zwitschernd, ein Eichhörnchen hockte über ihr in den Zweigen, horchte mit angewinkeltem Kopf, doch als sie näher kam, nahm es Reißaus.
Sie schwenkte wieder die Tüte, suchte eine Weile die Baumkronen ab, Enttäuschung im alten, welken Gesicht, das Eichhörnchen blieb verschwunden, dann ließ sie sich weiterziehen von der zweiten.
Es folgte ein einsamer Waldläufer im Trainingsanzug begleitet von einem Jagdhund, der, mit hängender Kopf außer Atem schien; der Läufer stolperte, der Hund zog winselnd einen Halbkreis um ihn, beschnupperte ihn an den Ohren, leckte ihm über die Nase, die Stirn, und gleich sprang der Mann wieder auf, humpelnd zunächst, doch nach einer kürzeren Wegstrecke war er dem Hund aufs neue fünf Meter voraus.
Jonas versuchte sich vorzustellen, dass dies alles genauso geschehen wäre, heute, auf dieser Straße, gäbe es ihn selber nicht in dem Bild.
Wäre die Probe anders verlaufen.
Die Kinder wären vorübergegangen. Die beiden Alten. Der Mann mit dem Jagdhund.
Es war ein Gefühl von seltsamem Überfluss, das etwas wie Heiterkeit in ihm auslöste.
Wieder vereinnahmte ihn in den Abendstunden seine Lektüre.
Erneut wartete eine Überraschung auf ihn. Ein mit einem dickeren Pappumschlag versehenes Buch ließ ein längliches Blatt auf den Teppich gleiten. Offensichtlich ein Lesezeichen. Jonas betrachtete es genauer.
In die rechte obere Ecke war eine Sonne gemalt, in die linke ein Mond, dazwischen ringelten sich zwei Schlangen, graphisch sehr anspruchsvoll und ästhetisch gezeichnet, jede mit dem Maul in den Schwanz der andern verbissen.
In der Mitte des Kreises, den sie beschrieben, stand ein lateinischer Satz, der ihm ohne Mühe verständlich war: „Omnia sunt signa“ - „Alle Dinge sind Zeichen.“
Dieser Satz auf einem Lesezeichen hatte wahrscheinlich seinen kleinen versteckten Witz: Was du hier in der Hand hältst ist ein Zeichen wie alles andere.
Es folgte ein kleiner geschriebener Satz: „Elitus es.“ Er musste ein bisschen in seinem Fundus von lateinischen Vokabeln wühlen. „Elitus“? War von einer „Elite“ die Rede. Es gab die Möglichkeit einer ganz schlichten Übersetzung: „Du bist ausgesucht.“
Wieder ein kleiner versteckter Wortwitz? Es verkehrte die Position von Leser und Buch, das Buch war es, das einen ausgesucht hatte, nicht umgekehrt.
Die Anordnung von Zeichen und Schrift war auf eine eigene Art bestechend klar. Jonas konnte sich einer gewissen Faszination nicht entziehen.
Er meinte sich zu erinnern, dieses Buch vor Jahren einmal in einem Eisenbahnabteil gefunden zu haben. Dem Eindruck nach war es schon etwas „betagt”, es enthielt geknickte Ecken und Anstreichungen, er konnte den materiellen Wert nicht so hoch einschätzen, um es bei einem Fundbüro abzugeben.
Er las eine der markierten Passagen:
„Die heutige Wissenschaft weiß, dass nichts im Kosmos einfach verschwinden kann. Keine Materie, keine Energieform kann sich auflösen in ein 'Nichts'. Sie kann sich nur immer verwandeln. Dieses Gesetz muss konsequenter Weise ebenso für den Menschen gelten.
Auch der Mensch als eigenständige Energiestruktur könnte dann nie verschwinden, sich immer nur umgestalten, vielleicht in ständigen Metamorphosen.
Eine zweite Passage lautete:
„Längst sind wir vertraut mit der Tatsache, dass uns ein dichtes Netz elektromagnetischer Wellen umgibt: Radiosender, Fernsehsender, viele Programme zugleich. Alles befindet sich an jeder Stelle des Raumes - sogar in unseren Köpfen, ohne sich dort ‚bemerkbar’ zu machen. Wir wissen, dass nur ein geeigneter Empfänger ihre Existenz für uns hörbar, sichtbar, also ‚beweisbar’ macht.
Anders als frühere Generationen sollten wir uns nicht auf den Standpunkt stellen, das Universum mit seinen Rätseln mehr oder weniger fertig erforscht zu haben; auch nicht in diesem Punkt der zahlreichen, den Raum durchziehenden Wellenmuster.
Wir könnten in einem Kosmos weiterer ineinandergelagerter Schwingungszustände leben, die uns bisher nicht bekannt sind - zahlenmäßig möglicher Weise fast unbegrenzt. Ein völlig anderes Universum könnte das unsere durchziehen, eine Fülle von ‚Gegenwelten’ phantastischer Art. Wir haben bisher lediglich keinen geeigneten Empfänger dafür - was doch nicht im Mindesten gegen ihre Existenz sprechen würde.
Besonders das Wort von der Fülle phantastischer „Gegenwelten“, so unbestimmt es auch sein mochte, setzte sich mit einem intensiven Klang in ihm fest. Es hatte in diesem Moment eine neue ungewöhnliche Beimischung: die von Aufbruch und Abenteuer, die eines Versprechens.