Читать книгу Seelenzerrung - Winfried Thamm - Страница 10

Sie spielt Cello

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Guido Kleinmann steht vor dem kolossalen Bau des „Hotel Royal“ in Frankfurt, schaut an der Fassade aus spiegelndem Glas, matt glänzendem Stahl und poliertem Granit empor, die sich in der Unendlichkeit des sternenklaren Nachthimmels verliert, und staunt.

Soll ich, soll ich nicht? Ich weiß nicht, ich weiß nicht, grübelt Kleinmann.

Dann schaut er noch einmal an der Fassade hinauf und sagt sich: Ich mach’ das, ja, ich mach’ das jetzt! Beschlossen, entschieden, fertig! Basta! Mein Gott, bin ich verrückt?! Warum nicht auch mal verrückt sein? Ja, das ist teuer, bestimmt ist das teuer, na und? Ist eben teuer, ich hab’s ja jetzt. Ich muss Dorothee anrufen, war ja nicht klar, wie lang es dauern wird beim Nachlassverwalter. Jetzt noch über sechshundert Kilometer zurückfahren? Nee! Ich mach’s und basta. Ich gehe in dieses Hotel, in diesen geilen, durchgestylten, sündhaft teuren Fünfsterneschuppen. Eine Nacht voller Luxus. Das gönne ich mir. Wehe sie meckert. Ist mein Geld, ganz allein meins. Tante Martha war meine Tante, nicht ihre!

Der Entschluss steht fest.

So betritt Kleinmann das hallenartige, elegant gestaltete Luxus-Foyer so ehrfürchtig als sei es eine Kathedrale und wendet sich der Rezeption zu. Seine Sporttasche von Pumadidas ist ihm peinlich. Hinter dem Empfang aus rosa und schwarzem Granit, spiegelglatt poliert, spricht ihn ein junger Mann mit Gelfrisur und weinroter Hoteluniform mit dezent gedämpfter Stimme an: „Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“

Kleinmann erschrickt und antwortet: „Ich hätte gerne … äh, also ein Zimmer für eine Nacht nur. Haben Sie da … ist da noch was frei bei Ihnen, ich meine im Hotel, hier so?“

Der Rezeptionist mustert Kleinmann von oben bis unten, hebt kaum sichtbar die Mundwinkel zu einem herablassenden Schmunzeln und fragt:

„Standard, Komfort oder Luxussuite, mein Herr?“ Die Arroganz im Ton ist eklatant.

Schnösel, denkt Kleinmann.

„Was kostet denn ein Standardzimmer?“

„168 Euro, mit Frühstück 188“, antwortet Schnösel, ohne ihn dabei anzusehen.

„Was? Zwanzig Euro nur für ein Frühstück?“

„Buchen oder nicht? Mit oder ohne Frühstück? Wie entscheiden der Herr?“, fragt Schnösel leicht entnervt.

„Nehmen Sie es mit Frühstück. Es ist teuer, aber großartig!“, kommt plötzlich eine etwas heisere Frauenstimme von hinten. „Ein Buffet, das keine Wünsche offenlässt, so steht es im Prospekt, und das stimmt sogar.“

„Guten Abend Frau Waldau, darf ich Ihr Baby in Obhut nehmen?“, katzbuckelt Schnösel mit gekünsteltem Lächeln.

„Baby? Was? Wo?“ Kleinmann dreht sich verwirrt um.

„Nein, keine Angst! Ich hab’ kein plärrendes Kleinkind“, lacht die Frau. „Das hier ist mein Baby, auf das er aufpassen soll“, und zeigt auf einen großen Koffer in Form einer Geige, den sie dem Rezeptionisten an der Theke vorbei übergibt.

„Ach, Sie sind Cellistin?“

„Ja, sieht wohl so aus. Und Sie sind … Sherlock Holmes?“ Sie lächelt ironisch.

Kleinmann wird rot, wegen seiner dummen Frage.

„Sie entschuldigen?“, sagt sie noch, nimmt ihren Schlüssel, und verschwindet mit Hüften schwingendem Gang Richtung Aufzüge. Ihr roter üppiger Lockenkopf wippt dabei auf und nieder, als wolle er ihm winken. Das hätte er gerne. Ihre schlanke Gestalt umspielt ein grünes, weit geschnittenes langes Samtkleid. Ihr Schritt auf den rostbraunen Pumps ist selbstbewusst und sicher. Kleinmann schätzt sie auf Anfang vierzig und ist beeindruckt.

Der blutrote Lippenstift und die stark geschminkten Augen waren schon etwas zu heftig, denkt er. Aber: Hammerfrau, absolut!

Kleinmann grinst über seine losgetretenen Fantasien.

„Standard, mit Frühstück“, ordert er kurz angebunden, erledigt die Anmeldung und bekommt seine Schlüsselkarte. Auch er wendet sich dann Richtung Aufzüge. Die Musikerin ist schon gen Himmel gefahren.

Auf dem Zimmer im zwölften Stock nimmt Kleinmann einen Whisky aus der Minibar, stellt sich ans Panoramafenster und genießt die Aussicht über das abendliche Frankfurt.

Das ist Leben, denkt er. Wenn ich das meiner Doppelkopfrunde erzähle: Fünf Sterne, hoch über Frankfurt, knapp unterm Himmel. Und dann eine Cellistin kennengelernt. Frau Waldau! Klingt wie … Waldorf-Astoria oder … Waldorf-Salat, jedenfalls nach großer weiter Welt. Eine Cellistin! Gibt es etwas Erotischeres als eine schöne Frau mit diesem Instrument zwischen den Beinen. Sind ja auch meist Frauen, die das spielen, oder? Komisch.

Kleinmann geht unter die Dusche, zieht frische Kleidung an. Zwischendurch nimmt er immer wieder einen kleinen Schluck Whisky und wirft einen Blick auf die erleuchtete Stadt. Er fühlt sich kosmopolitisch, polyglott, weltmännisch, international: großartig! Er schaut in den großen Spiegel, lächelt sich etwas verlegen an und sagt. „Na ja, gar nicht so übel.“ Ganz nebenbei, als wolle er es vor sich selbst verheimlichen, nimmt er seinen Ehering ab und steckt ihn in die Hosentasche.

Mit einer unbestimmten Erwartung fährt er hinunter ins Erdgeschoss und betritt die Bar. Gedimmtes Licht, wieder rosa und schwarzer Granit, grau getönte Spiegel, sparsame blaue Farbakzente, kleine Ledersessel, runde Tischchen, glitzernde Gläser und Flaschen hinter der Theke, ein schwarzer Flügel links. Kleinmann setzt sich an die Bar, bestellt einen Scotch, hätte lieber ein kühles Bier, aber in so einem Haus muss man Whisky trinken. Der Barmann nickt freundlich, bringt das schwere Glas. Im Spiegel hinter der Bar entdeckt Kleinmann auf dem Tisch neben dem Flügel einen Teller mit Kanapees und ein Glas Rotwein. Gerade als er sich wundert, wer das denn hinterlassen hat, so unberührt, betritt eine Frau ganz in Schwarz, mit rotem Haar als Pferdschwanz gebunden den Raum und setzt sich an das Tischchen mit der kleinen späten Mahlzeit. Kleinmann beobachtet sie unverhohlen über den Spiegel hinter der Theke.

Das ist doch die Cellistin, genau. Die hat sich umgezogen. Ist hungrig nach so viel Kunst. Die haut aber ganz schön rein. Habe auch schon länger nichts mehr gegessen. Na ja. Der Spiegel ist gut, so kann ich sie …

Plötzlich treffen sich ihre Blicke und diese etwas heisere Stimme sagt: „Bevor Ihnen die Augen aus dem Kopf fallen, setzen Sie sich besser zu mir. Ich will nicht schuld an ihrer Erblindung sein. Ihrem Blick nach zu urteilen, sind Sie ja ziemlich hungrig. Ich hoffe, nur auf meine Tapas.“

Sie lacht ein kleines Glucksen und schaut ihn an, dass ihm die Schamesröte ins Gesicht steigt.

„Das ist sehr freundlich … ich meine sehr nett von Ihnen. Wenn Sie erlauben.“

Kleinmann knöpft sein Jackett zu, geht auf sie zu, gibt ihr die Hand, zum Handkuss fehlt ihm der Mut, verbeugt sich leicht und sagt:

„Kleinmann, Guido Kleinmann, mein Name.“

Dann setzt er sich in einen dieser kleinen Cocktailsessel und schlägt die Beine übereinander und weiß nicht mehr weiter.

„Ich heiße Hanna Waldau. Herr Kleinmann, greifen Sie zu. Die Tapas sind viel zu viel für mich. Tagsüber kam ich nicht zum Essen und direkt vor dem Konzert darf ich nicht. Dann kann ich nicht spielen.“

Der Barkeeper kommt und bringt Kleinmann seinen Whisky. Er trinkt ihn aus und kommt ins Husten. Hannas ironischer Blick schreckt ihn ab.

„Ja, danke schön, gerne. Ich bin auch zu nichts gekommen, meine, nicht zum Essen, also … Sie verstehen?!“, stammelt Kleinmann. Er weiß nicht, wohin er schauen soll, spürt die Röte auf den Wangen. Schließlich nimmt er sich ein Kanapee vom Teller.

Beide essen. Kleinmann bestellt sich auch einen Rotwein. „Den gleichen wie Frau Waldau!“

„Was ich hier mache, haben Sie ja schon mitbekommen. Aber was treibt Sie in diese große, schäbige Stadt?“

„Ich hatte einen Termin bei einem Anwalt, … also wegen Erbschaftsangelegenheiten. Meine Tante … Sie verstehen.“

„Oh, das tut mir leid. Entschuldigen Sie, dass ich so indiskret gefragt habe.“

„Nein, nein, das macht nichts, sie war schon sehr alt, 97, mein Gott, was für ein Alter, stand mir auch nicht besonders nah. Muss morgen wieder zurück. Die Arbeit wartet. Sie verstehen.“

„Was arbeiten Sie denn so?“ Hanna beugt sich leicht vor und schaut Kleinmann direkt an.

„Ich bin Bauingenieur, spezialisiert auf Statik.“ Kleinmann schaut in die schönen grünen Augen und dann schnell auf seine Hände.

„Ach, genau das Gegenteil von mir. Ich hab’s mit der Dynamik.“

„Wieso?“

„Die Musik, sie lebt davon. Ohne Dynamik keine Musik. Sie verstehen?“

„Jetzt sagen Sie das auch schon.“

„Was?“

„Sie verstehen. Ich sage das andauernd, wenn ich nervös bin. Sie …“

„… verstehen?“, ergänzt sie. Beide lachen auf. Das Eis ist gebrochen. Sie schaut ihn so an, dass ihm ganz anders wird.

Daraufhin erzählt Kleinmann von seinen Brücken und Gebäuden, die er begutachtet und prüft auf Konstruktion und Material, auf Druck und Zug, auf Dichte und Haltbarkeit, auf Sicherheit und Langlebigkeit. Er arbeite nicht an Neubauprojekten, sondern kümmere sich um den Erhalt von vorhandener Bausubstanz. Ja, er habe sich ganz der Bewahrung und der Stabilität verschrieben. Das sei seine berufliche Aufgabe. „Aber das finden Sie bestimmt ziemlich langweilig?“

„Ganz und gar nicht. Das ist doch eine wunderbare und sinnvolle Arbeit“, erwidert Hanna und Kleinmann lächelt verlegen. „Damit kann ich nicht dienen. Was ich mache, ist eigentlich völlig sinnlos. Ich produziere Töne mit ein paar Pferdehaaren auf vier Drahtseilen über einem Holzkasten. Und im nächsten Augenblick sind sie schon wieder weg, die Töne. Verweht, verschwunden, vergessen.“

Kleinmann lacht auf: „Das ist gut, das ist sogar super formuliert: Pferdehaare, Drahtseile, Holzkiste! Ha!“

„Ja, ist doch so! Und nach dem Konzert bleibt nichts. Alles verklungen. Die Zuhörer sagen: schön. Sie gehen anschließend in eine Bar, reden über ihre Familien, ihre Jobs und ihre Autos und betrinken sich. Oder auch nicht, keine Ahnung. C’est ca!“, sagt sie und schürzt dabei kokett ihre Lippen.

„Aber Frau Waldau, was Sie mir erzählen ist ein Cocktail aus Fishing-for-compliments und Understatement. Sie sind Kulturschaffende und wissen das! Sie machen, schätze ich, großartige Musik auf hohem Niveau, bereisen fremde Länder, treffen interessante Menschen, sind weltgewandt. Ist das nicht großartig?! Darum beneide ich Sie!“

„Ja, ja, ich weiß. Ich mach’s ja auch gerne. Oder besser gesagt: Ich weiß gar nicht mehr, ob ich es gerne mache. Ich kann ja auch nichts anderes. Will auch nichts anderes. Die Frage stelle ich mir gar nicht mehr. Ja, das mit der Kultur stimmt schon, ist aber sehr abgehoben, sehr am Leben vorbei, sehr elitär. Aber da bin ich wie Sie, ich bewahre auch. Ich spiele nichts Neues, nichts Modernes. Heute kann man anscheinend keine Musik mehr komponieren, die sich mit den alten Meistern messen kann. Das klingt arrogant, aber ich sehe das so. Und wenn ich diesen Mozart, Haydn, Bartók, und wie sie alle heißen, nicht mehr spielen könnte, wäre ich tot.“

Sie streicht sich über ihre Finger und lächelt. Kleinmann findet das ein bisschen selbstverliebt. Er würde sie gerne einmal halten, diese Cello-Hände. Sie schaut wieder so und er schaut genauso zurück.

Und dann erzählt sie von dem Schwebezustand nach den Konzerten, von dieser Unwirklichkeit der Bühne, von den immer gleichen Gesprächen mit Kulturdezernenten und Konzertmanagern, von dem Konkurrenzkampf und vom Üben, Üben und nochmals Üben. Da sei kein Platz für Ehemann, Kinder, Familie. Wenn es keine Handys gäbe, hätte sie auch keine Freunde mehr. Nur ihre beste Freundin treffe sie regelmäßig. „Diese Solotourneen machen einen fertig. Mit immer anderen Musikern proben, auftreten und dann ab ins Hotel: Das ist Isolationshaft. Das nervt. Da wäre ich manchmal lieber Statiker“, lacht sie und wirft Kleinmann diesen koketten Blick zu.

Er returniert ihn und sagt: “Und da bin ich jetzt ihr Seelennotstopfen?“

„Ja, so gesehen“, gibt sie zu.

„Ach wissen Sie, es ist doch schön, wenn ein Not-stopfen auf eine Seele trifft, die ein Loch hat, oder?“

„Sind Sie jetzt nicht beleidigt?“

„Nein, mir tut das gut! Sonst liegt meine Seele zuhause auf der Couch und wartet. Und wenn ich dann spät nach Hause komme, ist sie eingeschlafen.“

„Das haben Sie schön gesagt!“, flüstert sie und schenkt ihm ein ehrliches Lächeln. „Wenn ich noch einmal auf die Welt käme, würde ich …“, sie überlegt einen Moment und fährt fort: „Schreiner werden. Möbel bauen, das fände ich toll.“

„Ach, hören Sie auf. Ich weiß doch, was Sie dann bauen würden: ein Cello nach dem anderen. Nichts als Holzkästen mit Drahtseilen drauf!“ Beide lachen hell auf vor Vergnügen.

„Ich heiße Guido, vielleicht sollten wir uns … darf ich dich zu einem Getränk Ihrer, äh, deiner Wahl einladen? Es wäre mir eine echte Freude! So als … Seelennotstopfen. Wir wär’s mit ’nem Du?“, stammelt er. Woher Kleinmann den Mut genommen hat, weiß er nicht, aber er grinst über beide Ohren.

„Ich bin Hanna. Das wurde aber auch Zeit! Und … ich liebe Notstopfen!“ Und wieder schaut sie so, dass es Kleinmann ganz anders wird.

So trinken sie Rotwein, erzählen aus ihren Leben, von ihren Träumen und versäumten Gelegenheiten, rücken zusammen, schauen nicht auf die Uhr, trinken mehr Rotwein, bestellen Erdnüsse, sind unvernünftig, lachen viel, sind auch ein bisschen traurig, trinken als letztes einen Calvados, gehen gemeinsam zum Aufzug, steigen auf der gleichen Etage aus, stehen vor ihrer Zimmertür, als Kleinmann sagt:

„Auf eine so berühmte und ach so schöne Cellistin sollte jemand aufpassen, dass sie im Schlaf nicht plötzlich in den Himmel fliegt. Das wäre ein großer Verlust für die Menschheit. Und ich würde mich da gerne als diesen jemand anbieten.“

Sie stehen ganz nah beieinander. Er riecht ihr Haar, sieht den Glanz in ihren smaragdgrünen Augen, den Schwung ihrer feuchten Lippen und glaubt, noch nie im Leben eine so schöne Frau gesehen zu haben. Sie schaut in das Indigoblau seiner Augen wie in einen Nachthimmel, findet in seinem Lächeln die Ahnung eines kleinen Jungen, der träumt, und riecht seinen Rotwein-Atem, mit einem Hauch Calvados. Sie streicht ihm durchs Haar, küsst ihn zart auf den Mund und sagt:

„Ach, Guido, lass mal sein. Schön wär’s, aber wir machen jetzt mal keinen Quatsch. Und übrigens: Der blasse Streifen auf deinem Ringfinger steht dir nicht. Zieh den Ring drüber.“

So schenkt sie ihm ein letztes Lächeln und lässt ihn stehen.

Seelenzerrung

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